Die Kollektiverziehung bei A. S. Makarenko


Diplomarbeit, 2001

102 Seiten, Note: 3


Leseprobe


Gliederung

I Einleitung

II Anton Semjonowitsch Makarenko
1. Biographie
2. Menschenbild
3. Sozialismusbild

III Geschichtlicher Hintergrund
1. Politische Entwicklung
2. Schulische Entwicklung

IV Das Kollektiv
1. Definition
2. Eigenschaften
3. Entwicklungsstufen des Kollektivs
4. Organisatorischer Aufbau
5. Organe der Selbstverwaltung
6. Kriterien für den Stil und den Ton eines Kollektivs
7. Kritische Würdigung

V Konzeption der Kollektiverziehung
1. Einleitung
2. Gegenüberstellung von Pädagogik und Pädologie
3. Zielgruppe
4. Unterschiede zwischen Gor´kij-Kolonie und Dzerzynskij-Kommune
5. Phasen der Erziehung
6. Erziehungsziele
6.1 Kollektivismus
6.2 Patriotismus
6.3 Disziplin und Forderung
6.4 Produktivität 50

7. Methoden der Kollektiverziehung
7.1 Explosionsmethode
7.2 Entwicklung von Perspektiven
7.2.1 Die nahe Perspektive
7.2.2 Die mittlere Perspektive
7.2.3 Die weite Perspektive
7.3 Das Spiel
7.4 Das Abteilungs- und Kommandeursystem
7.5 Arbeit und Bildung
7.6 Die Strafe
7.7 Körperliche Ertüchtigung – Militarismus
7.8 Die Freizeitbeschäftigung
8. Funktion der Erzieher im Prozeß der Kollektiverziehung

VI Einflußfaktoren auf Makarenkos Pädagogik
1. Mögliche Vorbilder für seine Praxis
2. Einfluß der Sowjetideologie
3. Parteipolitischer Einfluß

VII Zusammenfassung

VIII Kritische Würdigung
1. Inhalte und Erfolge der Kollektivation Makarenkos
2. Kritische Betrachtung der Kollektiverziehung
3. Grenzen der Kommandeurspädagogik
4. Umsetzung seiner Thesen in den nachfolgenden Jahren
5. Probleme der Kollektiverziehung in der Sowjetunion nach Makarenkos Tod
6. MeZXine persönliche Meinung

IX Literaturverzeichnis

X Bildquellennachweis

Hinweis: Die in Klammern hochgestellten Ziffern hinter Absätzen bzw. Zitaten verweisen auf die im Literaturverzeichnis unter der Ziffer aufgeführten
Bücher

I. Einleitung

Die beruflichen pädagogischen Beziehungen sind ein kompliziertes Gefüge, das von einer Reihe subjektiver wie objektiver Faktoren bestimmt wird: von der Schichtzugehörigkeit der Beteiligten, von den institutionellen Vorgaben, von der individuellen Ausfüllung der Rollen und von der Geschlechtszugehörigkeit. Alle diese Faktoren sind wiederum einer historischen Veränderung unterworfen. Alles zusammen fließt schließlich in die Definition der Art und Weise einer Beziehung mit ein.

Eine menschliche Beziehung ist immer von beiden Seiten aus zu betrachten: aus der Sicht des Kindes und aus der des Erwachsenen. Die Perspektive des Kindes ist uns für die Vergangenheit jedoch kaum zugänglich, da Kinder im Allgemeinen keine Quellen hinterlassen. Die Ansichten heutiger Kinder könnten wir mit den Methoden der empirischen Forschung erfassen. Dabei zeigt sich, daß diese Definition unterschiedlich ausgefallen ist. Pestalozzi sah das Kind als Geschwisterkind, Wichern und Bosco als Gottes Kind. Makarenko verstand das Kind als Kollektivmitglied und Korczak als einen unterdrückten Menschen.

An diesen unterschiedlichen Akzentuierungen wird deutlich, daß seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit der Entstehung des modernen pädagogischen Denkens das Kind in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Im Folgenden wird A.S. Makarenkos Verständnis des Kindes als Kollektivmitglied dargestellt.

II. Anton Semjonowitsch Makarenko

1. Biographie

Anton Semjonowitsch Makarenko wurde am 1. März 1888 (nach dem damaligen Julianischen Kalender, am 13.03. nach westlicher Datierung) in der ukrainischen Stadt Belopolje als einziges Kind von Semjon Grigorjewitsch und Tatjana Michailowna geboren. Die Familie Makarenko war ein Teil der Arbeiterschaft. Aus einer Eisenbahnerfamilie stammend besuchte er ab 1895 die vierklassige Elementarschule in Kremencug, die er 1904 als Klassenbester abschloß. Nach erfolgreicher Absolvierung eines einjährigen pädagogischen Ausbildungskurses zum Volksschullehrer trat Makarenko im Herbst 1905 seine erste Lehrstelle an der Zwei-Klassen-Schule der Eisenbahnwerkstätten in Krjukov an. Schon damals wurde ihm bescheinigt, daß er über „... außerordentliche Fähigkeiten und eine für sein jugendliches Alter erstaunliche Selbstbeherrschung“ ((11), Seite 15) verfüge.

Eines seiner Leitbilder war Makarenkos Literaturlehrer G.P. Kaminski. Seiner Einstellung ist es zu verdanken, daß sich Makarenko nicht nur als Lehrer sah. Er nahm sich seiner Schüler auch an, nachdem die Schulstunden vorüber waren. Nach dem Mittagessen kamen die Kinder in die Schule zurück, wo sie unter der Leitung Makarenkos Theaterstücke einstudierten, lasen, lernten oder spielten. Neben der herrschenden Disziplin war es ihm noch wichtig, daß die Schüler nicht nur eine „blasse Nummer im Klassenbuch blieben, sondern daß ihr Lehrer gerade ihnen seine Fürsorge widmete und gerade auf ihr Wesen einzugehen suchte“ ((11), Seite 19).

Von 1905 bis 1911 war er Lehrer an der höheren Elementarschule für Eisenbahnerkinder in Krjukov, der eine Lehrer- und Erzieherstelle an der Eisenbahnerschule in Dolinskaja folgte. Außerdem nahm er die Stelle eines „Aufsehers“ an, mit der er seine eigene („uniformierte“) Pädagogik umzusetzen versuchte. Die Stelle beinhaltete, daß er 100 Kinder nicht nur zu unterrichten hatte, sondern mit ihnen gemeinsam lebte und ihnen tagelang die Eltern ersetzte. Schon damals wurde ihm bewusst, daß eine Gemeinschaft heranwachsender Jugendlicher nicht planlos in den Tag hineinzuleben vermochte. Ihr Tagesablauf mußte organisiert werden. Die Einhaltung dieses Ablaufes wurde von Schülern überwacht, so daß nicht der Lehrer und „Aufseher“, also A.S. Makarenko, die führende und regelnde Kraft war. Er blieb im Hintergrund, wobei er aber seiner vollen Verantwortung gerecht wurde. Dies kann bereits als Vorform seiner späteren Kollektivpädagogik in der Arbeiterkolonie angesehen werden. Neben der Gründung des Schulorchester oder der Organisation von Wanderungen unternahm er verschiedene Versuche, die herkömmliche „Unterrichtsanstalt“ zu einer Erziehungsstätte zu erweitern.

In der alltäglichen Umsetzung wurde ihm jedoch bewußt, daß es ihm an einem soliden wissenschaftlichen Fundament fehlte. Daher vervollständigte Makarenko seine pädagogische Ausbildung von 1914-1917 durch den Besuch des Lehrerbildungsinstituts in Poltava. Aufgrund der Kriegsjahre wurde er während seines Studiums im Herbst 1916 als Soldat der „Landwehr zweiten Aufgebots“ nach Kiew eingezogen. In dieser Zeit wurde der Drang in ihm immer größer, seine Gedanken in Worte zu fassen und diese der Welt mitzuteilen. Somit begann Makarenko, Tagebücher sowie Gedichte zu schreiben. 1917 wurde Makarenko wegen starker Kurzsichtigkeit aus dem Heeresdienst entlassen. Danach setzte er sein Studium in Poltava fort. Am 15. Juni legte er seine Abschlußprüfung mit der Goldenen Medaille ab.

Von 1917 bis 1919 wurde er für zwei Jahre zum stellvertretender Schulleiter in Krjukov ernannt und außerdem Mitglied des Kollegiums im Volksbildungsamt von Krjukov. Makarenko setzte sich durch sein Suchen nach neuen Organisationsformen gegen die offiziellen (Reform-) Pädagogik. Im Jahr 1920 wurde er zum Leiter der städtischen Elementarschule in Poltava. Zusätzlich beteiligte er sich an der Neuorganisation der Schulen als Arbeitsschulen im Gouvernement Poltava. Vorher wurde er Mitglied des Gouvernementsvorstandes der Lehrergewerkschaft. Makarenko organisierte die landwirtschaftliche Arbeit für die Schüler, in dem er eine Einteilung in Abteilungen mit Abzeichen, Ärmellitzen, Fahnen und Trommeln vornahm.

Vor der Übernahme seiner neuen Aufgabe, der Fürsorgeerziehung in der Arbeiterkolonie, entwickelte er an zwei weiteren Schulen experimentelle Formen der inner- und außerschulischen Erziehung. Diejenigen Merkmale, die später die Aufmerksamkeit Außenstehender auf die Gor´kij-Kolonie lenkten, verbanden sich dabei mit einer pädagogischen Einwirkung auf die Eltern.

1920 wurde die Arbeitskolonie (Gor´kij-Kolonie) für straffällig gewordene, verwahrloste Jugendliche aufgebaut, der Makarenko bis 1928 als Leiter vorstand. In dieser Zeit heiratete er Galina Stachievna Sal´ko. Der Aufbau der Kolonie, das dortige Leben und seine pädagogischen Erfahrungen hielt er in seinem Hauptwerk „Das pädagogische Poem“ fest, das 1935 erschien.

Während der Zeit in der Gor´kij-Kolonie war Maxim Gor´kij für seine kulturelle und politische Entwicklung von großer Bedeutung. Sein Schaffen und seine Werke wurden für ihn „...zur Quelle des Nachdenkens und der Selbsterziehung“ ((11), Seite 17). Gorki selber beschrieb später seinen Eindruck von Makarenko mit folgenden Sätzen: „Er ist ein äußerlich finsterer, wortkarger Mann ... mit großer Nase und klugen scharfen Augen; er sieht aus wie ein Militär und Dorfschullehrer „mit Ideen“. Er spricht rauh, mit gebrochener Stimme oder wie erkälteter Stimme; er hat langsame Bewegungen, ist aber doch überall im rechten Augenblick zugegen, sieht alles, kennt jeden Kolonisten und vermag in fünf Worten zu charakterisieren, als mache er eine Momentaufnahme von seinem Charakter. Es ist ihm offensichtlich ein Bedürfnis, im Vorübergehen und ganz merklich liebevoll zu einem kleinen Kerl zu sein, für jeden ein freundliches Wort, ein Lächeln zu haben, einen kurz geschorenen Kopf zu streicheln.“ ((11), Seite 52).

Während seiner Zeit in der Gor´kij-Kolonie studierte Makarenko vom 14.10.-27.11.1922 am Zentralinstitut für die Organisation der Volksbildung. Dies mußte er aufgrund der geforderten sofortigen Rückkehr unterbrechen, um den Zusammenbruch der Kolonie zu verhindern. Die Kolonie wurde daraufhin dem Volkskommisariat für das Bildungswesen der Ukraine unterstellt. Ständige Auseinandersetzungen mit dem Kommissariat, das seinen pädagogischen Ideen und Praktiken ablehnend gegenüber stand, führten dann 1928 dazu, daß Makarenko diese Kolonie verließ. In einem Gespräch mit seiner vorgesetzten Behörde wurde ihm folgendes vorgebracht: „Genosse Makarenko will den pädagogischen Prozeß auf der Idee der Pflicht aufbauen. Zwar fügt er das Wort ‚proletarisch‘ hinzu, aber das, Genosse, kann das wahre Wesen seiner Idee nicht verschleiern. Wir raten dem Genossen Makarenko, die historische Genesis der Idee der Pflicht genau zu verfolgen. (...) Mit tiefer Betrübnis und großem Erstaunen vernahmen wir heute ... die Forderung, dem jungen Menschen das Gefühl für Ehre einzupflanzen. Wir müssen gegen diese Forderung protestieren. (...) Wir können nicht auf alle Behauptungen des Genossen Makarenko eingehen, die die Produktion betreffen. Vom Standpunkt der materiellen Bereicherung der Kolonie mag das vielleicht von Nutzen sein, aber die pädagogische Wissenschaft kann die Produktion nicht zu den Faktoren erzieherischer Einwirkung und darum umso weniger die Thesen des Genossen Makarenko billigen. (...)“ ((7), Seite 121).

Ab 8. Juli 1925 eröffnete Makarenko einen Briefwechsel mit Maxim Gor´kij, der bis zum Tod des Schriftstellers fortgeführt wurde. Makarenko begeisterte seine Zöglinge für das Werk M. Gor´kijs, das er ihnen auf Leseabenden vermittelte. Die Kolonisten traten in einen Briefwechsel mit dem Dichter, der den Zöglingen Makarenkos antwortete, sie anspornte und weiterhin mit ihnen und der Kolonie in Verbindung blieb.

Zum fünfjährigen Bestehen der Gor´kij-Kolonie wurde Makarenko am 20.08.1925 mit dem Titel „Roter Held der Arbeit“ ausgezeichnet.

Im Anschluß an die Gor´kij-Kolonie wurde er 1929 Gesamtleiter der Dzerzynskij-Jugendarbeitskommune in Char´kov, die er bis zum 1. Juli 1935 leitete. Für diesen Posten mußte er jedoch die Leitung der Gor´kij-Kolonie abgeben. Makarenkos Kommandeur-System der Gor´kij-Kolonie wurde öffentlich kritisiert, so daß amtliche Maßnahmen zur Reorganisation der Gor´kij-Kolonie angekündigt wurden. In der Kommune wurde daraufhin ein Politleiter eingesetzt, wodurch sich Makarenko in seiner Leiterfunktion eingegrenzt glaubte.

Am 6.Juli 1928 besuchte Maxim Gor´kij die nach ihm benannte Arbeitskolonie. Im Laufe der Zeit besuchten auch immer mehr Delegationen aus verschiedenen Ländern die Kommune, die in der ganzen Welt bekannt wurde. 1930 begann Makarenko, das Leben der Dzerzynskij-Kommune in der Erzählung „Der Marsch des Jahres 30“ niederzuschreiben. Außerdem arbeitete er an seinem Plan „Versuch einer Methodik für die Arbeit in einer Arbeitskolonie für Kinder“, der zu einem Buch ausgearbeitet werden sollte.

Vom Herbst 1931 bis zum 1. Juli 1935 war er verantwortlicher Leiter für den pädagogischen Bereich. Als Anerkennung für seine Leistungen in der Kommune wurde ihm u. a. Urkunden, Anerkennungsnadeln und eine goldene Uhr überreicht. Mit der Veröffentlichung des ersten Teils vom „Pädagogischen Poem“ 1933 und dem Einreichen des Schauspiels „Dur“ beim Unionswettbewerb unter dem Pseudonym „Andrej Gal´cenko“ wurde Makarenko am 1. Juni 1934 in den sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen.

1935 wurde er als Deputierter in den Sowjet des Dzerzynskij-Stadtbezirks von Char´kov gewählt. Am 1. Juli nahm er eine administrative Tätigkeit in Kiev als stellvertretender Leiter der Arbeitskommunen des Innenkommissariats der Ukrainischen SSR an. Als Schriftsteller stellte er zu dieser Zeit den 2. und 3. Teil vom „Pädagogischen Poem“ fertig. M. Gor´kij schrieb ihm zum dritten Teil, daß dieser ihm „noch wertvoller als die beiden ersten Teile“ ((18), Seite 334) erscheint.

Von Oktober 1936 bis Januar 1937 leitete Makarenko neben der Tätigkeit im Innenkommissariats und seiner schriftstellerischen Arbeit eine Kolonie in Brovary. Mit der Verurteilung der Pädologie, die Makarenko heftig bekämpft hatte, fand er immer mehr öffentliche Anerkennung.

Von Februar 1937 bis zu seinem plötzlichen Tod am 1. April 1939 lebte Makarenko als freier Schriftsteller in Moskau. Von Anfang 1937 bis zu seinem Tod schrieb und veröffentlichte er über 60 Publikationen: sozialpolitische, pädagogische, publizistische, kritische Beiträge, Studien, Skizzen und Drehbücher. Ab Januar 1938 hielt Makarenko vier Vorlesungen vor verantwortlichen Mitarbeitern des Narkompros über Probleme der sowjetischen Schulerziehung. Außerdem veröffentlichte er das Jugendbuch „Flaggen auf den Türmen“, das die Entwicklung der Dzerzynskij-Kommune darstellt. Die Kritik traf ihn hart. Mit allem, was er nach dem „Pädagogischen Poem“ veröffentlicht hatte, schien er schriftstellerisch gescheitert zu sein..

1939 wurde ihm am 1. Februar der Rotbanner-Orden der Sowjetunion verliehen. Damit wurde er das erste Mal als Schriftsteller gewürdigt, was ihn aufgrund der scharfen Kritiken sehr verwunderte.

Neben mehreren Vorträgen hielt er am 1. März eine Vorlesung in der Moskauer Staatsuniversität zum Thema „Kommunistische Erziehung und kommunistisches Verhalten“. Am 29. März hielt Makarenko seinen letzten Vortrag über die Arbeitserfahrung.

Am 1. April starb er an einem Herzanfall auf der Station Golicyno der Belorussisch-Baltischen Bahnlinie, als er gerade von einem in der Nähe gelegenen Erholungsheim für Schriftsteller nach Moskau zurückkehren wollte.

Nach seinem Tode sorgte seine Frau dafür, daß sein Werk nicht in Vergessenheit geriet und daß sein Nachlaß veröffentlicht wurde.

Man kann zusammenfassend sagen, daß sich Makarenkos pädagogisches Werk in drei biographische Phasen unterteilen läßt.

In der Gor´kij-Kolonie (1920-1928) entstand sein Erziehungskonzept aus einer pädagogischen Nullsituation heraus. Nicht durch Anwendung eines vorgefaßten pädagogischen Planes, sondern durch die Beobachtung der Zöglinge, durch das sich Einlassen auf Erfahrungen nahm sein Konzept immer größere Formen an. In der Dzerzynskij-Kommune griff Makarenko im Wesentlichen darauf zurück, wobei er die größte Unterstützung durch die mit ihm übergesiedelten Zöglingen aus der Gor´kij-Kolonie erhielt. Die dritte Phase ist in der Vortragstätigkeit der Jahre 1937-1939 zu sehen, als Makarenko versuchte, seine praktischen Erfahrungen in die Form allgemeiner Schlußfolgerungen zu bringen.

Seine sozialpädagogische Tätigkeit war bis zu seinem Tod Anfeindungen ausgesetzt, während die pädagogischen Schriften danach breite Anerkennung fanden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der praktische Sozialpädagoge, der Schriftsteller und Publizist, der Theoretiker der kommunistischen Erziehung – sie bilden in der Person Makarenkos eine Einheit. Darauf beruhte nicht zuletzt auch die Überzeugungskraft seines öffentlichen Auftretens, als er begann, sein System der Kollektiverziehung zur Grundlage der sowjetischen Pädagogik überhaupt auszubauen.

Makarenkos Lebensstationen; Quelle (1), Seite 93

2. Menschenbild

Bei dem Versuch, Makarenkos Menschenbild darzustellen, muß darauf geachtet werden, daß er damit nur den Sowjetmenschen seiner Epoche und Generation kennzeichnen möchte.

In der Zeit Makarenkos wurde der Begriff „Person“ den Forderungen an die Wirklichkeit nicht mehr vollständig gerecht. Die Tugend des Individualismus, die man mit diesem Begriff verbindet, wurde zweitrangig. In den Vordergrund stellten sich Verbundenheit, Einheit, Solidarität, Sympathie, Koordinierung und das Verständnis für die innere Abhängigkeit.

Der Sowjetmensch war vor allem an der unbelohnten Selbstlosigkeit zu erkennen. Die Revolution hatte den Menschen also von zwei Einschränkungen befreit: von ihrem Herrn und von ihrer Selbstsucht. Dieser neue Mensch war grundsätzlich vollkommen. Nicht einmal in seinen Zöglingen konnte Makarenko noch Verwahrloste und Rechtsverbrecher sehen, sondern nur „Menschen, die in eine schwere Lage geraten sind“ ((15), Seite 133).

Makarenko war sich jedoch der Existenz von den „Überresten des Alten“ bewußt. Der vollkommene Sowjetmensch war für ihn auch noch ein Erziehungsziel.

Für Makarenko war der Mensch ein Rohstoff, der formbar ist, ein Produkt der Gesellschaft, beliebig wieder umformbar, wenn das Alte hinter sich gelassen wurde, die Vergangenheit abgeschlossen ist. Das Verbrennen der Akten von den Zöglingen und später das öffentliche Verbrennen der Kleidung war ein Zeichen, das Alte abzulegen, um den Zögling umzuerziehen. Dies bedeutete, den Zögling so zu erziehen, daß er nicht bloß ein unschädliches und ungefährliches Mitglied der Gesellschaft wurde, sondern ein tätiger Mensch, der aktiv am Aufbau der neuen Epoche mitwirkte.

Bei Makarenko war das Verhalten nicht angeboren, sondern erlernt. Also war der Mensch zwar Teil der Natur, doch er stand darüber.

Makarenko glaubte nicht an die Beständigkeit eines guten Wesens, wenn der Mensch in eine schlechte Umgebung kam. Er war somit formbar. Daraus folgte, daß die Umwelt das Wesen des Menschen bestimmte. Makarenko sagte mal: „Zu mir kamen unglückliche Menschen, denen das Leben unter früheren Verhältnissen schwergefallen war. Ich glaube nicht daran, daß es moralisch defekte Menschen gibt. Man braucht einen Menschen nur in normale Lebensbedingungen zu versetzen, man braucht nur bestimmte Forderungen an ihn zu stellen und ihm die Möglichkeit zu geben, diese Forderung zu erfüllen, dann wird er ein Mensch wie wir alle, ein vollwertiger Mensch, ein normaler Mensch“ (12).

Er war überzeugt, daß eine gute Umgebung, eben sein Kollektiv, einen guten Menschen hervorbringt. Seiner allgemeinen Wesensbestimmung nach war der Mensch, den Makarenko erziehen will, ein „Kollektivmensch“. Der kollektive Mensch war für ihn „wie das Meer: lebendig, wahrhaftig, vernunftbegabt, erregt, ernsthaft, mächtig“ ((15), Seite 134). Einerseits war dieses Ziel des Kollektivmenschen einheitlich und allumfassenden. Gleichzeitig gab es jedoch jedem Einzelnen die Möglichkeit, seine Eigenarten zu entwickeln und seine Individualität zu bewahren.

Mit dem Kollektivmensch verband Makarenko auch einen „kultivierten Sowjetmensch“. Dieser Sowjetbürger wurde nicht durch einzelne Eigenschaften charakterisiert. Sein Anliegen war, stets das zu tun, was der Revolution diente. Somit überprüfte er sein Verhalten mit Hilfe der Formel: Handle kommunistisch oder nichtkommunistisch?

Durch diese Grundhaltung wurden die Eigenschaften eines Sowjetmenschen grundgelegt: Diszipliniertheit; Verantwortlichkeit; Prinzipientreue und emotionales perspektivisches Streben; die Bereitschaft, zu handeln und sich zu zügeln; die Fähigkeit des Taktes und der Ordnung.

Drei Wesensmerkmale traten an den Menschen, die Makarenko erziehen wollte, besonders deutlich hervor: Er war Arbeiter, Kämpfer und Staatsbürger.

Die Arbeit war die Grundlage des menschlichen Lebens, wobei sie darüber hinaus zu einer „Sache der Ehre, des Ruhms, des Mutes und des Heldentums“ ((15), Seite 136) geworden war. Durch die Art und die Qualität der Arbeit bewies der Sowjetbürger zunächst seine Einstellung zur Gesellschaft. Durch diese errang er sich dann auch seine Position und schaffte sich damit seinen Lebensstandart. Er reduzierte die Person auf ein produzierendes Element.

Sowjetische Arbeit mußte einen schöpferischen Charakter haben, da sie vollständig auf die Schaffung des gesellschaftlichen Reichtums und der Kultur des Landes ausgerichtet war. Die Arbeit stellte aber auch ein entscheidendes Übungsfeld für soziale Tugenden dar: „Bei der Arbeit erhält der Mensch nicht nur eine Arbeitsausbildung, sonder auch eine Ausbildung als Kamerad, d.h. es wird ein richtiges Verhältnis zu anderen Menschen anerzogen“ ((15), Seite 137). Sie hatte somit einen entscheidenden Anteil an der psychischen und geistigen Entwicklung des Menschen.

Nach Makarenko wurde der sowjetische Mensch jedoch noch mehr durch den Kampf gekennzeichnet. Der Kampf wurde nicht um seiner selbst willen geführt, sondern um einen Sieg zu erlangen. Dabei galt sein Kampf nicht nur den Feinden, wie den „Faschisten“. Auch das innersowjetische Leben gestaltete sich mit seinen Konflikten als einen einzigen Kampf.

Die Antriebskraft für den sowjetischen Kampfeifer lieferte die entscheidensten Eigenschaft des Menschen, den Makarenko erzogen hatte: es „ist die Liebe zu seinem sowjetischen Land, zur kommunistsichen Sache “ ((15), Seite 138). Die sowjetische Pflicht gegenüber dem Land gründete sich in dem Solidaritätsgefühl der Werktätigen. Liebe und Pflichterfüllung der Sowjetunion gegenüber wurde auch als Dienst an allen Menschen angesehen, da in jeder sowjetischen Empfindung der Gedanke an den Menschen und die Menschheit verankert war. Die Echtheit dieser sowjetischen Liebe zum Vaterland und zur Menschheit wurde an der Bereitschaft zum Leid sichtbar. Der Sowjetbürger verrichtete auch unangenehme Arbeit, so lange sie dem Kollektiv diente.

Im Allgemeinen legte er großen Wert auf Brüderlichkeit, Kameradschaft und klagte dabei über den Verlust der ihn liebgewonnenen Menschen, als Zöglinge zur Arbeitsfakultät gingen. Andererseits schrieb Makarenko, daß Menschen austauschbar seien.

Die Interessen des Einzelnen mußten gegenüber den Interessen des Kollektivs zurücktreten. Dies galt auch für die Kinder. Denn wenn es dem Kollektiv wohl ging, dann ging es nach seiner Vorstellung auch allen Mitgliedern des Kollektivs gut. Das Zurückstecken wurde von den Kindern keineswegs als Opfer empfunden, sondern eher als „Genuß“, der bereicherte. Bei ihm war nicht das Kind im Mittelpunkt der Welt, wie es bei anderen Pädagogen ist. Makarenko war antireligiös, schien darin sehr intolerant zu sein und akzeptierte keine andere Lebensauffassung. Religiöse Sitten und Bräuche wurden in der Kolonie unterbunden.

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau war für ihn selbstverständlich. Der erste Deliquent, der die Kolonie verließ, um zu studieren, war eine Frau. Die Jungen hatten zäh und mutig zu sein, keine Gefahren noch körperliche Schmerzen zu fürchten. „Ein Mensch muß Selbstachtung besitzen, stark und stolz sein.“ (12)

Diese konkreten und uneingeschränkten Erwartungen Makarenkos an den Sowjetmenschen zeigten, daß sein Menschenbild nicht so relativ war, wie er vorgab. Der Mensch war ein Kollektivwesen – dies galt als absolutes Prinzip der Anthropologie Makarenkos. „Als Einzelgänger kann der Mensch nicht leben. Du mußt Dein Kollektiv liebgewinnen, es kennenlernen, seine Interessen müssen Dir am Herzen liegen. Anders wirst Du kein richtiger Mensch.“ ((15), Seite 140).

Der Sowjetmensch erlangte also dadurch sein Glück, seine Freiheit und seine Persönlichkeit, in dem er sich ganz auf das Kollektiv einließ. Der Einzelne und das Kollektiv standen bei Makarenko demnach nicht polar gegenüber. Das Kollektiv bestätigte dem Einzelnen die Souveränität des gesamten Kollektivs. Als Gegenleistung wurde von der Einzelpersönlichkeit die Unterordnung entsprechend der Souveränität des Kollektivs verlangt.

3. Makarenkos Sozialismusbild

Für eine entscheidende Prägung durch die revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 gab es keine stichhaltigen Beweise. Nach dem Scheitern der Revolution von 1905-07 wandte Makarenko sich ganz von der Politik ab und konzentrierte sich auf seine Tätigkeit als Lehrer und auf seine schriftstellerischen Ambitionen. Diese weitgehende Entpolitisierung bedeutete jedoch keineswegs, daß Makarenko nicht offen war für gesellschaftliche Veränderungen.

Jede originelle und wirklich neue pädagogische Konzeption birgt zwangsläufig Prämissen, Vorstellungen vom Menschen und von der Gesellschaft in sich.

Makarenko nahm in dieser Hinsicht eine Sonderstellung ein: bei ihm waren alle pädagogische Ideen in gesellschaftlichen Prozessen und Bewegungen verwurzelt. Gesellschaftliche Faktoren waren die Träger der angestrebten normativen Erziehungsordnung und Erziehungsziele.

Der Kern seiner Ansichten ließ sich wie folgt zusammenfassen. „ (...) die richtige Erziehung ist jene, die die Pädagogik unserer ganzen Gesellschaft wiederholt.“ ((8), Seite 194)

Der daraus resultierende Ausgangspunkt des sozialistischen pädagogischen Denkens war die Stellung des neuen Menschen in der neuen Gesellschaft. Dabei mußte gleich eine Einschränkung vorgenommen werden. Makarenko war kein politischer oder gesellschaftstheoretischer Denker. Er besaß keine ausgeprägte, detaillierte Vorstellung vom Sozialismus, sondern eher eine Art „Version“ davon, die sich von Zeit zu Zeit änderte.

Dem zu Grunde lag folgende Weltanschauung:

„ Einen Gott gibt es nicht. (...) Das Leben ist sinnlos, absurd und bis zum Entsetzen grausam. Man kann wohl einzelne Personen lieben, doch die Menschheit als solche ist nur eine Masse, eine Herde und verdient Verachtung. Nächstenliebe ist überhaupt nicht gerechtfertigt und zudem völlig nutzlos. Kinder in die Welt zu setzen ist ein Verbrechen (...).((8), Seite 196)

Zu seiner politischen Überzeugung schrieb er selber: „ (...) ich bin parteilos. Ich halte den Sozialismus in den schönsten Formen menschlichen Zusammenlebens für möglich, aber ich meine: solange Soziologie nicht durch ein festes Fundament der wissenschaftlichen Psychologie, insbesondere der Kollektivpsychologie, untermauert ist, wird eine wissenschaftliche Ausarbeitung sozialistischer Formen unmöglich sein, doch ohne wissenschaftliche Fundierung ist ein vollkommener Sozialismus unmöglich.“ ((8), Seite 198) Es wurde deutlich, daß Makarenko ein Gefühl der Unzufriedenheit und zugleich die Hauptrichtung seines Interesses und seiner Arbeit genau formulierte: die wissenschaftliche Ausarbeitung sozialistischer Formen.

Am intensivsten beschäftigte sich Makarenko mit der Souveränität des gesellschaftlichen Individuums, mit seiner Individualität, mit der Reife, dem Reichtum und der Freiheit seiner Persönlichkeit. Dabei stellte er mehrere Formeln auf:

- Es konnte nicht von Erziehung die Rede sein, wenn man nicht den Wert des Menschen zugrunde legte.
- Wichtig war nicht der Mensch, sondern einzig und allein das Kollektiv. Dabei war das Kollektiv nur deshalb wichtig, weil es um das Individuum ging, um den in Würde und Vernunft lebenden souveränen Einzelnen: Es ging um das Dasein des Individuums in Würde und Vernunft.

Makarenko wußte, daß junge Menschen im Prozeß der Erziehung einen unermeßlichen Reichtum an Varianten der Persönlichkeit entwickelten. Die größte Gefahr zeigte sich dabei in der Angst vor deren Verschiedenartigkeit. Dieser Angst konnte er in zwei Formen entgegenwirken. Entweder wurden alle Menschen in eine standartisierte Schablone gepreßt oder man ging passiv auf das Individuum ein in der Hoffnung, mit Millionen von Zöglingen fertig zu werden, in dem man sich mit jedem einzelnen beschäftigte. Dabei war zu erkennen, daß die eine Form der Angst ihren Ausdruck in der autoritären, unbedingten gehorsam fordernden Ideologie und die andere im Ideenkreis des liberalen „laissez faire“, der freien und spontanen Entwicklung fand.

Makarenko zog daraus folgende Schlußfolgerungen:

- Existenz eines über dem Individuum stehenden gesellschaftlich-kollektiven Interesses
- Durchsetzung der Logik des Kollektivinteresses im Konfliktfall
- Existenz von rationalen und notwendigen Grenzen der Freiheit des Individuums
- Prinzipielle Möglichkeiten des gesellschaftlichen Zwangs

Während sich Makarenkos Visionen vom Sozialismus veränderten, wies das Makarenko-Bild selbst ebenfalls eine gewisse Tendenz zu Veränderungen auf. Diese standen mit der Umgestaltung der jeweiligen sozialistischen Wirklichkeit in Verbindung und wurden durch verblüffende historische Wenden gekennzeichnet. So wurde sein Konzept 1928 noch als eine nicht sowjetische und ideologisch schädliche Erziehungsmethode verschrien. Dieses Bild änderte sich jedoch bis hin zu der Meinung, daß wenn Makarenko nicht so früh gestorben wäre, er sich zu einem „pädagogischen Diktator“ der Sowjetunion entwickelt hätte.

Eine der meistdiskutierten Fragen der Makarenko-Biographie betraf das Ideengut des jungen, vorrevolutionären Makarenko, seine geistige Orientierung, seine Beziehung zum Sozialismus und das Verhältnis seiner Arbeit zu seiner späteren Tätigkeit.

Sein Bruder Vitalij versuchte in seinen Erinnerungen ein allgemeines Bild von der Weltanschauung des jungen Makarenko zu zeichnen. Er schrieb:

„Einen Gott gibt es nicht. Die Märchen von der Erbsünde, vom Reich Gottes, von der Auferstehung der Toten und der Unsterblichkeit der Seele können nur kleine Kinder glauben. Das Leben ist sinnlos, absurd und bis zum Entsetzen grausam. Man kann wohl einzelne Personen lieben, doch die Menschheit als solche ist nur eine Masse, eine Herde und verdient Verachtung. ‚Nächstenliebe‘ ist überhaupt nicht gerechtfertigt und zudem völlig nutzlos. Kinder in die Welt zu setzen ist ein verbrechen. Das ist das Los der Bauern und Kleinbürger, also gerade jenes Teils der Erdbevölkerung, der aufgrund seiner Armut nicht imstande ist, für die Zukunft seiner Kinder zu sorgen. Aber wenn man keine Kinder in die Welt setzen darf, wird die Ehe vollkommen überflüssig. Die Menschen können frei zusammenleben, ohne eine sogenannte gesetzliche Ehe einzugehen, solange sie einander lieben. Und wenn die Liebe vergeht, wie alles auf dieser Welt, können die Menschen völlig frei auseinandergehen, ohne die demütigende Prozedur einer Scheidung.“ ((8), Seite 196)

Auch wenn dieses Bild ein wenig deprimierend ist, so war es doch in den östlichen Regionen Europas keineswegs ungewöhnlich, wo die Bevölkerung nach dem Weg und dem Sinn ihres Daseins suchte. Makarenko hatte den Weg des Ausbruchs, der Selbstfindung in zwei Richtungen versucht: in der Welt der Literatur und der Wissenschaft.

Makarenko beschäftigte sich zu Beginn der 20iger Jahre mit zwei grundlegende Fragen: Ist ein radikaler Bruch in der Beurteilung der Familie und bezüglich der gesellschaftlichen Erziehung von Nöten? Lange Zeit war er der Meinung, daß die Familie als solche eine hoffnungslos anachronistische Form darstellte. Deshalb war er auch der Meinung, der Sozialismus sei eine Welt konsequenter gesellschaftlicher Erziehung, die nicht durch Schulen, sondern durch eine große Zahl von Erziehungseinrichtungen gewährleistet wurde. Seine Überzeugung war, daß es ohne eine gesellschaftliche Erziehung keine sozialistische Gesellschaft geben könne. Der sozialistische Staat – als Folge der Umgestaltung der Familie – mußte einen vollkommen neuen Zugang zum Problem der Erziehung, zur Theorie und Praxis der gesellschaftlichen Erziehung finden.

Makarenko sah im Sozialismus eine Gesellschaft, die ununterbrochen Erfahrung sammelte, ihre Lebensformen kritisch analysierte und individuellen sowie kollektiven Perspektiven viel Freiraum gewährte. Eine Eigenart des Sozialismus sah er darin, daß bestimmte Werte und Kategorien nicht einfach radikal verneint wurden, sondern umgeformt und mit neuen Inhalten gefüllt wurden. Dadurch stellte er eine Kontinuität gesellschaftlicher Daseinsformen sicher.

Dies alles sowie einige Momente seiner persönlichen Erfahrung bewogen Makarenko dazu, auch zwei weitere Aspekte der sozialistischen Wirklichkeit Beachtung zu schenken: der Natur der für den Sozialismus charakteristischen Konflikte sowie den Dimensionen der Freiheit. Sowohl die Erfahrungen seines persönlichen Lebens als auch seine theoretischen Überlegungen führten ihn zu der Überzeugung, daß auch die sozialistische Wirklichkeit voller Konflikte ist. Es gehörte zu ihrem Wesen, daß sowohl in den einzelnen Menschen als auch in den zwischenmenschlichen und in den gesellschaftlichen Beziehungen ununterbrochen Konflikte auftreten.

Ein Teil der für den Sozialismus charakteristischen Konflikte hatte seine Ursache im Verständnis der Freiheit des Individuums und der Umstände ihrer Verwirklichung. Das Motto „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“ war für Makarenko eine viel zu abstrakte und philosophische Wahrheit, um als Leitfaden im alltäglichen Leben zu dienen. Die Freiheit des Individuums gab es für ihn nicht um ihrer selbst willen, sondern nur in Verbindung mit zwei weiteren Kategorien: mit einer vernünftigen Ordnung und der einer neu verstandenen Disziplin. Den Begriff der Disziplin hatte er erweitert, in dem er ihre Erscheinung und damit auch die Erziehung zur Disziplin all das umfassen ließ, was man als „gesellschaftliche Natur des Menschen“ bezeichnete. Seine Überzeugung, daß die Freiheit des Individuums nicht die Welt der willkürlichen Unbeschränktheit bedeutete, sondern „Teil des Gemeinwohls“ war, veranlaßt uns heute zum Nachdenken. „Authentisches Dasein“ ist nur das, was sich im Zeichen des „Gemeinwohls“ verwirklichen läßt und kein „Laufen in einem leeren Raum“ (vgl. (8), Seite 206).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

III. Geschichtlicher Hintergrund

1. Politische Entwicklung

Um die pädagogische Sicht von Makarenko verstehen zu können, ist es notwendig, die Zeitumstände darzustellen.

Nach dem Krimkrieg (1854-1856) zeigten sich die ersten liberalen Reformen unter Alexander II., der die Leibeigenschaft aufhob und erste Ansätze zur Berufsbildung unterstützte. Damit verbunden waren die ersten Reformen im Volksschul- und Universitätswesen. Aufgrund dieser Neuerungen und der zunehmenden Kraft des Panslavismus in der russischen Politik, bezeichneten Marx und Engels Rußland als „die Vorhut der revolutionären Bewegung Europas“. ((18), Seite 321)

Unter Nikolaj II., dem Nachfolger des Zaren Alexander III., kam es 1895 in St. Petersburg zur Bildung des Arbeitszirkels „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“. Wegen der Gründung der sozialrevolutionären Partei und den Folgen des zweiten Parteitags in Brüssel, wo Bolseviki (Lenin) und Menseviki (Martov) auseinanderfielen, unterzeichnete Nikolaj II. im April 1905 einen Verfassungsentwurf, der die Existenz einer konstitutionell-demokratischen Partei vorsah.

Dies beschwor weitere Unruhen herauf. Die Arbeiterklasse Rußlands lehnte sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung auf, gegen die Selbstherrschaft des Zaren und die Macht der Popen. Nicht nur in den Großstädten sondern auch auf dem Lande kam es zu Streiks, die sich z.B. in der Niederlegung der Arbeit äußerten. Makarenko war mitten unter den streikenden Arbeitern, hörte die anklagenden Reden und die Aufrufe zur Tat. Er forschte zugleich auch nach den geistigen Ursprüngen, die diese Bewegung der Massen auslöste.

Nach weiteren Streiks wurde Nikolaj II. zur Unterzeichnung des von S.J. Witte verfaßten Manifests gezwungen. Es versprach demokratische Grundrechte und der Volksvertretung legislative Gewalt. Zusätzliche Aufstände in Moskau und anderen russischen Städten entfachten 1905 die Erste Russische Revolution, die niedergeschlagen werden konnte.

Mit der Parlamentseröffnung im April 1906 wurde die erste russische Duma nach wenigen Wochen mit Militärgewalt wieder abgesetzt. Die zweite Duma, in der eine starke Opposition existierte, wurde im Juni 1907 von Nikolaj II. wegen angeblicher Nichteinhaltung des Wahlmodus aufgelöst.

Erneute Aufstände, die russische Unterstützung serbischer Forderungen sowie der Balkankrieg 1912/1913 taten ihr weiteres, um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 zu beschleunigen. Unstimmigkeiten der Minister innerhalb der Duma genauso wie Forderungen nach einer liberalen politischen Konzeption führten im Februar 1917 mit der Ausrufung des „Ersten Arbeiter- und Soldatenrates“ in Petersburg zur Zweiten Russischen Revolution.

Daraufhin kam es zur Abdankung des Zaren Nikolaj II.. Am 16. April kehrte Lenin aus der Emigration nach Petrograd zurück und stellte sich an die Spitze des kämpfenden Proletariats. Der Ruf nach Friede und Übergabe der Macht an die Arbeiter- und Soldatenräte erhob sich unüberhörbar aus den Volksmassen. Mit dieser sozialistische Oktoberrevolution war die Gewaltherrschaft des Zaren beendet und die Ausbeutung des Volkes durch adlige Großgrundbesitzer und Kapitalisten gebrochen. Geblieben war jedoch die äußerste Rückständigkeit vor allem unter den Bauernmassen: Hunger, Unterernährung, die durch den Krieg verschärfte Verelendung, Tiefstand der Produktionstechnik in Fabriken. Am 26.02.1920 schrieb das Parteiorgan Pravda: „Die Arbeiter der Städte und zum Teil auch der Dörfer krümmen sich vor Hunger. Die Eisenbahnen rücken kaum vom Fleck. Die Häuser verwittern und verfallen. Die Städte sind voller Unrat. Epidemien breiten sich aus, und der Tod holt überall seine Opfer. Die Industrie ist zugrunde gerichtet.“ ((7), Seite 106)

Eines der gewaltigsten Hindernisse, das sich der vorwärtsdrängenden gesellschaftlichen Entwicklung in den Weg stellte, war die mangelhafte Bildung vieler Volksschichten. Lenin selbst schrieb, daß ca. vier Fünftel der Kinder und Jugendlichen von der Volksbildung ausgeschlossen waren.

Zunächst galt es, das Analphabetentum zu beseitigen und insbesondere bei Kindern und Jugendlichen die geistigen und moralischen Kriegsschäden zu heilen. „Lenins Mahnung, unermüdlich zu lernen und seine Feststellung, daß die Sowjetordnung Menschen benötige, die nicht nur des Lesens und Schreibens kundig sind, sondern kulturell hochstehende, politisch bewußte, gebildete Werktätige darstellen, mobilisierten jene dritte Front der Menschenbildung. An ihr wirkte hingebungsvoll auch A.S. Makarenko.“ ((11), Seite 29)

1920 lebten nach amtlichen Schätzungen 7-9 Millionen Kinder heimat-, eltern- oder obdachlos in der Sowjetunion. Das Problem der wachsenden Kinderverwahrlosung nach dem Bürgerkrieg wurde noch durch die Hungersnot im Winter 1921/22 verschärft.

War die Situation schon vor 1905 verheerend, so war wohl die Lebenssituation nach der Revolution katastrophal. Innerhalb von 12 Jahren erlebte Rußland fünf (Bürger-)Kriege: weite Landesteile in der Ukraine wurden verwüstet, viele Menschen wurden getötet oder starben an Mangelerscheinungen. Kinder verloren ihre Eltern und ihre Heimat. Mord und Raub waren den Kindern durch die Geschehnisse wohl vertraut.

Während der Hungersnot übernahm Makarenko den Aufbau und die Leitung einer Arbeitskolonie für minderjährige Rechtsbrecher. Er traf vor Ort nur eine Ruine an, die er zusammen mit den Kindern wieder aufbaute. Es gab keine Barrieren wie Mauern und Zäune. Die Kinder konnten sich frei bewegen. Es geschahen auch in der ersten Zeit von der Kolonie aus Verbrechen und Morde. Die meisten dieser Kinder waren vernachlässigt, verwildert und nicht für die Verwirklichung seines „sozialerzieherischen Wunschtraums“ geeignet. Anton Semjonowitsch Makarenko zerfloß nicht vor Sympathie und Mitleid mit diesen in die Gosse geworfenen Kindern. Sondern ihm war klar, daß er zu ihrer eigenen Rettung die Pflicht habe, unerbitterlich streng, hart und fest zu sein.

Die Anfänge seiner sozialpädagogischen Arbeit fielen in die Zeit, als der revolutionäre Enthusiasmus die Kluft zwischen Realität und Utopie zu überspringen suchte, als die „Befreiung des Kindes und der Schule“ den Leitsatz der offiziellen Schulpolitik bildete.

Makarenko entwickelte ein eigenes System aus Disziplin und Gruppenarbeit, indem er wie ein Mensch und „nicht wie ein Formalist“ handelte. Weil er auch nicht überzeugt war vom „erzieherischen Wert der Arbeit als solche (schließlich war die Gor`kij-Kolonie eine reine Arbeiterkolonie), begann er seine eigenen Vorstellungen von Erziehung umzusetzen. An die Stelle der individuellen Berufsberatung und Führung setzte Makarenko die kollektive Perspektive und entwickelte das ihr zugeordnete System einer kollektiven Lebensordnung. Er schuf die organisatorische Gliederung seiner Kolonie in Abteilungen mit Kommandeuren - ein System, das als Arbeitskollektiv seiner Vorstellung von Disziplin als den Grundwert der Erziehung in gleicher Weise entgegenkam wie dem jugendlichen Bedürfnis nach Selbständigkeit. Man mußte sich dazu den unwahrscheinlichen Mangel an Gebrauchsgütern im Rußland der 20iger Jahre vorstellen, und die Lumpen, mit denen die Verwahrlosten bekleidet waren. Schon eine Uniform, wenn sie nur aus einem weißen Hemd und Turnhosen bestand, erst recht eine mit weißem Kragen, erweckte eine freudige Stimmung.

2. Schulische Entwicklung

Um 1905 gab es unzählige Debatten über die Gestaltung des Unterrichts. Unerfüllte Forderungen, wie die Schaffung von Versuchsschulen, einem obligatorischen Schulbesuch sowie eine „freie Erziehung“, führten zum Zusammenschluß der Volksschul-, Oberlehrer und Hochschuldozenten im Allrussischen Lehrerbund, den die Regierung 1906 wieder auflöste. Die russisch liberale Lehrerschaft stimmte mit den Sozialisten in den Forderungen nach einer Veränderung der offiziellen Kulturpolitik überein. Dies führte 1905 zur Entwicklung des Grundschulnetzes. Bis 1917 gab es einen weiteren starken Aufschwung der Volksbildung und des Schulwesens in der Duma-Periode.

Am 3. Mai 1908 verabschiedete die Duma ein Gesetz über das Volksschulwesen als erste reale Basis zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht. 1911 forderte der Allgemeine Kongreß für Volksbildung eine allgemeine weltliche, gemeinschaftliche und einheitliche Pflichtgrundschule. Mit dem Schulreformplan des Grafen P. Ignatev wurde die Forderung nach einer Einheitsschule durch die Gliederung in ein dreistufiges Schulsystem umgesetzt. Zu Beginn des Weltkrieges gab es in Rußland insgesamt 105 Hochschulen und 9 Universitäten mit insgesamt 127400 Studenten. (vgl. (18), Seite 325)

1915 wurde in der Duma ein neuer Entwurf eines allgemeinen Volksschulgesetzes auf die Tagesordnung gesetzt, in dem der Grundsatz einer allgemeinen Schulpflicht Anerkennung fand. Außerdem wurde die Gleichberechtigung der Geschlechter beim Hochschulbesuch eingeführt. Damit waren die ersten Hürden für eine Reformation des Schulwesens genommen. Mit den Jahren folgten weitere Änderungen, wie z.B. die Einführung der neuen russischen Rechtschreibung, die Herstellung der Autonomie der Universitäten sowie die Gründung der „Staatlichen Volksbildungskommission“ mit dem Narkompros (Volkskommissariat für Volksaufklärung) als Ausführungsorgan. Durch die Forderung nach einem Bruch mit der alten Schule und Pädagogik durch pro-bolschewistische Pädagogen der „Moskauer Gruppe“, wurde der Einfluß der westeuropäischen Reformpädagogik in Rußland immer größer.

Die 1931 offiziell eingeführte Pädologie war für die Anfänge der sowjetischen Volksbildungspolitik wegweisend (Verweis auf Kapitel V,2). Individualisierende und psychologisierende sowie autoritätsfeindliche Konzeptionen bestimmten die Pädagogik dieser Zeit. Aus dem Willen, Schule und Alltag miteinander zu verbinden, enstanden die kuriosesten Versuche. Die frühsowjetische Reformpädagogik versuchte zwar ernsthaft, eine Synthese zwischen russischem und westlichem Bildungserbe zu erreichen, doch stellte sich dies als sehr unrealistisch heraus. Die konservative russische Bauernschaft stand diesem Streben ablehnend gegenüber und forderte die herkömmliche Ausbildung ihrer Kinder. Dem gegenüber stand jedoch die zunehmende Zahl der verwahrlosten Kinder. Dieses Problem verlangte eine allgemeine und umfassende Schulreform mit einem erzieherischen Charakter der Schulen.

Mit der aufstrebenden sowjetischen Industrie und der beginnenden Planwirtschaft wurde aber der Bedarf an ausgebildeten Fachkräften immer größer. Um dies zu gewährleisten wurde ein fachlich und ideologisch umstrukturierter Schulbetrieb gefordert, der diesen Ansprüchen genügen konnte.

Um alle Diskussionen zu beenden, wurde im „kulturellen Fünfjahrplan“ von 1928-1932 der Besuch der Siebenjahresschule wieder obligatorisch. Lehrbücher, Klasseneinteilung und „Frontalunterricht“ wurden wieder eingeführt. Diese Entwicklung wurde in den vierziger Jahren beendet. Reifeprüfungen mußten wieder abgelegt werden, die Schülerselbstverwaltung wurde abgeschafft sowie die Einführung von Lateinunterricht waren die gravierendsten Reformen. Am 13. Dezember 1948 wurde sogar ein Beschluß zur Verhinderung der Überbelastung des Schülers durch gesellschaftliche und durch andere Arbeit erlassen. Mit dem Gesetz „Über die Festigung der Verbindung der Schule mit dem Leben und die weitere Entwicklung der Volksbildung in der UdSSR“ ((15), Seite 117) von 1958 wurde die jüngste Entwicklung der Sowjetschule abgeschlossen. Inhaltlich gesehen stand die polytechnische Bildung und die Verbindung des Unterrichts mit der Produktion im Vordergrund. In formeller Hinsicht wurde die allgemeine Schulpflicht verlängert. Nach dem achtjährigen Besuch der polytechnischen Mittelschule konnte man sich in zwei- bis vierjähigen weiterführenden Schularten weiterbilden. Ziel dieser Sowjetschule war die Ausbildung ihrer Schüler hinsichtlich ihrer Eingliederung in die örtliche Wirtschaft.

[...]

Ende der Leseprobe aus 102 Seiten

Details

Titel
Die Kollektiverziehung bei A. S. Makarenko
Hochschule
Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt  (FB Sozialpädagogik)
Note
3
Autor
Jahr
2001
Seiten
102
Katalognummer
V9399
ISBN (eBook)
9783638161145
Dateigröße
1336 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kollektiverziehung, Makarenko
Arbeit zitieren
Daniela Häsel (Autor:in), 2001, Die Kollektiverziehung bei A. S. Makarenko, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9399

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