Die Quellengattung der Weistümer. Dokumente einer Gesellschaft im Aufbruch in die Schriftlichkeit


Hausarbeit, 2020

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Zum Weistumsbegriff

3. Struktur der Weistümer

4. Die Quellen
4.1 Weistum über die Zentrügepflich der Bauern von Drügendorf
4.2 Die Offnung von Weiler

5. Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
5.1 Die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses
5.2 Merkmale einer semiliteralen Gesellschaft in den Weistumstexten

6. Folgen der Rechtsverschriftlichung

7. Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Bild des ungehobelten, ungebildeten, Bauern des Mittelalters hat sich bis heute hartnäckig in der Allgemeinheit gehalten. Nicht zuletzt Schuld daran sind satirische Texte aus adeliger Feder, deren Ziel Verunglimpfung anstatt wahrheitsgetreuer Repräsentation war, als prominentestes Beispiel sei hier Heinrich Wittenwilers Der Ring genannt. Insgesamt lässt der Bestand an Textquellen, die ein aussagekräftiges Bild über die ländlich-bäuerliche Bevölkerungsschicht des Mittelalters zeichnen, zu wünschen übrig. Da die analphabetische bäuerliche Schicht fast ausnahmslos keine Texte produzierte,1 müssen Aussagen über die ländliche Bevölkerung des Mittelalters indirekt getroffen werden. Eine Quellengattung, die einer authentischen Darstellung der bäuerlichen Bevölkerungsschicht vielleicht am nächsten kommt, sind die Weistümer. Diese ländlichen Rechtsquellen sind in vielerlei Hinsicht interessant, speziell soll in dieser Arbeit aber der Blick auf ihre Bedeutung als Dokumente des Übergangs von einer oralen, gedächtnisorientierten hin zu einer schriftlichen, literalen Kultur, gelegt werden.

Seit Jacob Grimm 1840 das erste Mal die Weistümer in den Fokus der Forschung rückte, diskutiert die Wissenschaft über die Bedeutung dieser Schriftdenkmäler. Während Grimm gemäß dem damaligen romantischen Zeitgeist in den Weistümern eine uralte, tief germanisch verwurzelte, Volkstümlichkeit sah und sie pathetisch als „ein zeugnis der freien und edlen art unseres eingebornen rechts“2 umschreibt, haben sich seit dem die Ansichten der Forschung ernüchtert. Die „Wiener Schule“ unter Alfons Dopsch sah in den Weistümern viel mehr eine pragmatische Manifestierung grundherrschaftlicher Interessen und erkannte dabei den Bauern wesentliche Einflussmöglichkeiten ab.3 Diese Ansicht ist umstritten und wurde von vielen Autoren, die die Meinung vertraten, dass die Weistümer sowohl herrschaftliche als auch bäuerliche Interessen beinhalten, relativiert. Auch Grimms Ansicht über das hohe Alter, der in Weistümern aufgezeichneten Rechte, die seiner Meinung nach aus germanischen Zeiten herrührten, wird heute nicht mehr geteilt. Die Regeln, die in den Weistümern verschriftlicht wurden, sind nach heutiger Auffassung wohl kaum älter als die Dokumente selbst.4

Weistümer eignen sich aufgrund ihres vielfältigen Inhalts als Forschungsgegenstand in verschiedenen historischen Fachdisziplinen. So zeigt neben der Rechts- und Verfassungsgeschichte auch die Wirtschafts-, Agrargeschichte und Volkskunde Interesse an den Weistümern. Besonders aufschlussreiche Ergebnisse liefert die Weistumsforschung im Bezug zu anderen Quellen. In Ergänzung zu Urbaren, Dorfordnungen und ähnlichen ländlichen Schriftdokumenten, lässt sich ein präziseres Bild der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters zeichnen. Der Quellenbestand der Weistümer ist dabei sehr umfangreich. Neben dem Werk Grimms (Weisthümer) sind die Sammlung der Österreichischen Weisthümer und die Sammlung schweizerischer Rechtsquellen als größte Zusammenstellungen von Weistümern zu benennen. Dennoch beklagt Werkmüller die Situation der Editionen. Viele Sammlungen wurden angefangen aber nie zu Ende geführt, teilweise scheiterten sie an der schieren Fülle der Projekte.5

Im Folgenden sollen zunächst der Begriff und die typische Struktur des Weistums geklärt werden, um anschließend anhand des Weistums über die Zentrügepflicht der Bauern von Drügendorf von 1400 und der Öffnung von Weiler von 1532 die Merkmale der semiliteralen bäuerlichen Gesellschaft zu beleuchten. Vordergründlich soll die Frage zu beantworten sein, welche spezifischen Merkmale die Weistümer als Dokument der Übergangsphase von Mündlichkeit hin zu Schriftlichkeit kennzeichnen.

2. Zum Weistumsbegriff

Es gibt zwei Elemente, die für ein Werk der Weistumsforschung beinahe obligatorisch zu sein scheinen: Zum einen die Erwähnung Jacob Grimms, als Begründer der Weistumsforschung und zum anderen ein Abschnitt zur Klärung des Weistumsbegriffs selbst. Gemäß dieser Tradition soll in diesem Teil die Definition des Weistumsbegriffs behandelt und im selben Atemzug genauer auf die Bedeutung Jacob Grimms für die Weistumsforschung eingegangen werden. Denn er war der Erste, der diesen Schriftdenkmälern solch breite Aufmerksamkeit schenkte und sie in aufwändiger Arbeit zusammentrug. Durch seine bereits erwähnte sechsbändige Quellensammlung Weisthümer (herausgegeben über den Zeitraum von 1840 bis 1869) fand der Begriff Einzug in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Werkmüller fasst die ursprüngliche Bedeutung des Weistums als „kollektive Aussage rechtskundiger Männer über das bestehende Recht“ zusammen6 Heute wird der Begriff auch für das schriftliche Dokument verwendet. Der Akt der mündlichen Rechtsfindung wird „Weisung“ genannt, Werkmüller betont aber, dass schon der Wahrspruch selbst als Weistum zu bezeichnen ist.7 Dass sich das Wort „Weistum“ als ein Sammelbegriff dieser Quellengattung durchgesetzt hat, ist wohl Grimm zu verdanken. In anderen Gebieten waren für diese Dokumente andere Namen gängig: in Süddeutschland findet man in den Quellen die Begriffe „Ehaft“ oder „Ehafttaiding“, in Österreich „Banntaiding“ oder „Taiding“, in der Schweiz „Offnung“, „Jahrding“ und im Elsass „Dingrodel“, um nur einige Alternativen zu nennen.8 Grimm nahm diese Quellen gleichwohl in seiner Sammlung auf, weshalb sie nun synonym mit dem Begriff „Weistum“ verwendet werden.

Grimms Werk umfasst eine umfangreiche Sammlung ländlicher Rechtsquellen aus dem deutschen, österreichischen und schweizerischen ländlichen Raum. Nach heutiger Auffassung handelt es sich hierbei allerdings nicht nur ausschließlich um Weistümer. Die Sammlung beinhaltet viele verschiedene ländliche Rechtsquellen unter anderem Satzungen und Dorfordnungen. Wie also lassen sich Weistümer von anderen ländlichen Rechtsquellen abgrenzen? Im Hinblick auf den Forschungsstand fasst Prosser vier bezeichnende Charakteristika zusammen:

1. Ein lokal begrenzter Wirkungsgrad. Damit wird der dezentrale Ursprung und die ländliche „Kleinräumigkeit“ der Weistümer betont.
2. Ein bäuerlich-ländlicher Sachinhalt als Abgrenzung zu ähnlichen städtischen oder in anderem Zusammenhang zustande gekommenen Quellen.
3. Eine ausschließlich retrospektive Natur der Rechtsfindung, insbesondere die Berufung auf altes Recht. Es soll kein neues Recht gesetzt werden, vielmehr soll bereits vorhandenes Recht aus „alt Herkommen“ gefunden und gewahrt werden.
4. Ein zeremonieller Rahmen der Entstehung. Die Weisung, also die Rechtsfindung, fand in einer förmlichen (Gerichts-)versammlung statt und wurde von bäuerlichen Schöffen durchgeführt.9

Auch wenn in der Forschung über die genaue Definition der Weistümer noch immer Uneinigkeit herrscht und (laut Eder) „auf Grund der allgemein anerkannten Differenziertheit des Materials auch nicht herrschen kann“10, lassen sich die Weistümer durch diese Kriterien zumindest besser fassen und von anderen ländlichen Rechtsquellen abgrenzen.

3. Struktur der Weistümer

Wie also darf man sich den Ablauf eines Weistums vorstellen? Wie oben erwähnt spielte das Zeremoniell beim Weistum eine wichtige Rolle. Den entsprechenden Rahmen dafür lieferte das Dinggericht, welches mindestens jährlich, meist aber zwei oder drei Mal im Jahr stattfand.11 Einberufen wurde es von der Herrschaft, dabei war die Anwesenheit aller Hintersassen unter Androhung von Buße Pflicht.12 Meist wurden die Termine der Zinsabgaben auf die Dinggerichtstermine gelegt,13 welche sich selbst auch an dem landwirtschaftlichen Arbeitsrhythmus orientierte.14 Der Vorgang der Weisung selbst fand in streng ritualisierter Frage-Antwort Form statt. Dabei forderte der Amtsmann, Vertreter des oder zuweilen auch der Herr selbst die ausgewählten rechtskundigen Schöffen (es konnte aber auch jeglicher Hintersasse dazu aufgefordert werden) auf, vor dem versammelten Dinggericht das geltende Recht aufzusagen, wie sie es erinnern. Daraufhin berieten sich diese und trugen das Recht vor. Nach diesem Memorialfragen-Schema wurde Recht für Recht abgefragt.15 Dabei sind die Fragesätze selbst nicht oder nur selten überliefert worden und lassen sich meist nur aus den Antworten ableiten.16 Niedergeschrieben wurden die gewiesenen Rechte meist von einem herrschaftlichen Amtsmann der in der Regel Kleriker war. Erst später übernahmen juristisch ausgebildete Notare diese Arbeit.17

4. Die Quellen

4.1 Weistum über die Zentrügepflich der Bauern von Drügendorf

Im Folgenden soll der Inhalt des Weistums kurz erläutert werden. Niedergeschrieben wurde das Weistum am 24. Mai 1400 in Drügendorf, welches in der Fränkischen Alb liegt und zum Bereich des bambergischen Amts Senftenberg-Eggolsheim gehörte. Gegenstand des Weistums sind die Anzeigepflichten der Bauern gegenüber dem Zentgericht. Schreibender ist der Vogt von Memmelsdorf, Heinz von Giech, der die Bauern zu ihrer Rügepflicht befragt. Diese antworten darauf, dass sie Mord, Diebstahl und Notzucht zu rügen, also vor dem Zentgericht anzuzeigen, verpflichtet seien. Der Vogt glaubt ihnen dies erst, nachdem er die Bauern eidlich schwören lässt, die Wahrheit gewiesen zu haben. Als letztes bitten die Schöffen (im Weistum sind sie nur als „Fürsprechen“ genannt) um eine urkundliche Bestätigung ihrer gerichtlichen Rügepflichten, welche der Vogt veranlasst, mitsamt seines Siegels auszuhändigen. Dieses Weistum enthält trotz seiner Kürze mehrere interessante Stellen, die einen Einblick in den Umgang der bäuerlichen Schicht mit Rechtsschriftlichkeit geben.

[...]


1 Ausnahmen finden sich in vereinzelt gebrauchten Schreibebüchern aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Vgl. hierzu Lorenzen-Schmidt, Klaus-J.: Schriftliche Elemente in der dörflichen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. Von Werner Rösener, Göttingen 2000, S.179f.

2 Grimm, Jacob, in: Deutsche Rechtsaltertümer, Göttingen 1828, S.IX.

3 Vgl. Werkmüller, Dieter: Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer. Nach der Sammlung von Jacob Grimm, Berlin 1972, S.126f.

4 Vgl. Teuscher, Simon, in: Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter, Frankfurt/Main 2007, S.207.

5 5 Vgl. Werkmüller, Dieter: Die Weistümer: Begriff und Forschungsauftrag, in: Brüder-Grimm­Symposion zur Historischen Wortforschung: Beiträge zu der Marburger Tagung vom Juni 1985, hg. von Reiner Hildebrandt und Ulrich Koop, Berlin 1986, S.109f.

6 Vgl. ebd., S.104 f.

7 Vgl. Werkmüller, Aufkommen, S.67.

8 Vgl. ebd. S.66.

9 Vgl. Prosser, Michael, Spätmittelalterliche ländliche Rechtsaufzeichnungen am Oberrhein zwischen Gedächtniskultur und Schriftlichkeit, Würzburg 1991, S.187-189.

10 Eder, Irmtraut: Die saarländischen Weistümer - Dokumente der Territorialpolitik, Saarbrücken 1978, S.25.

11 Vgl. Rösener, Werner: Dinggenossenschaft und Weistümer im Rahmen mittelalterlicher Kommunikationsformen, in: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. von Werner Rösener, Göttingen 2000, S.54f.

12 Vgl. Prosser, Rechtsaufzeichnungen S61.

13 Vgl. Rösener, Dinggenossenschaft, S.57.

14 Vgl. Prosser, Rechtsaufzeichnungen, S.60.

15 Vgl. ebd., S.69f

16 Vgl. ebd., S.71.

17 Vgl. ebd., S.192f.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Die Quellengattung der Weistümer. Dokumente einer Gesellschaft im Aufbruch in die Schriftlichkeit
Hochschule
Universität zu Köln  (Historisches Institut)
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
15
Katalognummer
V937641
ISBN (eBook)
9783346266637
ISBN (Buch)
9783346266644
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Weistümer, Jakob Grimm, Mittelalter, Landbevölkerung, Rechtsgeschichte, Rechtsbräuche, Rechtsverschriftlichung, Verschriftlichung, Dorfgericht, Hintersassen, Weisthümer
Arbeit zitieren
Daniel Muchaier (Autor:in), 2020, Die Quellengattung der Weistümer. Dokumente einer Gesellschaft im Aufbruch in die Schriftlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/937641

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