"Und vergib uns unsere Schuld..." - Religionspädagogische Aspekte in der Arbeit mit delinquenten Menschen im Kontext von Schuld und Vergebung


Diplomarbeit, 1999

111 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2. Delinquente Menschen
2.1. Einführende Gedanken zu delinquenten Menschen und ihrer Situation
2.1.1. Begriffsdefinitionen
2.1.2. Lebensalter und Delinquenz
2.1.3. Die Situation des gefangenen delinquenten Menschen
2.1.3.1. Stigmatisierung
2.1.3.2. Isolierung
2.1.3.3. Abhängigkeit
2.1.3.4. Individualitätsverlust
2.1.3.5. Infantilisierung
2.2. Lebensgeschichtliche Bedingungen für Delinquenz
2.2.1. Sozialisationsbedingungen
2.2.2. Multiple Erziehungsformen und -bedingungen
2.2.2.1. Familiäre Auslöse-Situationen für frühkindliche Schädigungen
2.2.2.1.1. Unvollständige Familie
2.2.2.1.2. „Uneheliche“ Geburt
2.2.2.1.3. Scheidung (Verwaisung)
2.2.2.1.4. Multiproblemfamilie
2.2.2.1.5. Erziehungsunfähigkeit
2.2.2.1.6. Fremderziehung
2.2.2.1.7. Heimeinweisung
2.2.2.1.8. „Unerwünschte“ Geburt
2.2.3. Folgen defizitärer Entwicklung im Kindes- und Jugendalter
2.2.3.1. Frühkindliche Schädigungssymptome
2.2.3.1.1. Soziale Resignation
2.2.3.1.2. Bindungsunfähigkeit
2.2.3.1.3. Mangelnde Frustrationstoleranz
2.2.3.1.4. Neigung zu Ersatzhandlungen
2.2.3.1.5. Aktivitätshemmung
2.2.4. Delinquenz als Prestigemanagement
2.3. Einzelne kontextuelle Theorieansätze zu Delinquenzuntersuchungen
2.3.1. Kognitive Dissonanz bei delinquenten Menschen
2.3.1.1. Die Technik der Schuldabwälzung in der Schuld und im Schulderleben
2.3.2. Das Phänomen der Gewissensatrophie
2.3.3. Anerkennung der Strafe
2.3.4. Der Fassadenbegriff der Sühne
2.3.5. Schuldtilgung und Wiedergutmachung
2.4. Die Psychodynamik des Delinquenten
2.4.1. Schuldgefühle bei Delinquenten
2.4.1.1. Der Irrglaube, Straftäter seien unfähig, Schuldgefühle zu haben
2.4.1.1.1. Wahrnehmung von Straftätern als Persönlichkeiten
2.4.1.1.2. Aggressive oder defensive Emotionalität der Gesellschaft
2.4.1.1.3. Der Delinquente als Projektionsobjekt der Gesellschaft
2.4.1.1.4. Definitionsschwierigkeiten der Begriffe
2.4.1.2. Die Abwehr von Schuldgefühlen bei Delinquenten
2.4.1.2.1. Tiefenpsychologische Erkenntnisse über die Verborgenheit von Schuldgefühlen
2.4.1.2.2. Exkurs: Abwehrmechanismen des Ichs
2.4.1.2.3. Affektisolierung
2.4.1.2.4. Projektion
2.4.1.2.5. Versuch zum Ungeschehenmachen
2.4.1.2.6. Rationalisierung
2.4.1.3. Gewissensbildung bei Delinquenten
2.4.1.3.1. Die Maßnahme der Strafe im Kontext vom Schuld- und Strafbedürfnis
2.4.1.3.2. Behinderte Genese des Basis-Gewissens
2.4.1.3.3. Sozialisationsschäden und Gewissensdeformation
2.5. Abschließende zusammenfassende Bemerkungen

3. Theologie von Schuld und Vergebung
3.1. Annäherungen an die relevanten Begriffe
3.1.1. Schuld und Sünde
3.1.1.1. Reale Schuld durch Tun oder Unterlassen
3.1.1.2. Schuld aus der Endlichkeit, Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit
3.1.1.3. Schuld aus dem Selbst, aus der Existenz des einzelnen
3.1.2. Vergebung
3.1.3. Sühne und Versöhnung
3.2. Schuld
3.2.1. Dimensionen der Schuld
3.2.1.1. Äußere Dimensionen von Schuld
3.2.1.2. Die innere Dimension des Abgrunds von Schuld
3.2.1.2.1. Exkurs 1: Strafe und Sühne aus theologischer Sicht
3.2.1.2.2. Exkurs 2: Sollte Strafe ganz abgeschafft werden? Das Spannungsverhältnis zwischen Strafe und Versöhnung
3.2.2. Abschließende Bemerkungen
3.3. Vergebung von Schuld und Sünde und Versöhnung mit Gott und den Mitmenschen
3.3.1. Sündenvergebung im Neuen Testament
3.3.1.1. Umkehr als Antwort auf das Versöhnungsangebot in Gottes Vergebung
3.3.2. Vergebung als Befreiung zur Zukunft
3.4. Abschließende Bemerkungen

4. Religionspädagogische Aspekte im Kontext der Arbeit
4.1. Einführende Gedanken zum religionspädagogischen Teil
4.2. Glauben im Erwachsenenalter
4.2.1. Stabile, emotionale Zuwendung und soziale Anerkennung
4.2.2. Offene Konfrontation mit religiösen oder religiös zu erschließenden sozialen Problemen und Konflikten
4.2.3. Gelegenheit zur Teilnahme an Kommunikationsprozessen
4.2.4. Möglichkeit, an kooperativen Entscheidungen mitzuwirken
4.2.5. Gelegenheiten, Verantwortung für die Gestaltung des eigenen (religiösen) Lebens und für andere Personen zu übernehmen
4.2.6. Abschließende Bemerkungen
4.3. Religionspädagogische Aspekte für die Arbeit im Strafvollzug
4.3.1. Vom Vergeltungsdenken zum Versöhnungsdenken
4.3.2. Notwendige Veränderungen im Strafvollzug
4.3.3. Vertrauensvoller Umgang als Gnadenhandeln im Strafvollzug
4.3.4. Jesu Umgang mit Vorurteilen und Stigmatisierungen
4.3.5. Neue Wertzuteilung im Hilfehandeln Jesu
4.3.6. Religionspädagogisches Handeln und Sozialarbeit mit Straffälligen
4.4. Biblische Gesprächsgruppen als Form religionspädagogischen Handelns in JVA’s
4.4.1. Der Begriff der Gruppe
4.4.2. Die Bedeutung der untersuchten lebensgeschichtlichen Bedingungen Delinquenter für die Gesprächsgruppe
4.4.3. Stabilisierungsfunktionen
4.4.4. Offenheit des Denkens in der Gesprächsgruppe
4.4.5. Erfahrungsnähe im biblischen Gespräch
4.4.6. Seelsorgerlich methodische Aspekte für die Arbeit in der Gesprächsgruppe
4.4.7. Sprachliche Kommunikation in der Gesprächsgruppe
4.5. Aspekte zur biblischen Gesprächsgruppe aus dem eigenen Erfahrungsbereich und den Ergebnissen dieser Arbeit
4.6. Abschließende Bemerkungen

5. Anhang A
5.1. Literaturverzeichnis

6. Anhang B
6.1. Exemplarischer Entwurf einer Stunde in der biblischen Gesprächsgruppe
6.1.1. Begründung des Themas und der Methodenwahl
6.1.2. Grob- und Feinziele der Gruppenstunde
6.1.3. Methode und Ablauf
6.1.3.1. Einstieg / Begrüßung
6.1.3.2. Aufwärmphase
6.1.3.3. Hinführung zum Thema
6.1.3.4. Übungen / Spiele / Schritte mit Begründung
6.1.3.5. Höhepunkt
6.1.3.6. Schluß, evtl. mit Auswertung durch die Gruppe
6.1.4. Medien
6.1.4.1. M1 - Meditation zum Thema „Schale“
6.1.4.2. M2 - Gebet
6.1.4.3. M3 - Einleitung
6.1.4.4. M4 - Arbeitsblatt „Die Höhle des Löwen...“
6.1.4.5. Exegetische Überlegungen und Verkündigungsinhalte
6.1.4.5.1. Vers 1-3
6.1.4.5.2. Vers 4-10
6.1.4.5.3. Vers 11-18
6.1.4.5.4. Vers 19-24
6.1.4.5.5. Vers 25-29
6.1.4.5.6. Bezug zum NT
6.1.4.6. Zentrale Aussagen
6.1.4.6.1. Ein Aufsteiger, der „auf dem Teppich bleibt“
6.1.4.6.2. Von der positiven Macht „frommer Gewohnheit“
6.1.4.6.3. Gott bewahrt seine Leute nicht vor, aber in der Bedrängnis
6.1.4.7. M6 - Abschlußfragen

7. Anhang C
7.1. Interviews in der Justizvollzugsanstalt
7.1.1. Grundsätzliches zu den durchgeführten Interviews
7.1.2. Gespräch 1 (Strafgefangener A)
7.1.3. Gespräch 2 (Strafgefangener B)
7.1.4. Gespräch 3 (Gefängnispfarrer)

1 Einleitung

Christus spricht: „Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.“[1]. Wie sehr denken wir wirklich an die, die im Gefängnis einsitzen? Wie oft besuchen wir Strafgefangene, auch wenn sie nicht zu unserem Verwandten- oder Bekanntenkreis gehören, mit wie vielen stehen wir im Briefkontakt? Wie sehr berücksichtigen wir sie in den Gemeinden im Gebet[2] ?

Man kann es immer wieder beobachten, wie wenig Bewußtsein in den unterschiedlichsten Lebensbereichen, vor allem auch kirchlichen Institutionen oder Gemeinden überhaupt, für Strafgefangene und ihrer Situation vorhanden ist.

In meinem Heimatort Celle wurde ich durch ein Gemeindeglied meiner Gemeinde, welcher als Bewährungshelfer tätig war, auf die Einrichtung des „Schwarzen Kreuzes e.V. – Gefangenenmission“[3] aufmerksam. Während eines studienbegleitenden Praktikums hatte ich die Möglichkeit, in der Justizvollzugsanstalt Hohenasperg, welche ein Justizvollzugskrankenhaus mit Psychatrie, Drogen-, Sucht- und Sozialtherapie ist, eine biblische Gesprächsgruppe zu leiten. Die Gruppe stand in der Trägerschaft der Evangelischen Gefangenenseelsorge der Württembergischen Landeskirche und unter der Anleitung des Gefängnispfarrers. In dieser Gesprächsgruppe hatte ich erstmalig näheren Kontakt zu Inhaftierten und ihrer persönlichen Situation. Während der Arbeit mit ihnen stellte sich mir häufig die Frage, wie kann man sie mit biblischen Inhalten vertraut machen und wie können sie durch das Evangelium für sich Befreiung und Versöhnung erfahren, wo doch gerade bei Ihnen die Schuldfrage zentrales Thema ist.

Während meines sozialpädagogischen Praxissemesters hatte ich ferner die Möglichkeit, die Arbeit mit Straffälligen näher kennenzulernen und weitere Erfahrungen zu sammeln. Für sechs Monate absolvierte ich das Praktikum in der Sozialberatung Ludwigsburg e.V. für Straffälligenhilfe, betreute eine Wohngruppe mit ehemals Inhaftierten, führte Erstberatungsgespräche mit Inhaftierten in der JVA durch, in der ich die biblische Gesprächsgruppe leitete, und war tätig in der Kontakt- und Anlaufstelle der Sozialberatung mit den dort vielfältig in der Betreuung Straffälliger vorhandenen Aufgaben.

In meiner Arbeit sind mir diese Menschen besonders wichtig geworden, die am Rande der Gesellschaft stehen, meist mit ihren oft zahlreichen Problemen alleingelassen, beziehungsarm und ausgestoßen.

Aus meinem christlichen Hintergrund heraus ist es mir ein Anliegen und Bedürfnis mit dieser Arbeit aufzuzeigen, was die Besonderheiten straffälliger Menschen sind, was für Zusammenhänge aus der Lebensgeschichte und Umwelt zu erkennen sind, auf was man im Umgang mit Straffälligen, insbesondere aus religionspädagogischer Sicht, achten sollte. Es geht mir darum aufzuzeigen, wie diese Menschen durch die froh- und heilmachende Botschaft des Evangeliums für sich persönlich eine neue Lebenshoffnung erfahren können auf dem Hintergrund der Vergebung ihrer Schuld, und was religionspädagogisch zu beachten und zu bedenken ist im Umgang mit dieser Personengruppe. Diese Arbeit soll insbesondere eine Hilfestellung für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter in der Straffälligenhilfe, in der Gefängnisseelsorge sein, die mit delinquenten Menschen religionspädagogisch arbeiten bzw. arbeiten möchten.

Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit möchte ich die Aspekte der Strafe, des Sinn und Zwecks von Strafe, nur am Rande behandeln, auch wenn es im Kontext der Arbeit ein Hauptthema sein könnte. Es kommt mir vielmehr auf den „inneren“ Menschen an, seine Emotionalität, besonders im Spannungsfeld von Freiheitserfahrungen innerhalb der Gefängnismauern. Ich möchte den Blickwinkel auch nicht auf eine bestimmte Altersgruppe beziehen, jedoch zu bedenken geben, dass Delinquenz hauptsächlich im Jugendlichen oder jungen Erwachsenenalter auftritt[4] und ich diese Personengruppe primär im Blickfeld habe. Jedoch halte ich meine Untersuchungen und Ergebnisse nicht primär für altersspezifisch, da es hier um Delinquenz als solche geht. Ferner habe ich aus demselben Grund Devianzuntersuchungen nahezu unberücksichtigt gelassen.

Die im Anhang C aufgeführten Interviews sollen die vorliegende Arbeit illustrieren, Einzelaspekte der Arbeit unterstreichen, womit ich jedoch keinen Wissenschaftscharakter erhebe. Sofern ich in der Arbeit nur in einer männlichen Geschlechtsform spreche, so möchte ich damit die weibliche Geschlechtsform nicht ausklammern; diese sind in gleicher Weise gemeint.

2. Delinquente Menschen

2.1. Einführende Gedanken zu delinquenten Menschen und ihrer Situation

Der Mensch hinter Gittern – abgeschirmt von der Öffentlichkeit, sich selbst überlassen mit seiner Einsamkeit, mit seinen Verletzungen, mit seiner Schuld, mit seinen Wünschen, mit seiner Sexualität, mit seiner Sehnsucht nach dem, was Leben in Freiheit heißt.

Wer gegen die Rechtsordnung verstößt und verurteilt wird, landet unter bestimmten Umständen im Knast. Es heißt Abschied nehmen von Familie und Freunden, von der gewohnten Umgebung, vom evtl. vorhandenen Arbeitsplatz. Es heißt sofortige Umstellung auf eine andere Welt, in der eine andere Sprache und ein ganz eigener Tagesrhythmus gilt.

Die Situation in unseren deutschen Justizvollzugsanstalten ist weniger als ideal. Überfüllte Anstalten, wenige Sozialarbeiter, nur selten wird sozialtherapeutisch mit Gefangenen gearbeitet, Gefängnispfarrer, Straffälligenhilfeinstitutionen und christlich-diakonische Einrichtungen wie z.B. das Schwarze Kreuz (Gefangenenmission) können nur punktuell Hilfestellung geben.

Was sind das für Menschen, die hinter Gittern sitzen, von denen wir gewiß sein können, dass auch sie Gott liebt? Wie sehen die Biografien delinquenter Menschen aus? Was ist das Besondere an ihnen? Gibt es Kausalzusammenhänge für Delinquenz, wie äußern sich diese bzw. was sind deren Folgen? Diese und weitere Fragen möchte ich im nachfolgenden näher untersuchen, wobei zunächst einige Begriffe zu klären sind:

2.1.1. Begriffsdefinitionen

Delinquent (lat.) bedeutet straffällig, verbrecherisch. Delinquent ist jemand, der straffällig geworden ist.[5]

Unter Delinquenz (delinquentes Verhalten, Dissozialität) versteht man eine Verhaltensstörung mit stark aggressivem, antisozialem, teilweise kriminellem Charakter. In der Pädagogik wird in einem behaviouristischen Ansatz verdeutlicht, dass man unter Delinquenz (von lat. delinquentia = Vergehen) ein abweichendes, vom Gesetz unter Strafe gestelltes Verhalten bzw. die Disposition dazu versteht.[6]

Damit von einer Straftat, die der delinquente Mensch begangen hat, gesprochen werden kann, muß die Tat oder die Unterlassung einem rechtlich definierten Straftatbestand entsprechen. Ferner muß dem Täter die Verantwortung für die Tat zugeschrieben werden, was wiederum Strafmündigkeit und die Annahme voraussetzt, der Täter hätte anders handeln können, und ein anderes Handeln wäre ihm zumutbar gewesen.[7]

Strafmündigkeit meint die strafrechtliche Verantwortlichkeit (Schuldfähigkeit), d.h. die Möglichkeit strafrechtlich belangt zu werden. Dies ist gesetzlich verankert im Strafgesetzbuch und im Jugendgerichtsgesetz und in folgende Stufen unterteilt:

- bis 14 Jahre schuldunfähig und somit strafunmündig,[8]
- 14 – 17 Jahre bedingt strafmündig, d.h. ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln,[9]
- ab 18 Jahre strafmündig.

Der im Zivilrecht bestehende Begriff der Deliktsfähigkeit[10], welcher die zivilrechtliche Verantwortlichkeit für Schadenszufügungen meint und in verschiedene Stufen unterteilt ist, soll hier nicht näher untersucht werden, da hier nur straffällig gewordene Menschen ins Blickfeld genommen werden sollen.

Der Begriff Sühne, der später in einer Untersuchung von Delinquenten nochmals erörtert wird, ist ein religiös-ethischer u. juristischer Begriff für die Wiedergutmachung von Schuld. In den Strafrechtstheorien gibt es unterschiedliche Auffassungen über den Sinn von Strafe; früher stand die Sühne im Vordergrund, heute die Resozialisierung,[11] wobei wir hier meiner Meinung nach erst im Anfangsstadium stehen. Der Begriff der Sühne meint einen Ausgleich von sittlicher Schuld durch Bekehrung, aktive Sühne und Wiedergutmachung. Schuld soll man durch Reue und Wiedergutmachung im Rahmen des einem Möglichen zu tilgen versuchen. Zur Definition des Begriffs aus religionswissenschaftlicher, biblischer und systematisch-theologischer Sicht verweise ich auf meine Ausführungen in Kapitel 4.

Der zuvor genannte Begriff der Schuld kann aus den verschiedenen Disziplinen unterschiedlich erklärt werden: Im Privatrecht bedeutet sie die Verpflichtung einer Person zu einer Leistung; im Strafrecht der Vorwurf an den Täter, sich trotz der Einsicht in das Unrecht seiner Tat nicht gesetzestreu verhalten zu haben.[12] Unter Schuld versteht man im Straffälligenzusammenhang die Haftbarkeit für eine Tat, die man begangen hat, und für die sich aus ihr ergebenden Folgen denjenigen gegenüber, denen man durch sein Schuldigwerden Unrecht getan hat. Zur Definition des Begriffs aus biblisch-theologischer Sicht verweise ich auf meine Ausführungen in Kapitel 4.

Der im Zusammenhang stehende Begriff des Gewissens meint die Fähigkeit des Menschen, ethische Werte zu erkennen. Gewissensfreiheit ist dabei das Recht des einzelnen, nach eigenem Gewissen zu entscheiden.[13]

2.1.2. Lebensalter und Delinquenz

Wie ich bereits einleitend erwähnte, möchte ich in dieser Arbeit insbesondere delinquente Menschen im jungen Erwachsenenalter im Blickfeld haben, wobei ich andere Altersgruppen nicht ganz ausschließen möchte. Die Konzentrierung auf das junge Erwachsenenalter resultiert daraus, dass in diesem Alter am häufigsten Delikte auftreten und Personen dieses Alters somit am wahrscheinlichsten in der religionspädagogischen Arbeit erscheinen werden, wie die nachfolgende Tabelle[14] zeigt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1.3. Die Situation des gefangenen delinquenten Menschen

2.1.3.1. Stigmatisierung

Wer in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) inhaftiert ist und somit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, wird von der Gesellschaft als „Krimineller“, als „Übeltäter“ eingestuft und erhält damit einen dauerhaften Makel oder ein dauerhaftes Etikett, ohne dass man sich eingehender mit den näheren Umständen, die zur Tat und dann zur Inhaftierung führten, auseinandersetzt. Dem Bekanntwerden krimineller Taten, einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung, der Auferlegung einer Geldstrafe oder auch der Verhängung von Bewährungsstrafen wird längst nicht eine so große Gewichtung beigemessen.[15]

2.1.3.2. Isolierung

Der inhaftierte Mensch kann seine bisherigen Beziehungen nur noch drastisch eingeschränkt leben, oftmals müssen bisherige Bindungen vollständig aufgegeben werden.[16]

2.1.3.3. Abhängigkeit

In einer kaum vorstellbaren Weise wird der inhaftierte Mensch abhängig von anderen Personen, insbesondere Vollzugsbeamten, die zu bestimmen haben, ob und wann er seinen Haftraum verlassen darf, ob ein Brief befördert wird, ob ein Gespräch stattfindet, ein Wunsch erfüllt wird und vieles mehr. Er wird auch abhängig von seinen Mitgefangenen, wie ich während meines Praktikums erfahren habe. Unter dem Gruppendruck Mitgefangener ist er der Gemeinschaft mit ihnen ausgesetzt und kann sich ihr selten entziehen.[17]

2.1.3.4. Individualitätsverlust

Das Leben von Individualität ist bei einheitlicher Gefangenenkleidung und dem nahezu vollständigen Verzicht auf den Besitz persönlicher Gegenstände kaum noch möglich.[18]

2.1.3.5. Infantilisierung

Einerseits hat der Inhaftierte kaum die Möglichkeit, selbst Entscheidungen zu treffen, etwas zu unternehmen oder den Tagesablauf zu gestalten. Der Tagesablauf ist reglementiert, was für viele bedrückend sein kann, andererseits ist es aber auch bequem, versorgt und geführt zu werden. Insbesondere lange Haftzeiten machen Gefangene verhaltensunsicher und unselbständig, worauf später noch näher eingegangen wird. Außer in besonderen JVA’s mit z.B. sozialtherapeutischen Ansätzen lernen die Gefangenen nicht, die täglichen Anforderungen des täglichen Lebens in Freiheit zu bewältigen.[19]

2.2. Lebensgeschichtliche Bedingungen für Delinquenz

Über die Entstehung der Delinquenz herrscht in den verschiedenen Delinquenztheorien keine einheitliche Auffassung. Von einigen Autoren wird ein Zusammenhang mit Erbanlagen, bestimmten Körperbau- und Persönlichkeitsmerkmalen (z.B. Extraversion[20], Überaktivität) angenommen. Die Ursachen der Delinquenz dürften jedoch in den meisten Fällen vor allem in ungünstigen Familienverhältnissen und in einer falschen Erziehung (u.a. bei Ablehnung und Zurückweisung des Kindes, aggressiver Gereiztheit und wechselhaftem Verhalten der Eltern, Beschränkung ihrer Aufmerksamkeitszuwendung auf Bestrafung) zu suchen sein. Aber auch die „Erziehung“ in Heimen hat nicht selten ähnliche Wirkungen.

Der Delinquenz entgegen wirkt vor allem der Aufbau einer tragfähigen sozialen Beziehung, die Bindung an eine Gruppe und die Veränderung des oben geschilderten negativen elterlichen Erziehungsverhaltens.[21]

In der Untersuchung der lebensgeschichtlichen Bedingungen, unter denen Menschen aufwachsen und später delinquent werden, ist auffallend, dass sie in der frühen Kindheit wie im weiteren Verlauf ihres Lebens – zum Teil schwerste – Verlust- und Mangelerfahrungen durchgemacht haben.[22] Wiesnet und Gareis führten umfangreiche empirische Untersuchungen zum Kontext von lebensgeschichtlichen Bedingungen für Delinquenz mit frühgeschädigten und nichtgeschädigten Jugendlichen durch, die im nachfolgenden dargestellt werden sollen.

2.2.1. Sozialisationsbedingungen

Die eingangs erwähnten Verlust- und Mangelerfahrungen werden in den empirischen Untersuchungen bestätigt. Diese sog. Deprivationstheorie betrachtet delinquentes Verhalten als Folgeerscheinung früherer Erziehungsstörungen und –defizite innerhalb der einzelnen Familie. Es zeigte sich, dass die jugendlichen Delinquenten im Vergleich mit nichtkriminiellen Jugendlichen in einem erheblich höheren Umfang mit massiven Sozialisationsdefiziten und –problemen belastet sind.[23] Während zwei Drittel der jugendlichen Rechtsbrecher im Alter von 17 – 23 Jahren aus strukturell unvollständigen Familien kommen, ist dies in der Gesamtbevölkerung nur bei jedem sechsten Jugendlichen zu beobachten; die Belastung der Straffälligen ist also vier Mal so hoch wie die der Nichtstraffälligen.[24]

Die Durchschnittsbelastung im Hinblick auf eine uneheliche Geburt ist ebenfalls vier bis fünf Mal überhöht. Jeder dritte Straffällige lebte in einer geschiedenen oder getrennten Ehe, jeder vierte war vom Tod eines Elternteils betroffen. Jeder zweite mußte mit der periodischen oder dauernden Abwesenheit des Vaters fertig werden, jeder fünfte mit der der Mutter.[25] Hierzu im nachfolgenden nähere Ausführungen.

2.2.2. Multiple Erziehungsformen und -bedingungen

Unabhängig von einer strukturellen Unvollständigkeit war jeder zweite Jugendliche einer teilweisen ausgeprägten Sozialisationsunfähigkeit in einer Multiproblemfamilie ausgesetzt. Sechs von zehn Jugendlichen konnten entweder ihre gesamte Kindheit oder zumindest einen erheblichen Teil davon nicht bei ihren Eltern verbringen, sondern mußten multiple Formen der Fremderziehung hinnehmen. Bei ebenso vielen war ihre Geburt für die Mutter ein ausgesprochen unerwünschtes Ereignis mit allen daraus erwachsenden Folgelasten für das Kind. Nur vier von zehn waren erwünschte Kinder, deren Erziehung sich die Mutter anschließend mit Engagement gewidmet hat.[26]

Wenn man die zuvor genannten Faktoren synoptisch gegenüberstellt, kann festgestellt werden, dass fast neun Zehntel aller untersuchten Inhaftierten eine deutliche „Broken-Home-Belastung“ als sozialen Hintergrund aufweisen. Eine strukturell und funktional intakte Familie liegt nur in 15 % aller Fälle vor![27] Der Anteil der Befragten, die durch eine Mutterdeprivation (totale Mutterentbehrung) geschädigt waren, hatte zu 80 % eine lange „Heimkarriere“ durchlaufen. Das sozial Normale wird zur Ausnahme – die soziale Katastrophe wird zum Regelfall. Somit muß hier von einer krassen „Unterprivilegierung“ an Lebenschancen gesprochen werden.[28]

In einer ähnlichen Untersuchung kommt Manfred Zeidler in seinem Forschungsbericht zur Delinquenz zu gleichgelagerten Ergebnissen: In den Untersuchungen bestätigt sich seine Hypothese, dass straffällig gewordene Kinder im Gegensatz zu nicht straffällig gewordenen Kindern häufig die folgenden Merkmale besitzen: Scheidung der Eltern, Nicht-Anvertrauen-Können an die Mutter, fehlende Beaufsichtigung durch den Vater, fehlende Bindung an die Mutter, schlechte finanzielle Lage der Eltern sowie unterschiedliche Erziehung der Eltern.[29] Der Defizitpunktwert in der Kindheit liegt bei straffällig gewordenen Kindern höher als bei nicht straffällig gewordenen.[30]

Auch in der Jugend (14 – 18 Jahre)[31] gibt es ähnliche Ergebnisse: Straffällig gewordene konnten oftmals nicht ihren Wunschberuf realisieren, es gab dirigistische Eingriffe von Erziehungspersonen auf die Berufswahl und es kam zu Lehrabbrüchen.[32] Ebenso besitzen in der Kindheit straffällig gewordene Personen einen höheren Jugenddefizitwert.[33]

2.2.2.1. Familiäre Auslöse-Situationen für frühkindliche Schädigungen

Die zuvor genannten Bedingungen, insbesondere die Folgen hinsichtlich von Delinquenz, frühkindlicher Vernachlässigungsschäden können in der Praxis auf einige, konkret umrissene familiäre Situationen, den bereits angesprochenen sog. „Broken-Home-Faktoren“, zurückgeführt werden, dazu nähere Erläuterungen aus den Untersuchungen von Wiesnet und Gareis:[34]

2.2.2.1.1. Unvollständige Familie

Hierbei ist nicht so sehr die „strukturelle“ Unvollständigkeit der Familie entscheidend, sondern eher die sog. „funktionale“ Unvollständigkeit, womit die Gestörtheit verschiedenster Art, Zerrüttung oder Auflösung des inneren Harmoniefaktors gemeint ist.[35]

2.2.2.1.2. „Uneheliche“ Geburt

Die Bedeutung dieses Faktors liegt nicht in dem punktuellen Ereignis der Geburt und ihrer besonderen sozialen Umstände, sondern vielmehr in den negativen, sozialen Folgeerscheinungen für das Kind“![36]

2.2.2.1.3. Scheidung (Verwaisung)

Hierbei geht es ebenso nicht so sehr um das punktuelle Ereignis der Scheidung, also in der formalen Trennung der Eltern. Die Hauptbelastung liegt vielmehr in der Regel in den oft langjährigen, der Scheidung vorausgehenden familiären Zerrüttungen und Streitigkeiten. Die Atmosphäre der Zerrüttung, das Leben in dauernden Konflikten bieten für das Kind keinen sozialen Stabilisierungsfaktor mehr.[37]

2.2.2.1.4. Multiproblemfamilie

Unter diesem Sammelbegriff sind eine Reihe von weiteren familiären Problemkonstellationen zusammengefaßt, die in der Regeln nicht isoliert, sondern vielmehr in gegenseitiger Abhängigkeit und Überschneidung auftreten, wie z.B. Alkoholismus, Kriminalität, Asozialität usw.[38]

2.2.2.1.5. Erziehungsunfähigkeit

Auch die Eltern dieser Multiproblemfamilien sind vielfach aufgrund ihrer eigenen belasteten Biographie sowie aufgrund ihrer häufigen Herkunft aus der sozialen Unterschicht selbst nur mit wenig psychosozialer Reife und Stabilität ausgestattet. Diese soziale Behinderung wird durch eine sich daraus ergebende, oft ausgeprägte Erziehungsunfähigkeit auf die nächste Generation weitertradiert.[39]

2.2.2.1.6. Fremderziehung

Hierbei sind eine ganze Reihe von Ersatzerziehungen zu verstehen. Die Sozialisationsqualität dieser verschiedenen Fremderziehungen muß jedoch gesehen werden, wenn man z.B. die Großelternerziehung einer Pflegestellenerziehung gegenüberstellt. Die Großelternerziehung ist häufig geprägt durch übermäßiges Nachgeben und ungenügende Forderungen, welches der mangelnden Frustrations- und Leistungstoleranz Vorschub gewährt. Dagegen ist die Pflegestellenerziehung durch häufige Pflegeplatzwechsel und damit verbundene Kontaktabbrüche problematisch und es kann sich somit häufig keine Dauergeborgenheit einstellen. Auch die Erziehung des Stiefvaters oder der Stiefmutter sind typische Formen der ergänzten, unvollständigen Familie und dann problematisch, wenn sich keine positive Beziehung zwischen Kind und Stiefelternteil aufbauen kann, wobei die Folge eine Reihe von Benachteiligungen und Vernachlässigungen sein kann.[40]

2.2.2.1.7. Heimeinweisung

Weiter oben habe ich die Folgen des frühkindlichen Hospitalismus erwähnt, welcher in besonderem Maße für Kinder und Jugendliche gilt, die ihre „Heimkarriere“ bereits im Säuglingsheim beginnen. Das fehlende Sozialisationsangebot der Heime, hier besonders die Verarmung an emotionaler Zuwendung sowie an sensorischen, kognitiven, aber auch sozialen Eindrücken und der überdurchschnittlich häufige Wechsel der Erziehungsstellen und Bezugspersonen, führt bei den meisten der betroffenen Kinder zu chronischen Störungen der Bindungs- und Liebesfähigkeit, zu multiplen Formen einer retardierten Entwicklung.[41]

2.2.2.1.8. „Unerwünschte“ Geburt

In der Untersuchung über den emotionalen Faktor der inneren Einstellung der Mutter zur Geburt des Kindes zeigte sich, dass die jugendlichen Rechtsbrecher nur ein Viertel bis ein Fünftel der lebenswichtigen Start-Chancen gegenüber Nicht-Kriminellen hatten, von ihrer Bezugsperson geliebt, in emotionaler Geborgenheit, die Lernprozesse der frühkindlichen Phase zu absolvieren.[42]

2.2.3. Folgen defizitärer Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

In der unterscheidenden Variable der Mutterferne in der frühen Kindheit zeigten sich bei den Vergleichsgruppen gerade im Hinblick auf die Faktoren des Schulderlebens und der erlebten Gewissensreaktionen deutliche Unterschiede. Die Gruppe der Frühgeschädigten wiesen in beiden Faktoren auf ihr kriminelles Verhalten ein unübersehbares, großes Defizit an positiven Bewertungen und Erlebnissen auf. Im subjektiven Erleben hat diese Gruppe entschieden weniger Schuldgefühle und entsprechende Gewissensreaktionen! Ihrer subjektiven Schuld an ihrem kriminellen Verhalten ist sich die Gruppe der Frühgeschädigten erheblich weniger bewußt als die Vergleichsgruppe der Nichtfrühgeschädigten.[43]

Diese Untersuchungsergebnisse stehen in bestätigendem Zusammenhang der verschiedenen entwicklungspsychologischen Theorien. Die frühkindliche Phase wird als eine Periode intensivsten sozialen Lernens charakterisiert, mit Langzeitwirkung der vollzogenen prägungsähnlichen, psychosozialen Erfahrungen für das ganze weitere Leben und zeigt sich als erste Schlüsselphase der menschlichen Sozialisation.[44] So kann sich bei Defiziten in der oralen und analen Phase nach Freud eher ein Grundmißtrauen und eine negative Lebensgrundeinstellung in der psychosozialen Phase nach Erikson ausbilden. In der phallischen und ödipalen Phase nach Freud (ca. 18 Lebensmonat bis 6. Lebensjahr) bilden sich nach Erikson eher Scham und Zweifel als Autonomie aus. Während sich in der Latenzzeit nach Freud (ca. 6. bis 13. Lebensjahr) eher Minderwertigkeitsgefühle herausbilden können. In der nach Freud genitalen Phase (ca. 13. bis 20. Lebensjahr) können sich bei einer defizitären Entwicklung eher Gefühle der Rollendiffusion anstatt der Identitätsfindung herausbilden und als junger Erwachsener (20. bis ca. 45 Lebensjahr) eher die Isolierung im Vordergrund stehen.[45]

Alle späteren Lebenssituationen werden weitgehend nach dem Modell der frühkindlichen Lernerfahrung bewältigt. Für die hier zu behandelnde Personengruppe der delinquenten Menschen sind vor allem die positiven Prägungen in der frühen Kindheit zu nennen, die aufgrund der durchgeführten Untersuchungen durch die genannten Defizite Mängel aufweisen: Bindungsfähigkeit, emotionale Grundstimmung, soziale Sensibilität, Gemüt und Freundlichkeit – ebenso aber auch Qualitäten wie: Energie und Durchhaltevermögen, optimistische Gestaltungskraft, seelische Stabilität und Belastbarkeit. Es lassen sich zwei soziale Grundfähigkeiten als frühkindlich erworbenes „Startkapital“ hervorheben: Die Fähigkeit, intensive und andauernde zwischenmenschliche Beziehungen herzustellen, und die Fähigkeit, auch über längere Zeit hinweg ein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und es schließlich zu erreichen.[46] Die verminderte Fähigkeit dieser beiden Bereiche konnte ich ebenfalls stets in meiner Arbeit mit Straffälligen beobachten, die einerseits Schwierigkeiten hatten, Beziehungen einzugehen, sie zu vertiefen und dauerhaft zu gestalten, ferner war das Durchhaltevermögen derart gering, dass sich häufig nach kurzer Zeit erneute Arbeitslosigkeit einstellte und kürzlich erarbeitete Lebenserwartungen und –vorstellungen wieder fallen gelassen wurden.

2.2.3.1. Frühkindliche Schädigungssymptome

Heute ist ein ganzer Symptom-Katalog frühkindlicher Sofort- oder Spätschädigungen aufgrund emotionaler Vernachlässigung bekannt, auf die hier nachfolgend nur kurz eingegangen werden soll.[47] Überblickt man den nachfolgenden Symptomkatalog, so zeigt sich, dass Entbehrungen im sozialen Gefühlsaustausch der frühen Jugend irreparable Verödungen der Kontaktfähigkeit und der gesamten gefühlsmäßigen, sozialen und sexuellen Entwicklung hinterlassen. René Spitz betont in diesem Zusammenhang wiederholt die Konsequenzen seiner Beobachtungen über die Hospitalismus-Problematik in ihren verschiedenen Varianten: „Das Elend ihrer Kindheit offenbart sich in der Verarmung ihrer menschlichen Beziehungen [...] so werden sie haßerfüllte, verwahrloste Jugendliche – am Ende dieses Weges steht das Verbrechen!“[48]

2.2.3.1.1. Soziale Resignation

Das vernachlässigte Kind, später der Jugendliche, zeigt einen chronischen Zustand sozialer Resignation, Mutlosigkeit und Schüchternheit. Aus mangelndem Gefühl der „Nestwärme“ konnte sich kein Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein ausbilden. Anstattdessen wird das Gefühl der Fremdheit, Unerwünschtheit und Überflüssigkeit erlebt. Das empfangene Mißtrauen und die ihm entgegengebrachte Gleichgültigkeit werden nun als Apathie und Resignation in die Umwelt produziert. Das Mißtrauen generalisiert sich dabei über die Eltern hinaus auf alle Menschen.[49] In meiner praktischen Tätigkeit mit Straffälligen hat es ebenfalls zunächst eine längere Zeit gedauert, bis eine nahezu vertrauensvolle Beziehungsebene zwischen mir und meinen delinquenten Klienten entstanden ist, das eingangs entgegengebrachte Mißtrauen, Skepsis und eher verhaltene Entgegenkommen war oftmals ausgeprägt zu erleben.

2.2.3.1.2. Bindungsunfähigkeit

Zum einen die durch Zurückweisung von seiten der Umwelt produzierte soziale Resignation, andererseits die dadurch ausfallenden Kontakt-Lernprozesse (erlittener Zuwendungsverlust von Heimkindern ca. 1000 Stunden!) blockieren für die Folge die Fähigkeit des Kindes und späteren Jugendlichen bzw. Erwachsenen, intensivere und dauerhafte menschliche Beziehungen zur Umwelt aufzubauen.[50] Aufgenommene Beziehungen sind meist überladen mit unrealistischen Erwartungen, und andere Menschen sind für sie in der Regel nur „Mittel zum Zweck“. Ein solcher Beziehungsstil resultiert aus der Lernerfahrung, dass andere Menschen für sie nur von Bedeutung sind, solange sie die Erfüllung ihrer Wünsche nach Zuwendung, Unterstützung und Ansehen garantieren.[51] Der Aufbau von Sozialkontakten war auch in meiner Praxis mit delinquentem Klientel immer wieder Thema und es zeigte sich immer wieder, dass Schwierigkeiten im Aufbau von Beziehungen in ausgeprägtem Maße bestanden.

2.2.3.1.3. Mangelnde Frustrationstoleranz

Da eine Widerstandsfähigkeit gegen Frustrationen nur auf der Basis eines emotionalen Sicherheitsgefühls aufgebaut werden kann, lassen sich als weiteres Ergebnis der erlittenen, seelischen Verarmungssituation mangelnde Frustrationstoleranzen feststellen. Sie äußern sich in einer ängstlichen Scheu vor Auseinandersetzungen, Anstrengung und Unlustgefühlen.[52]

2.2.3.1.4. Neigung zu Ersatzhandlungen

Als eine der häufigsten Ersatzhandlungen deprivierter Kinder läßt sich die Interessenverlagerung vom Menschen auf materielle Dinge beobachten. Hieraus läßt sich später auch die überdurchschnittliche Suchtanfälligkeit erklären.[53]

2.2.3.1.5. Aktivitätshemmung

Als Zentralsymptom einer Deprivationsschädigung zeigt sich in der dafür typischen und bereits erwähnten Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit gegenüber Menschen. Diese Zentralschädigung läßt sich auch auf dem Gebiet der Aktivität, des Spiels usw. beobachten. Die Fähigkeit, Ziele langfristig im Auge zu haben und kontinuierlich zu verfolgen, geht verloren. Daher ist Arbeitsplatzwechsel bei frühgeschädigten kriminellen Jugendlichen dreimal so oft beobachtbar wie bei Nicht-Kriminellen.[54]

2.2.4. Delinquenz als Prestigemanagement

Die vorangegangenen Untersuchungen haben die verschiedenen Ursachen für delinquentes Verhalten, insbesondere in der Entwicklung und der Umwelt begründet liegende Faktoren, aufgezeigt. Stroebe u.a. lassen eine strategische Komponente hinzutreten. Aufgrund sozialpsychologischer Studien ergibt sich ein Bild, das vermuten läßt, dass Delinquenz von Jungen zu strategischen Zwecken eingesetzt wird, um Prestige unter Gleichaltrigen zu gewinnen. Die Reputation als Delinquent kann als alternativer Weg zum Erreichen von Akzeptanz und Prestige betrachtet werden, wovon besonders Delinquente wie weiter oben aufgezeigt bei defizitärer Entwicklung ein besonderes Maß an Nachholbedarf aufweisen. Wenn dies so ist, so kann erwartet werden, dass delinquentes Verhalten auf Bewunderung stößt. Und das ist genau der Fall: Die meisten Kategorien delinquenten Verhaltens einschließlich Drogenmißbrauch, Diebstahl, Aggression, mutwillige Zerstörung wurden stets in Anwesenheit anderer begangen. Ebenso ist eine Gruppenorientierung besonders charakteristisch.[55]

Auch in der bei Oerter/Montada zitierten Entwicklungstheorie von Moffitt aus dem Jahre 1993 werden zwei Täterkategorien unterschieden: Zum einen die von der frühen Kindheit an kontinuierlich bis ins höhere Erwachsenenalter antisozialen Menschen und zum anderen die Jugenddelinquenten, die sich nur in der Jugend antisozial verhalten.[56]

2.3. Einzelne kontextuelle Theorieansätze zu Delinquenzuntersuchungen

Im nachfolgenden möchte ich noch auf einige Theorieansätze zu sprechen kommen, bevor ich mich eingehender mit der Psychodynamik delinquenter Menschen beschäftige:

2.3.1. Kognitive Dissonanz bei delinquenten Menschen

In der empirischen Untersuchung wurde die Gruppe der sozial Vorgeschädigten Jugendlichen auch nach ihrer persönlichen Einstellung und Erlebnisdichte über Gewissen, Schulderleben, Sühneverständnis und –erleben befragt. Bei den beiden zusammenhängenden Fragen nach einem persönlichen Gewissen und den dazugehörigen Schuldgefühlen kann das Phänomen der „kognitiven Dissonanz“ nach Festinger zwischen rationaler Beurteilung / Einsicht und emotionalem Erleben beobachtet werden.[57] Die Grundannahme dieser Theorie ist, dass der Mensch Inkonsistenz nicht ertragen kann und versuchen wird, diese zu eliminieren oder zu reduzieren. Nach dieser Theorie entsteht ein Zustand der Dissonanz, sobald eine Person gleichzeitig zwei kognitive Vorstellungen hat, wie hier zuvor erwähnt. Da diese Dissonanz ein unangenehmer Zustand ist, wird das Individuum bemüht sein, diese zu verringern und stärkere Konsonanz zu erreichen.[58] Dies kann durch die Technik der Schuldabwälzung geschehen.

2.3.1.1. Die Technik der Schuldabwälzung in der Schuld und im Schulderleben

In der vorgenannten Untersuchung bejahten acht von zehn Frühgeschädigten rational ihr Schuldigsein im Sinne der richterlichen Anklage. 60 % akzeptierten auch noch eine subjektive, strafrechtliche Verantwortung für ihre Tat. Bei der Frage nach dem eigentlichen „Schuldträger“ ihrer Straffälligkeit kam dann mehr ein emotionales Element zum Tragen, wobei sich erhebliche Unterschiede in den Vergleichsgruppen zeigten:

Während zwei Drittel der Frühgeschädigten die Hauptschuld ihrer Straftat den Menschen ihrer Umwelt zuschrieben, fand sich diese Schuldabwälzung nur bei einem Drittel der Nichtgeschädigten! Nur 20 % der Frühgeschädigten wiesen auf ihr Eigenversagen, auf eine persönliche Hauptschuld hin, während dies mehr als die Hälfte der Vergleichsgruppe tat. Somit scheint die Hauptform der Schuldbewältigung der Frühgeschädigten die Entlastungstechnik der Schuldabschiebung und Schuldprojektion in die Umwelt zu sein[59], worauf ich im Rahmen der Abwehrmechanismen später noch näher eingehen werde. Noch deutlicher werden die Unterschiede bei der Frage nach persönlichen Schuldgefühlen: Während nur ein Drittel der Frühgeschädigten personale Schuldgefühle bei sich feststellen konnte, bejahten solche Schuldgefühle 72 % der Vergleichsgruppe![60]

2.3.2. Das Phänomen der Gewissensatrophie

Eine Wiederholung der Grundtendenz aus dem vorigen Fragenkomplex über die Schuld des einzelnen ergab sich auch in dem mit dem Schuldthema im Zusammenhang stehenden Gewissen. Es ergeben sich bei der Frage nach dem Erleben des Gewissens die von der Schuldfrage her bekannten auffallenden Gruppenunterschiede zwischen Frühgeschädigten und Nichtgeschädigten. Somit muß festgestellt werden, dass der Großteil der frühgeschädigten jugendlichen Rechtsbrechern gewissensschwach, wenn nicht sogar gewissenslos ist.[61]

2.3.3. Anerkennung der Strafe

Innerhalb der Fragen nach Schuld und Gewissen nahm die Doppelfrage nach Anerkennung der Strafe überhaupt und Bewertung der konkreten Freiheitsstrafe eine Sonderstellung ein. Beide Gruppen bejahten in fast gleich hohem Maße (74 % und 84 %), dass der Staat als Rechtsinstanz richtig gehandelt habe. Dieser grundsätzlichen Bejahung steht die fast vollständige Ablehnung des konkret erlebten Strafvollzugs gegenüber, welche bei über 80 % liegt.

Eine Zusatzuntersuchung über die Haftwirkungen verdeutlichte dieses Bild: Zwei Drittel der abgegebenen Äußerungen beschrieben negative, vor allem psychosoziale Haftwirkungen, was die vielschichtige Problematik des gesellschaftlichen Strafinstruments „Freiheitsentzug“ deutlich macht. Wiesnet und Gareis dazu: „Das von der gesamten Gefängniskunde heute bestätigte „Psychosyndrom“ an negativen Nebenwirkungen der Haft hebt den positiven, pädagogischen Effekt wieder auf. Der jugendliche Gefangene verläßt aufgrund der subkulturellen Eigenart des Knastmilieus das Gefängnis in der Regeln in seinen Defiziten und Fehlhaltungen noch tiefer geschädigt, als er es betreten hat!“[62] Hierfür kann als Beweis die hohe Rückfallquote von ca. 70-80 % angesehen werden.[63] Diese Aspekte sind insbesondere im Hinblick auf meine späteren religionspädagogischen Ausführungen von Relevanz.

2.3.4. Der Fassadenbegriff der Sühne

In der genannten Untersuchung war zunächst der Begriff „Sühne“ als solcher problematisch. Er ist ähnlich negativ gefärbt wie die zuvor genannten Begrifflichkeiten und die Befragten konnten damit nur wenig anfangen. Nur knapp über 20 % brachten mit dem Begriff „Einsicht, Reue oder Wiedergutmachung“ in Zusammenhang.

Hingegen 64 % der Frühgeschädigten und 50 % der Vergleichsgruppe werteten diesen Begriff als negativ im Sinne von „Rache oder Strafübel“ und lehnten ihn als Fremdwort ohne Lebensbezug grundsätzlich ab.

Bezeichnenderweise ist die negative Bewertung des Sühnebegriffs durch die Gruppe der Frühgeschädigten erkennbar ablehnender als die der Vergleichsgruppe. Insgesamt kann aber gesehen werden, dass der Begriff „Sühne“ nicht nur rational von den jugendlichen Rechtsbrechern abgelehnt wird. Er scheint auch emotional so negativ verstanden zu werden, dass damit eine konstruktive Straffälligenhilfearbeit kaum erreichbar ist.[64]

2.3.5. Schuldtilgung und Wiedergutmachung

60 % bzw. 65 % der untersuchten Gruppen sahen das Absitzen der Gefängnisstrafe bereits als ausreichenden Schuldausgleich an. 32 % bzw. 20 % meinten, dass die Gesellschaft ihnen nach der Strafverbüßung noch etwas schulde! Nur jeder zehnte Gefangene ist hingegen der Meinung, nach Haftende der Gesellschaft noch einen Beweis für die bessernde Wirkung der Strafe in Form von resozialisiertem Verhalten schuldig zu sein![65] Nur vier von zehn Jugendlichen akzeptieren grundsätzlich die Sinnhaftigkeit einer Wiedergutmachungsleistung über den Knast hinaus, wobei meist soziale Hilfeleistungen zugunsten der Gemeinschaft der Schwachen und Benachteiligten genannt wurden.[66]

2.4. Die Psychodynamik des Delinquenten

2.4.1. Schuldgefühle bei Delinquenten

Die Betrachtung von Schuldgefühlen bei Delinquenten ist nicht dasselbe wie eine Erörterung des juristischen Schuldbegriffs, den ich in dieser Arbeit wie erwähnt größtenteils außer Betracht lassen möchte. Schuld im juristischen Sinn und menschliches Schuldgefühl sind zwei völlig verschiedene Kategorien, die man nicht ohne weiteres miteinander vergleichen kann. Ich möchte hier näher aufzeigen, inwieweit bei strafrechtlich Verurteilten Schuldgefühle vorhanden sind. Wenn dies der Fall ist, wie sie in Erscheinung treten und welche Bedeutung sie im Leben dieser Personengruppe haben.[67]

Von Straftätern im allgemeinen zu sprechen gestaltet sich eher schwierig, da diese Personengruppe zu heterogen ist; man betrachte nur die großen Unterschiede in der Straftat wie in der Persönlichkeitsstruktur[68]. Selbst in meiner eingangs erwähnten biblischen Gesprächsgruppe in der JVA mit zehn bis fünfzehn Personen reichte die Spanne von einfachen Diebstählen und Einbrüchen bis hin zur Ermordung von mehreren Familienmitgliedern, auch die Persönlichkeitsstrukturen waren von begabten, intellektuellen, auch religiös sozialisierten bis hin zu Menschen mit Psychosen, Menschen die eher verschlossen waren, vertreten.

Daher möchte ich mich hier auf Delinquente beschränken, die weder organisch krank sind, noch zur Gruppe der Oligophrenen[69] gehören.

2.4.1.1. Der Irrglaube, Straftäter seien unfähig, Schuldgefühle zu haben

Bevor ich mich mit dem Schuldgefühl Straffälliger näher auseinandersetzen möchte, muß man sich klar machen, warum sich der Irrglaube, Straftäter seien nicht in der Lage, Schuld zu fühlen und zu erleben, so beständig hält.

2.4.1.1.1. Wahrnehmung von Straftätern als Persönlichkeiten

Die Gesellschaft nimmt Straftäter erst seit kurzer Zeit als Persönlichkeiten wahr, auch wenn das Interesse an Verbrechen im weitesten Sinne seit jeher sehr groß war. Letzteres galt jedoch weniger den Personen, die die Tat begangen haben, sondern eher dem Reiz an der Sensation.[70]

2.4.1.1.2. Aggressive oder defensive Emotionalität der Gesellschaft

Die Gesellschaft fühlt sich durch das Verbrechen bedroht und reagiert deshalb emotional auf den Verbrecher; er gilt als Feind der Gesellschaft. Nur wer eine besondere Reife mitbringt, kann einem Feind objektiv gegenübertreten.[71]

2.4.1.1.3. Der Delinquente als Projektionsobjekt der Gesellschaft

Der englische Forscher J.C. Flügel wies 1948 auf einen weiteren Zusammenhang hin: In jeder Art und Größe von Gruppen und Gemeinschaften gibt es bis heute immer wieder das Bedürfnis, für die sie bedrängenden und schwer lösbaren Probleme einen Sündenbock zu finden. Es werden immer wieder Schuldige gefunden, die man verantwortlich machen kann. Es werden aber auch andere gesucht und gefunden, die angeblich schuld sind an allem. Wie für den Einzelnen, so ist es auch für die Gesellschaft einfacher, die Ursache von Versagen – die Schuld – nicht bei sich selbst, sondern bei anderen zu suchen und somit Gesetzesbrecher praktisch als Projektionsobjekt ihres eigenen Versagens zu mißbrauchen.[72]

2.4.1.1.4. Definitionsschwierigkeiten der Begriffe

Es wird oftmals von Schuld gesprochen, während man Reue und Bußwilligkeit meint. H.C. Rümke[73] unterscheidet den Begriff der „Schuldgefühle“ zwischen reifen und infantilen Schuldgefühlen. Reife Schuldgefühle entstehen durch einen Mangel an Geben von Liebe, infantile Schuldgefühle durch einen Mangel an empfangener Liebe. Das reife Schuldgefühl wurde von Rümke nicht oft beobachtet. Es geht in erster Linie um die Verarbeitung und nicht um die Tilgung von Schuld, wobei mit Verarbeiten Lernen, Schuld zu ertragen, gemeint ist.[74]

Reue bezeichnet ein quälendes Gefühl mit der Einsicht, falsch gehandelt zu haben, meist im Zusammenhang mit religiösen Überzeugungen. Mit der Buße wird versucht, mit Hilfe von Taten wiedergutzumachen, oft auch durch Leiden oder selbst auferlegte ethisch-religiöse Verpflichtungen.[75] Als neuere Modelle sind hier der Täter-Opfer-Ausgleich und Tatfolgenaufarbeitung anzuführen. Oftmals wird Reue und Bußwilligkeit gemeint, wenn von dem Fehlen von Schuldgefühlen bei Straffälligen gesprochen wird. Ein Gefühl als Antwort auf ein begangenes Unrecht stellt die Umgebung nicht zufrieden. Man möchte Taten sehen oder zumindest Leid als Folge von zugefügtem Leid, wobei auch das Schuldgefühl schon viel menschliches Leid beinhaltet, aber oft für den Außenstehenden größtenteils nicht sichtbar ist.[76]

2.4.1.2. Die Abwehr von Schuldgefühlen bei Delinquenten

Wie bereits der zuvor behandelte Abschnitt deutlich machte, spielt bei Delinquenten die Abwehr von Schuldgefühlen eine große Rolle. Auch in meiner biblischen Gesprächsgruppe in der JVA war das Thema der Schuld und der damit verbundenen Schuldgefühle immer wieder Gesprächsgegenstand. Wie kann ich mit meiner auf mich geladenen Schuld fertig werden, die zermürbenden Schuldgefühle loswerden, wenn schon die Tat nicht mehr rückgängig zu machen ist?

2.4.1.2.1. Tiefenpsychologische Erkenntnisse über die Verborgenheit von Schuldgefühlen

Erst heute wissen wir aus den Erkenntnissen von Tiefenpsychologie und dynamischer Psychiatrie, dass Schuldgefühle tief verborgen hinter einer Maske von Abwehr liegen können, so dass Außenstehende davon nichts merken. Daher ist nicht verwunderlich, dass es in früheren Untersuchungen nicht möglich war, diese verborgenen Schuldgefühle zu entdecken.[77]

2.4.1.2.2. Exkurs: Abwehrmechanismen des Ichs

S. Freud versucht individuelle Unterschiede der Persönlichkeit dadurch erklären zu können, dass Menschen mit ihren Trieben verschieden umgehen. Dabei kreierte er das Bild des unausgesetzten Kampfes zwischen zwei Teilen der Persönlichkeit, dem Es (der primitive, unbewußte Anteil der Persönlichkeit, das „Reservoir“ der fundamentalen Triebe, welcher nach Befriedigung der Triebimpulse „ohne Rücksicht auf Verluste“ verlangt) und dem Über-Ich (es beinhaltet die Wertbegriffe des Individuums einschließlich seiner durch die Gesellschaft vermittelten moralischen Haltungen; es entspricht in etwa dem Gewissen), wobei dem dritten Aspekt, dem Selbst, Freud nennt es das Ich, eine Vermittlerrolle zwischen den beiden erstgenannten zukommt.[78]

[...]


[1] Die Bibel: Matth. 25, 35.36.

[2] A.a.O., Apg. 12,5.

[3] Schwarzes Kreuz Gefangenenmission e.V., Jägerstraße 25, 29221 Celle.

[4] Vgl. Kapitel 3 zu „Lebensalter und Delinquenz“.

[5] Duden: Das Fremdwörterbuch, Bd. 5, S. 170.

[6] Schülerduden: Die Pädagogik, S. 88.

[7] Vgl. Oerter/Montada: Entwicklungspsychologie, S. 1024.

[8] Vgl. Stascheit, Ulrich: § 19 Strafgesetzbuch (StGB).

[9] Vgl. Jugendrecht: § 3 i.V.m. §1 Jugendgerichtsgesetz (JGG).

[10] Vgl. Bürgerliches Gesetzbuch: Deliktsfähigkeit §§ 827, 828, 829 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).

[11] Compton’s Modernes Wissen: Lexikon, CD-ROM Suchstatus zum Begriff der Sühne.

[12] A.a.O., Suchstatus zum Begriff der Schuld.

[13] A.a.O., Suchstatus zum Begriff des Gewissens.

[14] Anzahl der Verurteilten auf 100.000 Einwohner der Bundesrepublik Deutschland, getrennt nach Altersgruppen (Quelle: Statistisches Jahrbuch 1988) in: Oerter/Montada: Entwicklungspsychologie, S. 1027.

[15] Vgl. EKD: Strafe: Tor zur Versöhnung. Eine Denkschrift, S. 26.

[16] A.a.O.

[17] A.a.O.

[18] A.a.O.

[19] A.a.O.

[20] Extraversion: von C.G. Jung eingeführte Bezeichnung für die Grundeinstellung von Personen, die sich stärker als andere an ihrer Umwelt orientieren. Der extrovertierte Typ ist ein aufgeschlossener, kontaktfreudiger, vertrauensvoller, die äußere Realität akzeptierender und sich mit ihr auseinandersetzender Mensch. Aus: Schülerduden: Die Psychologie, S. 97.

[21] Schülerduden: Die Psychologie, S. 62.

[22] Vgl. Rauchfleisch, Udo: Begleitung und Therapie straffälliger Menschen, S. 110.

[23] Vgl. Wiesnet/Gareis: Schuld und Gewissen bei jugendlichen Rechtsbrechern, S. 227/228.

[24] A.a.O., S. 228.

[25] A.a.O.

[26] A.a.O.

[27] A.a.O.

[28] A.a.O., S.228/229.

[29] Vgl. Zeidler, Manfred: Lebensgeschichtliche Bedingungen für Straffälligkeit, S. 178/179.

[30] A.a.O., S. 181.

[31] A.a.O., S. 88.

[32] A.a.O., S. 179/180.

[33] A.a.O., S. 181.

[34] Vgl. Wiesnet/Gareis: Schuld und Gewissen bei jugendlichen Rechtsbrechern, S. 38.

[35] A.a.O., S. 39.

[36] A.a.O.

[37] A.a.O., S. 44.

[38] A.a.O., S. 47.

[39] A.a.O., S. 51.

[40] A.a.O., S. 54 - 56.

[41] A.a.O., S. 57/58.

[42] A.a.O., S. 58.

[43] A.a.O., S. 233/234.

[44] A.a.O., S. 29.

[45] Vgl. Zimbardo, P.G.: Psychologie, S. 106 ff.

[46] Vgl. Wiesnet/Gareis: Schuld und Gewissen bei jugendlichen Rechtsbrechern, S. 27/28.

[47] A.a.O., S. 31.

[48] A.a.O., S. 38.

[49] A.a.O., S. 31.

[50] A.a.O.

[51] Vgl. Rauchfleisch, Udo: Begleitung und Therapie straffälliger Menschen, S. 111.

[52] Vgl. Wiesnet/Gareis: Schuld und Gewissen bei jugendlichen Rechtsbrechern, S. 32.

[53] A.a.O., S. 33.

[54] A.a.O., S. 33/34.

[55] Vgl. Stroebe u.a. (Hrsg.): Sozialpsychologie, S. 458.

[56] Vgl. Oerter/Montada: Entwicklungspsychologie, S. 1027.

[57] A.a.O., S. 229.

[58] Vgl. Zimbardo, P.G.: Psychologie, S. 603 ff.

[59] Vgl. Wiesnet/Gareis: Schuld und Gewissen bei jugendlichen Rechtsbrechern, S. 229/230.

[60] A.a.O., S. 230.

[61] A.a.O., S. 230/231.

[62] Vgl. Anhang C: Gespräch 3, Seite 9, Randnummern 6 – 9.

[63] Vgl. Wiesnet/Gareis: Schuld und Gewissen bei jugendlichen Rechtsbrechern, S. 231.

[64] A.a.O., S. 232.

[65] Vgl. Anhang C: Gespräch 1, Seite 4, Randnummer 111.

[66] Vgl. Wiesnet/Gareis: Schuld und Gewissen bei jugendlichen Rechtsbrechern, S. 233.

[67] Vgl. Goudsmit, Walter: Delinquenz und Gesellschaft, S. 73.

[68] A.a.O.

[69] Oligophrenie: allgemeine Bezeichnung für verschiedene Formen und Grade von ererbtem, angeborenem oder frühzeitig erworbenem Intelligenzmangel (Schwachsinn). Die einzelnen Schweregrade (Debilität, Imbezillität und Idiotie) sind nur schwer voneinander abzugrenzen. Aus: Schülerduden: Die Psychologie, S. 243/244.

[70] Vgl. Goudsmit, Walter: Delinquenz und Gesellschaft, S. 74.

[71] A.a.O.

[72] Vgl. Flügel, J.C.: Man, morals and society. Duckworth, London 1948 in: Goudsmit, Walter: Delinquenz und Gesellschaft, S. 74.

[73] Vgl. Rümke, H.C.: „De verwerking van schuldgevoel“, in: Nieuwe studies en voordrachten over psychiatrie. Scheltema en Holkema, Amsterdam 1953 in: Goudsmit, Walter: Delinquenz und Gesellschaft, S. 75.

[74] Vgl. Goudsmit, Walter: Delinquenz und Gesellschaft, S. 75.

[75] A.a.O.

[76] A.a.O.

[77] A.a.O., S. 74/75.

[78] Zimbardo, P.G.: Psychologie, S. 408.

Ende der Leseprobe aus 111 Seiten

Details

Titel
"Und vergib uns unsere Schuld..." - Religionspädagogische Aspekte in der Arbeit mit delinquenten Menschen im Kontext von Schuld und Vergebung
Hochschule
Evangelische Fachhochschule Reutlingen-Ludwigsburg; Standort Reutlingen
Note
1,8
Autor
Jahr
1999
Seiten
111
Katalognummer
V93732
ISBN (eBook)
9783638064415
ISBN (Buch)
9783656561279
Dateigröße
873 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schuld, Religionspädagogische, Aspekte, Arbeit, Menschen, Kontext, Schuld, Vergebung
Arbeit zitieren
Jörg Peters (Autor:in), 1999, "Und vergib uns unsere Schuld..." - Religionspädagogische Aspekte in der Arbeit mit delinquenten Menschen im Kontext von Schuld und Vergebung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93732

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