Der Film "Biutiful" von Alejandro Gonzáles Iñárritu. Monokulturelle Herausforderungen, transkulturelles Gedächtnis und transkulturelle Solidarität im Film


Hausarbeit (Hauptseminar), 2020

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Theoretische Ansätze
2.1. Kulturkonzepte
2.2. Fremdheitsdefinitionen - Das Eigene und das Fremde

3. Filmanalyse
3.1. Alejandro Gonzáles Iñárritu
3.2. Über den Film
3.3. Monokulturelle Herausforderungen
3.4. Transkulturelles Gedächtnis
3.5. Transkulturelle Solidarität

4. Abschließende Betrachtung

5. Quellenverzeichnis

1. Einleitung

"Seedy locations, nicht-weiße Hautfarben, nicht-hollywoodtaugliche Physiognomien. Starkino der widerwärtigsten Sorte, rassistisch, reaktionär, viel schlimmer noch als Babel" (Forester, 2011). Die Rezensionen zu Iñárritus Biutiful spalten sich. In Cannes wurde der Film als „Tsunami der Emotionen“ gefeiert. Andere wiederum sprechen von einem „Feelbad kino“, und kritisieren die vielen aufkommenden Emotionen. Einige gehen sogar soweit und sprechen von einem „rassistischen und reaktionären Starkino“. Tatsächlich zeigt der Film die heruntergekommen Gegenden Barcelonas, in denen Migranten Ausbeutung, Gewalt und Rassismus erfahren. Von den uns bekannten touristischen Orten ist kaum etwas zu sehen. Der an Prostatakrebs erkrankte Protagonist Uxbal wird mit vielen tragischen Momenten konfrontiert, sodass es zwischenzeitlich kaum mehr Hoffnung auf Besserung zu geben scheint. Iñárritu zeigt uns die letzten Tage von Uxbals Leben, wie er versucht mit sich und der Welt ins Reine zu kommen und das Leben seiner Kinder abzusichern.

Ich möchte in dieser Arbeit aufzeigen, dass Biutiful alles andere als „Starkino der widerwärtigsten Sorte, rassistisch, reaktionär“ ist. Dafür werde ich mich auf Mono-Multi-Inter- und Transkulturalitätskonzepte (u.a. von Guido Rings und Heinz Antor) sowie auf Fremdheitsdefinitionen (u.a. von Julia Reuter und Kai Uwe Hellmann) stützen, um die folgenden Forschungsfragen zu beantworten: Inwieweit und wie genau löst Biutiful tradierte Grenzen, Dichotomien und Hierarchien in seiner Migrationsdarstellung auf?​ Und wo sind die Grenzen der Transkulturalität?​ Anhand auserwählter Szenen sollen dabei die Themengebiete Monokulturelle Herausforderungen, Transkulturelles Gedächtnis und Transkulturelle Solidarität abgedeckt werden.

2. Theoretische Ansätze

2.1. Kulturkonzepte

„[C]ulture is […] always a consequence too of our conceptions of culture” (Welsch 1999: 4). Welsch beschreibt Kultur als ein operatives Konzept, d.h. dass Kultur erlernt und nicht vererbt wird, und somit veränderbar ist, ganz nach dem Motto: Was man lernt, kann man wieder umlernen. Die Gesellschaft und das Umfeld in dem wir aufwachsen (Eltern, Freunde, Schule etc.) prägen somit unser Verständnis, welches sich jedoch im Laufe des Lebens immer wieder ändern kann. In Zeiten der Globalisierung, und somit der Annährung und Vermischung verschiedenster Kulturen, gewinnt der Begriff an neuer, in der Wissenschaft diskutierter Komplexität. Um eine Grundlage für die Filmanalyse zu schaffen, sollen im Folgenden die Konzepte der Mono-Multi-Inter- und Transkulturalität differenziert gegenübergestellt werden.

Monokulturalität beschreibt ein „essentialistisches, homogenes und separatistisches“ (Rings 2018 2016: 9) Verständnis von Kultur. Einzelne Nationalkulturen werden in diesem Sinne als separate “Inseln” betrachtet. Hierbei besteht die Gefahr, dass eine Hierarchisierung von Kulturen, in der die eigene Kultur einer anderen als hochwertiger gegenübergestellt wird, zu einem „paradigm of assimilation and exclusion“ (ebd.) führt (vgl. ebd.). Es kann also von einem doppelseitigen Konzept gesprochen werden, in dem das Eigene dem Anderen (dem “Fremden”) in hierarchisierend gegenübergestellt wird. Monokulturelle Vorstellungen sind sowohl in der Vergangenheit (Beispiel: europäischen Kolonialismus und Nationalismus des 19. Und 20. Jahrhunderts), als auch in der Gegenwart (Beispiel: Rechte Parteien in Europas wie die AFD, Front National etc.), trotz immer weiter fortschreitender Globalisierung, anzutreffen (vgl. Rings 2018 2016: 1, 8). Ausgehend von der Vorstellung der Kultur als homogenes und autonomes Konstrukt, beschreibt die Multikulturalität eine friedfertige Koexistenz von klar abgrenzbaren Kulturen in einer bestimmten Gesellschaft (vgl. ebd.: 9). Hier haben wir also ein Nebeneinander, nicht aber ein Miteinander. Es herrscht einerseits eine “[…] concomitant advocacy for tolerance, openness and mutual understanding aiming at the avoidance of conflict […]” (Antor 2020: 69), gleichzeitig aber auch ein „[…] bearing the risk of indifference and thinking in terms of particularistic autonomous identities“ (ebd.). Dementsprechend geht diese Vorstellung an den gegenwärtigen Realitäten unserer multiethnischen Gesellschaften vorbei, die nicht nur auf ein Nebeneinander sondern auch auf ein Miteinander angewiesen sind (vgl. Rings 2018 2016: 9).

Die Konzepte der Inter-und Transkulturalität werden in der Wissenschaft unterschiedlich diskutiert. Im Gegensatz zur Multikulturalität wird bei der Interkulturalität die Interaktion mit einbezogen (vgl. Rings 2018 2016: 10). Hier haben wir also nicht nur ein Nebeneinander, sondern auch ein Miteinander unterschiedlicher Kulturen einer Gesellschaft. Einige Wissenschaftler, wie beispielsweise Wolfgang Welsch oder Graham Huggan kritisieren, dass bei diesem Konzept kulturelle Unterschiede nach wie vor im Vordergrund stehen, so spricht Huggan in diesem Zusammenhang von „back-door to cultural essentialism“ (Huggan 2006: 58) und Welsch verweist in diesem Sinne auf das separatistische „Volkskulturkonzept“ (Welsch 1999: 2). Beide stellen somit eine Verbindung zu monokulturellen Vorstellungen von Kultur her. Im Gegensatz dazu bringen zeitgenössische Interkulturalisten wie Heinz Antor, Werner Delanoy und Guido Rings die Interkulturalität in komplementärer Verbindung zur Transkulturalität (vgl. Antor 2020: 71). Der interkulturelle Austausch führt demnach zu einem kulturellen Brückenbau, was letztendlich die Voraussetzung für die Entstehung transkultureller Phänomene darstellt (vgl. Rings 2018 2016: 10). Interkultureller Austausch ermöglicht es also kulturelle Grenzen zu überschreiten, aber nicht sie aufzulösen (vgl. Antor 2006: 29). Somit werden bei inter- als auch bei multikulturellen Ansätzen neue, mit der Globalisierung eingehende Dynamiken nicht berücksichtigt (vgl. Antor 2020: 69). Um besser auf diese neu entstandenen Dynamiken einzugehen, führt Welsch (1999) den Begriff der Transkulturalität ein (vgl. Antor 2020: 69).

Cultures, within this new paradigm, can no longer be distinguished along geographic, nationalist or any other clearly demarcated lines, and the boundaries between cultures that still exist in the concepts of inter- and multiculturality have become blurred or porous (Antor 2020: 70).

Bei der Transkulturalität wird das Verständnis von Kulturen als separate Inseln letztendlich verworfen. Durch die gemeinsame Interaktion verschmelzen Kulturen miteinander, traditionelle Grenzen werden aufgelöst und es entstehen sogenannte „notions of hybrid societies“ (Rings 2018 2016: 11), „pool[s] of global cultures“ (Huggan 2006: 58f.) bzw. „Third Spaces“ (Bhabha 2004: 54). Auf monokulturellen Ansichten basierte homogene und separatistische Abgrenzungen in “Wir” und die “Anderen” (bzw. das Eigene und das Fremde) werden in diesen hybriden Räumen aufgehoben, denn „there is no longer anything absolutely foreign“ (Welsch 1999: 198). Im Fokus der Transkulturalität stehen dementsprechend kulturelle Gemeinsamkeiten (vgl. Rings 2018 2016: 11). Antor verweist dennoch auf die zusätzliche Wichtigkeit interkultureller Kompetenzen. Wie schon bei dem Konzept der Monokulturalität angedeutet, sind homogene Vorstellungen keineswegs vergangene Phänomene und durchaus (und immer stärker) in gegenwärtigen Gesellschaften anzutreffen. In Anbetracht der „contemporary monucultural agents“ (Rings 2018 2016: 12) (Rechte Parteien, Fundamentalistische Islamistische Gruppierungen etc.), wird deutlich dass Transkulturalität nicht unbedingt mit dem Globalisierungsprozess einhergehen muss (vgl. ebd.).

Our awareness of the differences that distinguish us must be supplemented by a deeply felt and practised knowledge of what we share as well as by scepticism towards the simplifying strategies of those who try to subdivide the diversity of world cultures into separate, internally homogeneous and distinct entities (Antor 2020: 80).

Nur mit Hilfe von Offenheit, Interaktion, sowie der Aneignung von Wissen über andere Kulturen, und der mit einhergehenden kritischen Reflexion über sich und andere, können zukünftig Differenzen überbrückt werden (vgl. Antor 2020: 78f.). Dafür sind sowohl transkulturelle- als aber auch interkulturelle Kompetenzen notwendig (vgl. ebd.: 80). Interkulturelle Kompetenz bildet also die Grundlage für transkulturelle Entwicklungen. In dieser Arbeit wird diese Komplementarität von Trans- und Interkulturalität unterstützt.

2.2. Fremdheitsdefinitionen - Das Eigene und das Fremde

Die Herausforderungen und Probleme gegenwärtiger multikultureller Gesellschaften – „ethnische Konflikte und rechtsextreme Gewalttaten gegen Ausländer und Asylanten“ (Hellmann 1998: 402) – führen seit den 1990er Jahren zur Notwendigkeit und zum Anstieg der Forschung zum Thema Fremdheit (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang werden nicht nur die Chancen von Fremdheit für unsere multikulturellen Gesellschaften, sondern auch als Gefahren beleuchtet. Stets trifft man dabei auf eine Ambivalenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Gewohnten/ Vertrautem und dem Ungewohnten/ Unvertrautem oder der Inklusion und Exklusion (vgl. ebd.: 411 f.). Diese Ambivalenz kann „sowohl anziehend als auch bedrohlich [zugleich] wirken“ (ebd.: 412) und sowohl Faszination als auch Fremdenfeindlichkeit auslösen (vgl. ebd.). „[D]ie Vorstellung, Migranten seien komplett fremd, unterschätzt die Wirklichkeit genauso wie die komplementäre Erwartung, jemand müsse sich komplett assimilieren, um ganz dazuzugehören“ (Kaube 2017). Anlehnend an das Transkulturalitätskonzept, geht diese Vorstellung davon aus, dass heutzutage niemand mehr als fremd angesehen werden kann. Wie bereits erwähnt, ist dies nach wie vor eine Illusion, da die Realität trotz der Globalisierung eine andere ist. Umso wichtiger ist es, sich den Begriff des Fremden (des Anderen) genauer zu betrachten und zu verstehen.

Grenzen betonen die Differenziertheit der Welt durch die Einführung von Distinktionen, mit denen sich die Wirklichkeit ordnen und strukturieren läßt, indem sie sie in Sphären des Gleichen und des Anderen einteilen, Zugehörige von Nicht-Zugehörigen auf der Grundlage einer als bedeutsam wahrgenommenen und pointierten Unterschiedlichkeit von Kulturen, Sprachen, Lebenswelten, Lebensstilen oder Identitäten sondieren (Reuter 2002: 9).

Somit können Grenzen als „Orientierungs- bzw. Ordnungshilfe im Umgang mit der Wirklichkeit“ (ebd.) beschrieben werden, die das Eigene vom Fremden abgrenzen. Dabei ist sind das Eigene und das Andere nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern vielmehr als ein „Bedingungsverhältnis“ (Schäfer/ Schlöter 1994: 71), denn „wer etwas als fremd bezeichnet, hat immer schon die Relation zum Eigenen mitbedacht“ (Reuter 2002: 13). Es handelt sich hierbei also um Ordnungskonstruktionen, die von der vorgenommenen Grenzziehung bzw. von der „als relevant wahrgenommene[n] Differenz“ (ebd.) abhängen. Somit ist es also nicht die Herkunft die zu Fremdheit führt, sondern die „Überlegenheit der Einheimischen“ (ebd.: 12) gegenüber dem (kulturell) Anderem (vgl. ebd.). „[D]er Fremde ist [somit] ein Konstrukt jener Gruppe, die ihn als fremd wahrnimmt und bezeichnet“ (ebd. 13), da dieser in Differenz zum Selbstverständlichen, Vertrauten und Gewohnten des Eigenen betrachtet wird (vgl. Reuter 2002: 13), sprich „den Standards unserer Selbstdefinition nicht entspricht oder widerspricht“ (Schäfer/ Schlöder 1994: 70). Das Konstrukt der Fremdheit impliziert dementsprechend immer eine “Definition einer Beziehung” (Hahn, 1998, S. 161), da das „Fremde als Herausforderung der Identität einer Person oder eines sozialen Gebildes zu verstehen ist“ (Schäfer/ Schlöder 1994: 70). Was der eine als fremd wahrnimmt, nimmt der andere als gewohnt wahr. Wer oder was als fremd bezeichnet wird, ist folglich eine Sache der Perspektive, also abhängig von dem was als selbstverständlich, vertraut und gewohnt angesehen wird. Fremdheit ist also kontextabhängig von Ort, Zeit, Gesellschaft etc. (vgl. Reuter 2002: 13) und nicht „eine feste Eigenschaft von Dingen oder Personen“ (Schäfer/ Schlöter 1994: 71), woraus sich wiederum schlussfolgern lässt, dass jeder unter bestimmten Umständen fremd sein kann (vgl. ebd.). Die Unterscheidung in das Eigene und das Fremde hilft uns also einerseits unsere Identität zu entwickeln und zu festigen. Andererseits besteht die Gefahr einer Ablehnung des Fremden, sobald die eigene Identität durch den Einfluss des Fremden gefährdet zu sein scheint (vgl. ebd.: 72). Häufige Faktoren von Ausgrenzung sind religiöse, kulturelle oder soziale Differenzen (vgl. FZE 2017), die oft mit (zumeist negativen) Stereotypen behaftet sind (vgl. Schäfer/ Schlöter 1994: 79) und im schlimmsten Falle zu Rassismus oder Gewalt führen können. Indem Fremdheitskonstruktionen immer eine Abgrenzung zwischen „Wir“ und die „Anderen“ implizieren, sind sie als monokulturelle Herausforderungen in unseren multiethnischen Gesellschaften zu betrachten, denn „there is no longer anything absolutely foreign“ (Welsch 1999: 198) ist noch lange nicht unsere Realität.

3. Filmanalyse

3.1. Alejandro Gonzáles Iñárritu

“The Mexican filmmaker has become one of the most powerful voices in the cinema of the new century on the basis of only three films” (Azcona, Deleyto 2010: x). Gemeint sind die Filme Amores perros (2000), 21 Grams (2003) und Babel (2006) des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu (geboren am 15. August 1963 in Mexiko-Stadt). Typisch für diese Filme sind komplexe narrative Struktur sowie die vielseitigen Perspektiven aus den Augen mehrerer Protagonisten: „Babel premiered at Cannes, I already said that it was my last experiment with this type of narrative structures“ (ebd.: 131). Deshalb setzt Iñárritu in Biutiful (2010) auf einen Protagonisten (Javier Bardem als Uxbal) und, bis auf die Traumsequenz der Anfangs- und Endszene auf eine lineare Erzählstruktur. Ebenfalls zum ersten Mal ist die Handlung ausschließlich in Europa (Barcelona) angesetzt und seit Amores Perros sein erster spanischsprachiger Film, der erstmals nicht in Zusammenarbeit mit dem mexikanischen Filmregisseur und -produzenten Guillermo Arriaga entstanden ist. Auch für seine Spielfilme Birdman (2014) und The Revenant (2015) bekommt Iñárritu eine enorme internationale Anerkennung. Neben zehn Oscarnominierungen, davon fünf Auszeichnungen, erhielt der Regisseur vier Golden Globe Awards, zwei British Academy Film Awards sowie viele weitere Nominierungen und Auszeichnungen für seine Arbeiten. Seine Erfahrung als Mexikaner, der in die USA ausgewandert ist, bezeichnet er in einem Interview, im Gegensatz zu den Erfahrungen die viele andere machen müssen, als „very privileged experience“ (Azcona, Deleyto 2010: 127).

Yet, on a personal level, my experience has been extraordinary. Why? Because I´m a person with a certain intellectual level. I´m a professional. My case is not at all representative of the experience of Mexicans in the United States. I´ve always felt welcome and received support (ebd.).

Trotz seiner durchaus positiven Erfahrung verweist Iñárritu, als sogenannter “bracero de lujo” (ebd.), auf die Wichtigkeit von Toleranz: „We shouldn´t just tolerate difference; we must celebrate it“ (ebd.: Markierung im Original) und die Gefährlichkeit von Grenzziehungen „Borders are ideological and nationalistic territories that make us smaller […] The most dangerous borders are the ideological ones, not the physical ones. That´s a very serious problem“ (Azcona, Deleyto 2010: 126). Die transnationalen und multiethischen (Migrations)-Thematik seiner Filme 21 gramos (2003), Babel (2006) und Biutiful (2010) spiegelt die Erfahrungen und die Einstellung des Regisseurs wieder.

3.2. Über den Film

Todas las personas que participan en la película, los chinos y los africanos, han hecho eso en la vida real, han sido explotadas en bodegas. Fui con la policía catalana a dos redadas para atrapar explotadores chinos; filmamos en esas locaciones, muchas de ellas reales (Volpi 2010).

Alejandro González Iñarritu hat für seinen Film ein Jahr Recherche betrieben. Wie in seinem Film Babel, besteht auch hier ein Teil der Besetzung aus nicht ausgebildeten Schauspielern. Die vorkommenden Schauplätze und Schauspieler sind teilweise an reale Umstände und Erfahrungen geknüpft. Unter anderem wurde der Film für die Kategorien Bester fremdsprachiger Film und Bester Hauptdarsteller bei den Oscars nominiert. Das in Spanien und Mexiko produzierte Drama (FSK 16) hat eine Filmlänge von 148 Minuten und hat weltweit einen Umsatz von rund $25, 147,786 erzielt. Neben Spanisch werden in Biutiful auch Chinesisch und Wolof gesprochen.

Bis auf die zusammenhängende Traumsequenz der Anfangs-und Endszene1, ist die Handlung von Biutiful linear. Der Protagonist Uxbal (Javier Bardem) ist alleinerziehender Vater von Mateo (Eduard Fernández) und Ana (Hanaa Bouchaib), und lebt geschieden von der manisch depressiven Frau und der Mutter seiner Kinder Marambra (Maricel Àlvarez) in einer heruntergekommenen Gegend, abseits der bekannten touristischen Orte Barcelonas. Er verdient sein Geld, indem er illegalen Migranten aus Senegal und China Arbeit vermittelt und Angehörigen von Verstorbenen deren letzte Gedanken preisgibt2. Als Uxbal nach körperlichen Beschwerden die Diagnose Prostatakrebs im Endstadium bekommt, sieht er sich mit Schuldfragen konfrontiert, versucht das Leben seiner Kinder abzusichern und mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. Dabei wird er immer wieder von tragischen Ereignissen erschüttert: Nachdem Uxbal günstige Heizgeräte für die Unterkunft der chinesischen Migranten kauft, ersticken alle in der Nacht am ausgestoßenen Gas. Darunter seine Freundin Li (Lang Sofia Lin) und ihre kleine Tochter. Während Uxbal an Gewissensbissen verzweifelt, versuchen die chinesischen Clan-Chefs Liwei (Jin Luo) und Hai (Taishen Cheng) der Schuld zu entkommen und entsorgen die Leichen im Meer. Später wird Uxbals senegalischer Freund, der Straßenhändler Ekweme (Cheikh Ndiaye), beim illegalen Verkauf der von den chinesischen Arbeitern angefertigten Ware in der Innenstadt Barcelonas gewaltsam festgenommen und in sein Heimatland abgeschoben. Er lässt seine Frau Ige (Diaryatou Daff) und seinen kleinen Sohn Samuel zurück, die daraufhin Zuflucht bei Uxbal finden. Der Titel des Films lässt sich auf ein Gespräch zwischen Uxbal und seiner Tochter zurückführen, in welchem diese ihn fragt wie man das englische Wort beautiful schreibt, woraufhin Uxbal antwortet „Na so wie man es spricht – biutiful “.

3.3. Monokulturelle Herausforderungen

Monokulturelle Herausforderungen, wie Rassismus, Ausbeutung und Gewalt gegenüber den senegalesischen und chinesischen Migranten, scheinen in Biutiful deutlich im Fokus zu stehen. Nicht zuletzt dadurch kann der Eindruck entstehen, es handele sich um einen rassistischen Film, wie viele Kritiker gerne behaupten.

Im Film werden zahlreiche rassistische Aussagen getätigt, vor allem durch Tito (Uxbals Bruder) und Zanc (Polizist). Nachdem Uxbal Ekweme vor seiner gewaltsamen Festnahme beschützen will, wird auch er in Gewahrsam genommen. Tito übernimmt die Kaution und holt seinen Bruder aus dem Gefängnis ab. Belustigt fragt er Uxbal: „Also du prügelst dich für Neger, he?“ [0:42:13], womit er abwartend auf Uxbals senegalesischen Freund hindeutet. Uxbal geht nicht weiter auf die provokante Frage seines Bruders ein, sondern fragt wie sich die chinesischen Migranten bei der Arbeit auf der Baustelle ergeht, woraufhin sein Bruder erwidert: "Die Schlitzaugen wissen noch nicht mal was ein Mauerer ist. Verstehen tuen sie auch nichts und dann sehen sie noch alle gleich aus“ [0:43:06]. Tito bezieht sich hier nicht nur auf das Aussehen der Migranten, sondern auch auf ihre (seiner Meinung nach nicht vorhandenen) intellektuellen Fähigkeiten. Auch im Gespräch mit dem korrupten Polizisten Zanc [01:11:40-01:14:00] werden ähnliche Aussagen getätigt. Uxbal bezahlt Zanc, damit er die illegalen senegalesischen Straßenhändler nicht verfolgt. Nachdem Ekweme und seine Freunde festgenommen werden, sagt Zanc zu Uxbal: „Die Neger sind einfach dran gewesen“. Auch die Chinesen werden abgewertet: „Sie essen unseren schönen Schinken und wir kriegen ihren Reis“. In beiden Gesprächen werden die Migranten als „Neger“ bzw. als „Schlitzaugen“ abgewertet und somit hierarchisch unterlegen von dem Eigenen abgegrenzt. Ganz deutlich ist hier eine Hierarchisierung von Kulturen, in der die eigene Kultur einer anderen als hochwertiger gegenübergestellt wird zu erkennen. Der schöne Schinken (Spanien) wird hier dem Reis (China) deutlich übergeordnet.

Sowohl die chinesischen, als auch die senegalesischen Migranten werden permanent ausgebeutet. Auf der Baustelle, die Uxbal über Tito organisiert hat, werden sechszehnstündige Arbeitsschichten von den Migranten erwartet. Auch Zanc und Uxbal sind an der Ausbeutung beteiligt, indem sie durch Korruption (wie in Zangs Fall) bzw. durch die Vermittlung von Arbeitsplätzen (wie in Uxbals Fall) ihren Anteil bekommen. Liwei und Hai, die chinesischen Clan-Chefs, sind nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht, zahlen den chinesischen Migranten einen Hungerlohn und lassen sie in einer kalten, heruntergekommen Lagerhalle leben. Um die Migranten vor der Kälte zu schützen, kauft Uxbal Heizgeräte, woraufhin die chinesischen Migranten in derselben Nacht am ausgestoßenen Gas ersticken. Liwei und Hai entsorgen die Leichen im Meer um rechtlichen Folgen aus dem Weg zu gehen: Während Liwei und Hai aus Angst um ihre Existenz bangen: „Wir sind ruiniert […] Ich will nicht ins Gefängnis“ [1:24:47] und das Geschehnis verbergen wollen „Versprich mir, dass es unter uns bleibt. Ich zahle dir so viel du willst“ [1:25:34-1:25:38], trauert Uxbal, geplagt von Selbstzweifeln, um seine Freunde die er verloren hat. Die menschenunwürdige Behandlung der Migranten mündet in einer tragischen, und in gewisser Weise paradoxen Szene, in der die zuvor im Meer entsorgten Leichen an Barcelonas Strandpromenade gespült werden [1:46:30-1:47:25]. Es handelt sich um eine der wenigen Szenen, in denen Barcelonas bekannte, touristische Orte und nicht die heruntergekommen Randgebiete gezeigt werden3. Im Vordergrund sind die an den Strand gespülten Körper der chinesischen Migranten zu sehen. Im Hintergrund sieht man den torre mapfre und das Hotel arts bei Sonnenaufgang. Die Idylle und das Meeresrauschen im Hintergrund scheinen sehr im Widerspruch zu den Ereignissen zu stehen. In einer weiteren Szene wird in den Nachrichten von dem Unglück berichtet [1:50:21-1:50:50]. Auf diese tragische Weise werden die bis dato für die Mehrheit unsichtbaren Migranten sichtbar. Besonders im Hinblick auf den für diese Szene auserwählten Ort (touristisches Barcelona) lässt sich hier eine deutliche Kritik an der Situation bzw. am Umgang mit den Migranten ableiten.

Die Szene, in der Ekweme und seine Freunde verhaftet werden zeigt gewaltsames Vorgehen gegenüber den Migranten seitens der Polizei [0:37:25-0:40:10]. Da es sich um illegale Straßenverkäufer handelt, ist an einer Fahndung durch die Polizei nichts auszusetzen, jedoch an der Art wie die Verhaftungen vorgenommen werden. Auch hier handelt es sich wieder um eine Szene an einem der touristischen Orte Barcelonas - las Ramblas. Die Szene wird teilweise aus der hand-held Perspektive gefilmt, sodass der Zuschauer sich besser in die Situation versetzen kann. Für den Regisseur hat die hand-held Kameraperspektive in seinem Film eine ganz besondere Bedeutung:

I think that the handheld camera is the closest you can get to the way the human being experiences the world. We see through a handheld camera. When I move around, I don’t dolly or crane. Like the tripod, those are antinatural ways of experiencing the world. The handheld camera is the way to see the world as the character is experiencing it (Azcona, Deleyto 2010).

Durch diese Perspektive erscheinen die nächsten Geschehnisse umso realer für den Zuschauer. Die mit Touristen gefüllten Straßen werden von Polizeibussen mit lauten Sirenen gestürmt. Die Verkäufer laufen in unterschiedliche Richtungen, mitten durch die Menschenmassen, vor der Polizei weg. Teilweise machen sich mehrere bewaffnete Polizisten über einzelne, hilflose Migranten her und schlagen gewaltsam auf sie ein. Paradoxerweise werden auch hier wieder die sonst unsichtbaren Migranten für die touristische Welt in den schönen Ecken Barcelonas sichtbar. Auch Ekweme kann der Polizei nicht entkommen, wird gewaltsam bewusstlos geschlagen, verhaftet und in seine Heimat abgeschoben. Nach der Verhaftung ihres Mannes, bleibt Ige mit ihrem Sohn zurück. Bei ihrem Besuch im Gefängnis [1:11:40-1:14:00] sagt sie ihrem Mann, dass sie zurück mit ihm in die Heimat kommt, da sie sich fremd in Spanien fühlt. Doch Ekweme besteht darauf, dass sie bleibt, da Senegal keine Perspektiven für sie und ihren Sohn bereit hält. Er verweist sie auf Uxbal, der bereit ist sie zu unterstützen. Doch auch im späteren Moment, als Ige Uxbal pflegt, beharrt sie gegenüber diesem auf ihrer Meinung: „Ich werde ein bisschen Geld sparen und dann zurückgehen. Hier werden wir immer fremd sein“ [01:59:14-01:59:19]. Die Ausbeutung, Gewalt und menschenunwürdige Behandlung führt zu einem Fremdheitsgefühl. Ige fühlt sich nicht willkommen in Spanien und möchte trotz der Perspektivlosigkeit zurück in ihr Heimatland.

All diese Szenen zeigen die schwierige Lage, der die senegalesischen und chinesischen Migranten ausgesetzt sind. Die genannten Szenen werden im Film besonders auffällig inszeniert, indem beispielsweise Gebrauch von der hand-held Perspektive gemacht wird, die den Zuschauer mitten ins Geschehen holt. Oder indem paradoxe Geschehnisse (Verhaftungen der senegalesischen Migranten in Barcelonas Innenstadt und Tote chinesische Migranten an Barcelonas Promenade) aufgezeigt werden. Diese Szenen sind durch ihre Aufmachung sehr einprägend für den Zuschauer. Deutlich wird, dass die Migranten immer leer ausgehen – die einen sterben, die anderen werden verhaftet und abgeschoben. Wie die innere Gedanken und Gefühlswelt der Migranten aussieht, wird für den Zuschauer nicht ersichtlich – außer aus der Perspektive von Ige (und teilweise von Ekweme). Ekweme ist zuversichtlich und wünscht sich eine bessere Zukunft für seine Frau und sein Kind in Spanien, da er in seinem Heimatland keine Perspektiven sieht. Doch bei Ige führen all diese Umstände (Ausbeutung, Gewalt etc.) dazu, dass sie sich fremd fühlt und lieber in ihr Heimatland zurückkehren möchte. Inwieweit jedoch eine kultureller Brückenbau bzw. eine Grenzöffnung möglich wird und die monokulturellen Herausforderungen überbrückt werden können, schauen wir uns in den nächsten Kapiteln genauer an.

[...]


1 Kurz bevor Uxbals stirbt, liegt er mit seiner Tochter in seinem Sterbebett. Sein Tod wird mit der sogenannten Traumsequenz symbolisiert, in der er auf seinen bereits früh verstorbenen Vater trifft und letztendlich zusammen mit ihm „davongeht“.

2 Inwieweit Uxbal wirklich die Gedanken von Verstorbenen hören kann, wird im Film nicht weiter thematisiert. Der Regisseur äußert sich folgendermaßen dazu: „Desde el principio supe que tenía ese regalo, la capacidad de oír a los muertos, pero no de una forma chabacana y ridícula. Entrevisté a numerosos videntes y médiums auténticos. No quise hacer una película fantástica o de realismo mágico, por eso la experiencia con los muertos solo aparece desde el punto de vista de Uxbal” (Volpi 2010).

3 Viele Arbeiten im Zusammenhang mit dem Film beschäftigen sich mit der Thematik der Stadt (Barcelona) und wie diese im Film repräsentiert wird. Ein wichtiger Beitrag zu diesem Thema wurde von Benjamin Fraser in A Biutiful city: Alejandro González Iñárritu’s filmic critique of the ‘Barcelona model’ (2012) verfasst, in welchem er das bekannte, touristische Barcelona von dem „real Barcelona“ unterscheidet.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Der Film "Biutiful" von Alejandro Gonzáles Iñárritu. Monokulturelle Herausforderungen, transkulturelles Gedächtnis und transkulturelle Solidarität im Film
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Romanistik)
Veranstaltung
Selbst-und Fremdbegegnungen im Kino mit Migrationsthematik: europäische und amerikanische Perspektiven
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
19
Katalognummer
V937121
ISBN (eBook)
9783346264909
ISBN (Buch)
9783346264916
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kultur, Kino, Migration, Multikulturalität, Transkulturalität, Monokulturalität, Interkulturalität, Fremdheit, Iñárritu, Biutiful, Film, Javier Bardem, Monokulturelle Herausforderung, Grenzöffnung, Transkulturelle Solidarität
Arbeit zitieren
Karina Stolte (Autor:in), 2020, Der Film "Biutiful" von Alejandro Gonzáles Iñárritu. Monokulturelle Herausforderungen, transkulturelles Gedächtnis und transkulturelle Solidarität im Film, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/937121

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