Multiperspektivität im Geschichtsunterricht


Examensarbeit, 2008

80 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Begriffsklärung Multiperspektivität

III. Das Zustandekommen historischer Urteile
1. Einflussfaktoren auf das historische Urteil
2. Die Arbeit am Material
2.1 Quellenanalyse
2.2 Quellenkritik
2.3 Quelleninterpretation
3. Das historische Urteil

IV. Multiperspektivität im Geschichtsunterricht
1. Psychologische Vorüberlegungen nach Robert L. Selman
2. Geschichtsdidaktische Betrachtung
2.1 Berücksichtigung von Multiperspektivität im sächsischen Lehrplan
2.2 Vorraussetzungen für Multiperspektivität im Unterricht
2.3 Die Förderung des reflektierten Geschichts- bewusstseins mit Hilfe von Multiperspektivität
2.3.1 Das Alltagsverständnis und die verschiedenen Zeitebenen
2.3.2 Fragestellungen und Vermutungen
2.3.3 Die Arbeit am Material
2.4 Mögliche Probleme beim multiperspektivischen Lernen
2.5 Die Folgen von Monoperspektivität und die Bedeutung eines multiperspektivischen Geschichtsunterrichts

V. Methodische Möglichkeiten
1. Erkennen von Multiperspektivität durch Rekonstruktion
2. Förderung des reflektierten Geschichtsbewusstseins mit Hilfe der Dekonstruktion kontroverser Lehrbuchtexte
3. Multiperspektivische Fragestellungen zur Verdeutlichung von unterschiedlicher Wahrnehmung, Deutung und Orientierung
4.1 Beispiele unterteilt nach Klassenstufen
4. Medieneinsatz unter Berücksichtigung von Multiperspektivität
4.1 Bildliche Quellen
4.2 Schriftliche Quellen
4.3 Zeitzeugenberichte und Zeitzeugeninterviews
4.4 (Anti-)Kriegsfilme
4.5 Fiktiver Medieneinsatz

VI. Zusammenfassung

VII. Quellen- und Literaturverzeichnis

VIII. Anhang

I. Einleitung

Wenn der Geschichtsunterricht in Verbindung mit der politischen Bildung den Anspruch erheben will, die Schüler/innen für eine pluralistische Demokratie zu erziehen, dann kann auf die Sensibilisierung für das Phänomen Multiperspektivität im Geschichtsunterricht nicht verzichtet werden. Die Didaktik der Geschichte kann und muss in einer demokratischen Gesellschaft auf einer fach- und subjektgerechten Bildung bestehen. Das Selbstverständnis des Faches Geschichte hat sich im Verlauf der Zeit erheblich gewandelt und steht im Zusammenhang mit dem Typ des politischen Systems. Die Aufgabenbestimmung lässt sich im Deutschen Kaiserreich und in der ehemaligen DDR verkürzt als „Herrschaftslegitimierung“ bezeichnen. Bestehende gesellschaftspolitische Zustände sollten durch eine monolithische Erziehung der Lernenden im Interesse der jeweiligen Machtgruppen legitimiert und vor Kritik bewahrt werden.1 In der Gegenwart beschreibt der Beutelsbacher Konsenses das Zielverständnis (pluralistisches Demokratiekonzept) und die Methodik der Bildungsarbeit im Fach Geschichte und politische Bildung. Folgende drei Aspekte beinhaltet der Beutelsbacher Konsens:2

- Überwältigungsverbot: Es ist nicht erlaubt, Schüler/innen im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln (Indoktrination) und sie daran zu hindern, ein selbständiges Urteil zu fällen.
- Kontroversität: Was in Gesellschaft und Wissenschaft als kontrovers gilt, muss auch im Unterricht kontrovers behandelt werden.
- Analyse eigener Interessen: Der Unterricht muss den Schüler/innen gewährleisten, historische und politische Situationen und eigene Interessenlagen zu analysieren und nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne eigener Interessen zu beeinflussen.

Darüber hinaus gehört die Multiperspektivität im Geschichtsunterricht neben der Mehrsprachigkeit, den Menschenrechten, der Medienkompetenz, der Mehrdimensionalität von Kultur und der Methodenvielfalt, zu den angestrebten internationalen Bildungsstandards der UNESCO.3

Ausgehend von der These, dass sich das fachdidaktische Prinzip der Multiperspektivität von den grundsätzlichen Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft ableiten lässt, soll in dieser Arbeit der Frage nachgegangen werden, wie sich Multiperspektivität im Geschichtsunterricht theoretisch begründen und in der Unterrichtspraxis umsetzen lässt. Dabei wurde eine deduktive Vorgehensweise gewählt. Das heißt, es werden von den allgemeinen Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft ausgehend, Schlussfolgerungen für die Multiperspektivität im Geschichtsunterricht abgeleitet.

Die Arbeit stützt sich bei der Beantwortung der Fragestellung hauptsächlich auf die Werke von Klaus Bergmann4, Jochen Huhn5 und der Sächsischen Akademie für Lehrerbildung6. Dabei legt Bergmann besonderen Wert auf die Darstellung von unterschiedlichen Perspektiven im Geschichtsunterricht, während sich Huhn mehr für den Prozess der Geschichtsdarstellung interessiert und nicht das Ergebnis im Vordergrund sieht. Der Sammelband der Sächsischen Akademie für Lehrerbildung legt hingegen den Schwerpunkt auf die Kompetenzförderung der Lernenden im Prozess zu einem reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstsein.

Die nunmehr hier vorliegende Arbeit setzt sich aus insgesamt vier inhaltlichen Kapiteln zusammen. Im Gliederungspunkt zwei wird eine Begriffsklärung vorgenommen, die für die weitere Arbeit grundlegend ist. Der darauf folgende Abschnitt verdeutlicht das Zustandekommen eines historischen Urteils in der Geschichtswissenschaft. Es wird auf außer- und innerpsychische Einflussfaktoren eingegangen, die das historische Urteil bedingen. Der vierte Gliederungspunkt befasst sich mit der Multiperspektivität im Geschichtsunterricht. Neben der Umsetzung von Multiperspektivität werden die Vorraussetzungen für das Gelingen eines multiperspektivischen Unterrichts, die Verankerung im aktuellen sächsischen Lehrplan und die Bedeutung von Multiperspektivität thematisiert. Der fünfte Gliederungspunkt zeigt methodische Möglichkeiten zur Umsetzung des didaktischen Prinzips im Unterricht auf. Dabei wurde der Schwerpunkt auf die Basisoperatoren des Geschichtsbewusstseins, Re- und Dekonstruktion, sowie auf ausgewählte Medien gelegt. Bereits an dieser Stelle sei auf den Anhang dieser Arbeit verwiesen. Dieser umfasst das Quellen- und Arbeitsmaterial des jeweiligen Gliederungspunktes.

Im sechsten und letzten Abschnitt der Arbeit werden die Ergebnisse aus den vorangegangenen Punkten noch einmal explizit herausgestellt, um auf dieser Grundlage zu einer Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit zu gelangen.

II. Begriffsklärung Multiperspektivität

Der Begriff der Multiperspektivität wurde 1972 von Klaus Bergmann in die geschichtsdidaktische Diskussion eingebracht. Die mit diesem Begriff verbundene Grunderkenntnis, dass Geschichte so perspektivisch sei, wie die ungeregelt zustande kommenden Zeugnisse der Vergangenheit, aus denen sie gebildet wird7, hielt seither in die fachdidaktische Diskussion Einkehr. Im Gegensatz zu meist naturwissenschaftlichen Fächern wie Mathematik, Chemie oder Physik ist es in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern selten möglich zu einer beobachtungsunabhängigen Erkenntnis zu gelangen. Diese grundsätzliche Überlegung ist bereits selbst perspektivisch, denn sie kann nur dann für die Fachdidaktik gelten, wenn der Lehrkörper sich fernab des Belehrungsunterrichtes bewegen möchte und eben nicht einem monolithischen und ideologiegeprägten Geschichtsbild verfallen ist. Wie die weitere Arbeit noch zu zeigen hat, handelt es sich bei den Lerninhalten der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer um mehr als nur Faktenwissen oder gar um einen strikten Belehrungsunterricht alter Zeiten. Die Fachdidaktiken der Fächer Geschichte und politische Bildung laufen Gefahr das Erziehungsziel von einer fach- und subjektgerechten Bildung zu verfehlen, wenn Wissen von den Schüler/innen nicht analysiert, beurteilt und bewertet wird.8

Mit Hilfe der Konfrontation von Multiperspektivität im Geschichtsunterricht können die Schüler/innen das disziplinierte historische Fragen und Denken erlernen.9 Für Klaus Bergmann begründet die Geschichtsdidaktik mit der Konfrontation auf Multiperspektivität im Alltag der Lernenden den Zwang Geschichte in der Schule zu behandeln.10 Diese Alltagsrelevanz verschafft diesem Thema eine enorme fachdidaktische Bedeutung.

Nach der Sensibilisierung mit der Thematik soll nun im Folgenden die Vielschichtigkeit der Multiperspektivität begrifflich erläutert und abgegrenzt werden. Die Verwendung des Begriffs Multiperspektivität bezieht sich in der folgenden Arbeit auf die Ausführungen dieses Gliederungspunktes.

Multiperspektivität wird in der Geschichtsdidaktik in einer weiteren und einer engeren Variante verwendet. Die engere Variante definierte Klaus Bergmann folgendermaßen: Es existieren drei verschiedene Ebenen von Perspektivität. Erstens die Multiperspektivität, der aus der unmittelbaren Erfahrung hervorgegangenen Wahrnehmung der Zeitgenossen, so wie sie sich in den Zeugnissen der Vergangenheit niederschlägt. Zweitens die Kontroversität, das heißt die Perspektivität in der Deutung historischer Sachverhalte durch Nachgeborene, die sich mit den Zeugnissen der Vergangenheit auseinandersetzen. Diese besitzen wiederum ihre eigene Perspektivität auf die Vergangenheit und sollten sich der ihrigen auch bewusst sein. Die dritte Ebene, die Ebene der Orientierung, umfasst die Perspektivität derjenigen, die sich mit den Wahrnehmungen der Zeitgenossen und den Deutungen durch die Nachgeborenen auseinandersetzen und zu eigenen Perspektiven auf die Gegenwart und die Zukunft gelangen.11

Nach Bergmann meint der Begriff der Multiperspektivität im engeren Sinn somit allein die Kombination von Primarquellen aus unterschiedlichen Perspektiven. Wogegen bei der Verbindung von Primärquellen mit späteren Deutungen, zum Beispiel von Literatur oder Kunst, von Kontroversität gesprochen wird. Der Ebene der Orientierung weißt Bergmann den Begriff der Pluralität zu.12 Die weiter gefasste Variante des Begriffs Multiperspektivität umfasst hingegen die Perspektivität der zu einem historischen Prozess lebenden Personen, die Perspektivität in der Deutung durch Nachgeborene und die Perspektivität in den Orientierungen derjenigen, die sich mit den Wahrnehmungen der Zeitgenossen und Deutungen der Nachgeborenen auseinandersetzen. Damit umfasst Multiperspektivität im weiteren Sinn alle relevanten Perspektiven auf einen zu betrachtenden historischen Gegenstand.

Allerdings unterliegt der Begriff der Multiperspektivität unterschiedlichen Akzentuierungen. So schrieb Jochen Huhn 1995 bezug nehmend auf die Begriffsdefinition Klaus Bergmanns, dass bei ihm die Multiperspektivität primär auf die Darstellung unterschiedlicher Perspektiven abziele. Allein die Notwendigkeit der Darstellung reicht unter Berücksichtigung des historischen Lernens nicht aus.13 Das es Klaus Bergmann nicht nur um die Darstellung der Perspektiven geht wird in einer Textpassage seines 2000 erschienen Buches deutlich:

„Statt einer Einlagerung von vorgeordnetem narrativen Wissen muss vielmehr gelernt werden, wie man sich in der Zeit orientieren kann, wie man sich informieren kann, indem man sich mit unterschiedlichen Quellen und unterschiedlichen Urteilen aus der Geschichtswissenschaft oder der weiteren Geschichtskultur auseinandersetzen kann, um nach diszipliniertem, an Regeln gebundenem Nachdenken zu eigenen Aussagen und Urteilen, zu einer eigenen tragfähigen historischen Erinnerung- und zu einem eigenen narrativen Wissen- zu kommen.“ 14

Die Begriffsdefinition Jochen Huhns richtete sich vorrangig auf die Erkenntnis des Phänomens Perspektivität und auf seine Bedeutung für historisches Lernen. Der Umgang der Schüler/innen mit Geschichte steht bei Jochen Huhn im Vordergrund. Primär interessierte Huhn nicht das Ergebnis des Erkenntnisprozesses, sondern der Prozess selbst. Diese Akzentverschiebung von Ergebnis und Prozess der Multiperspektivität im Geschichtsunterricht scheint banal zu sein. Sie kann aber bei Verknüpfung der beiden Akzentuierungen zu einem fruchtbaren Ergebnis führen.

Es stellt einen großen fachdidaktischen Unterschied dar, ob Schüler/innen die Multiperspektivität im Geschichtsunterricht nur als unterschiedliche Perspektiven eines historischen Prozesses wahrnehmen und erkennen, oder ob sie die Komplexität des Phänomens Perspektivität und des Erkenntnisprozesses durchschauen.15 Dies wird deutlich am Beispiel der Sichtweisen der BRD und der DDR zu den historischen Ereignissen um den 13. August 1961- Bau der Berliner Mauer. Es ist geschichtsdidaktisch relevant, ob die Lernenden lediglich die unterschiedlichen Sichtweisen der beiden geteilten Staaten kennen oder ob sie ein Fremdverstehen entwickeln, welches sie befähigt, aufgrund von vielfältigen Einflussfaktoren zu weitreichenden Erkenntnissen innerhalb des Lernprozesses zu gelangen.16 Wenn der Begriff Multiperspektivität in den nun folgenden Gliederungspunkten verwendet wird, dann bezieht sich dieser, auf die Begrifflichkeit im weiteren Sinne, unter Berücksichtigung der Darstellung und dem Zustandekommen von unterschiedlichen Perspektiven, also auf den Erkenntnisprozess an sich.

III. Das Zustandekommen historischer Urteile

Bevor eine fachdidaktischen Betrachtung von Multiperspektivität im Geschichtsunterricht möglich wird, sind grundlegende Überlegungen anzustellen, wie ein Historiker zu seinen Erkenntnissen gelangt. Dies ist schon deshalb notwendig, weil sich der Lernprozess der Schüler/innen immer wieder auf die Arbeitsweise eines Historikers bezieht beziehungsweise beziehen sollte. Obwohl die folgenden Ausführungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können, ist es notwendig an einigen Stellen tiefer in die Problematik einzudringen, um die Komplexität des Erkenntnisprozesses eines Historikers zu verdeutlichen.

Jochen Huhn spricht im Zusammenhang mit seinen theoretischen Erläuterungen des Projektes „Perspektivität im Prozess des historisch- politischen Lernens“ vom Konstitutionszusammenhang historischer Erkenntnis.17 Daran angelehnt soll im Folgenden der Forschungsprozess eines Historikers dargestellt werden. Die an Jochen Huhn angelehnte18 und durch Klaus Bergmanns Ebenen der Multiperspektivität19 erweiterte Skizze verdeutlicht den Konstitutionszusammenhang historischer Erkenntnis idealtypisch.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einflussfaktoren auf das historische Urteil

Wie die weitere Arbeit noch zu zeigen hat, kommt der Einführung der Schüler/innen in die Methodik der Geschichtswissenschaft eine grundlegende fachdidaktische Bedeutung zu. Die Methoden der Wissenschaft sollen letztlich in vereinfachter und vor allem schülergerechter Form auf den Geschichtsunterricht übertragen werden. Das dahinter stehende pädagogische Prinzip der Wissenschaftspropädeutik ist nicht mit dem Prinzip der Wissenschaftsorientierung im Geschichtsunterricht zu verwechseln. Es kommt auf eine unmittelbare Begegnung mit der Wissenschaftsdisziplin an und nicht nur auf die Ausrichtung der historischen Lerninhalte auf den neuesten Wissenschaftsstand.20

Nach Jochen Huhn muss historisches Lernen in prinzipieller Analogie zur Arbeit des Historikers erfolgen. Der Eindruck von Objektivität und Eindeutigkeit im Geschichtsunterricht sollte vermieden werden, da er den historischen Erkenntnisgewinn der Lernenden gefährdet. Nur durch Multiperspektivität im Unterricht wird Geschichte lebendig und führt zu einem Diskurs, der immer auch ein Diskurs über die Zukunft unserer Gesellschaft ist.21

Die Gesamtheit der außer- und innerpsychischen Einflussfaktoren, durch die die Ebenen der Multiperspektivität entstehen, bezeichnet Huhn als Bezugsrahmen.22 Um welche Einflüsse es sich hierbei handeln kann, soll nun geklärt werden. Während des Forschungsprozesses wirken persönliche, politische, religiöse und strukturelle Einflüsse auf den Forscher bewusst oder unbewusst ein. Diese führen dazu, dass sich der Forscher die historische Wirklichkeit so und nicht anders vorstellt. So spielen persönliche Neigungen und Interessen eine besonders große Rolle in der Wahrnehmung von historischen Ereignissen.

Da es aus der Vergangenheit nicht über jedes Ereignis und jeden Handelnden Informationen gibt aber auch nicht jede Information, die es gibt, vom Forscher zur Kenntnis genommen werden kann, führt dies zu einer standortgebundenen Perspektivität und Selektivität. Auch aktuelle politische, soziale, ökonomische oder kulturelle Diskussionen in der Öffentlichkeit haben Auswirkungen auf die Objektivität einer historischen Aussage. Bereits die Fragestellung des Forschers kann einer solchen außerpsychischen Beeinflussung unterliegen. Die Vorstellung über den Geschichtsverlauf oder allgemeine politische Zielvorstellungen führen zu einer unterschiedlichen Darstellung von historischen Ereignissen.23 Weitere Einflussfaktoren sind die materiellen Lebensbedingungen, die propagierten oder tatsächlich anerzogene Wertmaßstäbe und die lebensgeschichtliche Erfahrung eines Historikers.24

Durch diese Einflüsse kann es während des Forschungsprozesses zu unterschiedlichen Phänomenen kommen, welche nicht nur für die historische Methode gilt, sondern für die Hermeneutik im Allgemeinen. So werden einzelne unverstandene Sachverhalte in der Betrachtung latent Außeracht gelassen, in der Hoffnung dass die weiteren Fortschritte beim Verständnis anderer Sachverhalte es noch erlauben werden, die Gesamtgestalt des Zusammenhangs und des Urteils zu erkennen (“Let it pass- Verfahren“).25 Ebenfalls besteht die Gefahr, dass an einen Gegenstand Hypothesen, Vermutungen, Kontexte oder Wissensbestände herangetragen werden, die sich mit den Deutungen anderer Sachverhalte im zu verstehenden Bereich plausibel verbinden (“Filling in- Verfahren“).26 Weiterhin birgt die hermeneutische Methode für den Historiker die Gefahr von einer eigenen Interpretation nicht voll überzeugt zu sein, doch über keine schlüssigere Deutung zu verfügen. In diesem Fall gibt er die nicht überzeugende Deutung erst auf, wenn sie durch weitere Deutungen unschlüssig wird (“Unless- Annahme“).27

Durch die Annahme, dass nicht jeder Sachverhalt sofort logisch erscheint und immer neue Deutung im Laufe des Forschungsprozesses hinzukommen, steuert man den Prozess so, dass später noch möglichst viele künftige Erkenntnisse interpretationsprägend eingearbeitet werden können („Retrospektiv- prospektive Interpretation“).28 Auch die Deutung historischer Sachverhalte nach den Indikatoren für Normalität birgt eine ständige Gefahr der standortgebundenen Interpretation. Zu diesen Indikatoren werden die Typikalität, die Wahrscheinlichkeit, die Vergleichbarkeit, die kausale Eingebundenheit, die instrumentale Effizienz, die Notwendigkeit gemäß einer natürlichen oder moralischen Ordnung sowie substanzielle Kongruenz gezählt („Verwendung der Normalform als Interpretationsschablonen“).29

Diese außerpsychischen und innerpsychischen Einflussmöglichkeiten auf den historischen Erkenntnisprozess können nur schwer einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Für die spätere fachdidaktische Betrachtung der Einflussfaktoren reicht diese Aufzählung jedoch aus.

Einen weiteren nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Urteil eines Historikers hat die Konstruktion von Zusammenhängen jeglicher Art. Es ist hilfreich die vergangenen Ereignisse nicht nur im kleinen Umfeld zu betrachten, sondern eine Betrachtung aller relevanten Wirklichkeitsschichten zu realisieren. Dies ist schon deshalb notwendig, damit eigentümliche Merkmale und Wirkungszusammenhänge eines historischen Sachverhaltes besser wahrgenommen, gedeutet und interpretiert werden können. Das Bewusstsein des Historikers, ob sich eine Forschungsfrage auf die Mikroebene geschichtlicher Analyse (Einzelmensch, Kulturen, …) oder auf die Makroebene (politische Systeme und ihre inter- bzw. transnationale Vernetzung) bezieht, ist für das historische Urteil von großer Bedeutung. Nur wenn sich der Forscher der Dimensionen seiner Fragestellung bewusst ist, kann er die auf den einzelnen Untersuchungsebenen erzielten Ergebnisse in den Gesamtzusammenhang einfügen. So würde eine wissenschaftliche Betrachtung zur Deutschen Frage von 1949 bis 1989/ 90 die Dimensionen und Zusammenhänge verkennen, wenn sie nicht auch die Vernetzung der beiden Teilstaaten in der restlichen Welt in Betracht ziehen würde.

2. Die Arbeit am Material

Die Geschichtsschreibung und das Verständnis von Geschichte haben sich in der Vergangenheit in einem ständigen Prozess befunden. So wurde vor allem im 19. Jahrhundert Geschichte als eine Einheit gesehen, an deren Ende die vernünftige Gesellschaft stehen würde (z.B. Marx). Heute werden die verschiedenen Zeitepochen, wie die Kirche im Mittelalter, die Frau in der Antike oder die Sklaverei in den USA, von den Fragestellungen und den Gegenständen des Historikers mit bedingt. Erst durch die Vermehrung von Perspektiven innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Geschichte konnte die Geschichtswissenschaft an Bedeutung gewinnen.30

Deshalb gibt es in der heutigen Geschichtsschreibung unterschiedliche Blickwinkel, die vergangene Zeit wahrzunehmen. Zum einen der Querschnitt, also die Momentaufnahme, die die vielschichtige Verflochtenheit des Gleichzeitigen zum Vorschein bringt. Zum anderen den Längsschnitt, dabei erscheint mehr das prozessuale Moment der Geschichte. Beachtung finden unter dieser Perspektive die Zustände und Situationen, die durch Ursache-, Wirkungs- und Bedingungs- Beziehungen miteinander verknüpft sind. Der Historiker dringt bei seinen Forschungen somit immer von den Wirkungen zu den Ursachen vor.

Er könnte die Anfänge und Ursachen auch gar nicht darstellen, wenn er nicht schon die Ergebnisse und Wirkungen kennen würde.31 Im Gegensatz zu anderen Wissenschaftsgebieten kann sich der Historiker nicht auf logische Evidenz oder wiederholbare Erfahrung verlassen. Die Richtigkeit oder Verfehltheit der konstruierten Geschichte des Interpreten beruhen nur auf der Konstruktion von Vorstellungen und Bewusstseinsinhalten32 aus gesammelten Quellen zum Forschungsgegenstand. Die historische Wirklichkeit wird demnach konstruiert und ist zwangsläufig perspektivisch. Im Gegensatz zur sozialen und politischen Wirklichkeit der Gegenwart kann der Historiker keine praktischen Untersuchungen am Gegenstand durchführen, um zu beobachten, wie etwas gemacht wird, wie dies beispielsweise mit Hilfe der Ethnomethodologie33 möglich wäre.

Der Historiker muss sich, wenn es ihm um Wahrheitskriterien geht, auf eine allgemeine Stimmigkeit und Plausibilität berufen. Um diesen Anspruch erfüllen zu können und um den Rückhalt bei seinen Historikerkollegen zu finden, muss er nach bestimmten Forschungsregeln vorgehen. Allerdings geben selbst diese Regeln keine Garantie für die wahre Geschichte, denn da Geschichte so perspektivisch ist, wie die ungeregelt zustande kommenden Zeugnisse der Vergangenheit, aus denen sie gebildet wird34, ist das Werk eines Historikers niemals ganz von einer fremden und seiner eigenen Sichtweise und Persönlichkeit zu trennen.

2.1 Quellenanalyse

Der Historiker verfährt bei seinen Forschungen nach der hermeneutischen Methode. Mit Hilfe dieser Methode sollen vergangene Wirklichkeiten anhand von unterschiedlichen Quellen erarbeitet werden. Zu Beginn dieser Methode steht eine Fragestellung, welche eine historische Tatsache beinhaltet. Bereits der Begriff der historischen Tatsache muss zu Beginn näher erläutert werden. Eine historische Tatsache ist ein Ereignis der Vergangenheit, welches isoliert betrachtet noch gar nichts beweißt. So beweißt die Tatsache, dass es am 17. Juni 1953 in der DDR zu Aufständen verschiedener Volksschichten kam, nicht, wie es dazu kam und wer die Urheber der Aufstände waren, wenn es sie überhaupt gab.

Der Stellenwert einer historischen Tatsache ist abhängig von der Fragestellung des Historikers, anderen historischen Sachverhalten und besonders von der Bewertung des Historikers dieser anderen Sachverhalte. Es ist somit die Aufgabe des Historikers die Ereignisse zu ermitteln, um festzustellen was und wie etwas gewesen ist. Die jeweilige Fragestellung zu Beginn des Forschungsprozesses eines Historikers führt dazu, dass nur diejenigen Tatsachen relevant erscheinen, die für die Beantwortung der Forschungsfrage von Interesse sind.35

Im Laufe der Datensammlung ergeben sich immer neue Sachverhalte der Vergangenheit, an die zu Beginn der Forschung noch gar nicht gedacht wurde. Es sind dann neue Quellen zu erschließen, um die Zusammenhänge einer historischen Tatsache aufklären zu können. Mit dem verbesserten Vorverständnis tritt der Historiker nun erneut an den zu verstehenden Sachverhalt heran. Diese Einkreisung der Vergangenheit wird hermeneutischer Zirkel genannt, obwohl es sich gerade nicht um einen oberflächlichen Kreis auf der Wirklichkeit handelt, sondern vielmehr um ein immer tieferes Vordringen in den zu verstehenden Gegenstand. Es ist mehr ein Schraubvorgang als ein Zirkelprozess.36

Es sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass eine möglichst große Menge an Quellen recherchiert und gesammelt werden sollte. Eine große Datenmenge schützt den Historiker zwar nicht vor Fehlurteilen, doch verringern sie das Risiko, die Aussagekraft von Quellen zu über- oder zu unterschätzen.

2.2 Quellenkritik

Innerhalb der Quellenkritik müssen vom Historiker vor allem zwei Überlegungen durchgeführt werden, bevor die Quellen in den weiteren Prozess des Erkenntnisgewinns einfließen können. Es ist zu prüfen, ob die Quelle wirklich das ist, was sie zu sein vorgibt und wieweit die Aussagekraft der Quelle reicht. Hierbei spielt die Bestimmung der Quellengattung, zur Einschätzung der Bedeutung, eine wichtige Rolle. Es ist von großer Relevanz für das historische Urteil zu hinterfragen, wie das historische Zeugnis entstanden und vor allem wie es in die Gegenwart überliefert wurden ist. Quellen die in der Absicht erzeugt wurden der Nachwelt Kenntnis von Geschehenem zu geben, werden Traditionen genannt, während alle anderen Quellen als Überreste bezeichnet werden. Dies hat schon deshalb für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschichte hohe Bedeutung, weil es einen grundsätzlichen Unterschied in der Bewertung der Quelle ergibt, ob zum Beispiel ein Schriftstück zufällig oder absichtlich überliefert wurde. So gibt es viele Schriftstücke von glänzenden Rhetorikern der Antike (z.B. Cicero, Sulla, Pompeius, Caesar), die in anschaulicher Weise die Vor- und Nachteile der römischen Verfassung zu Zeiten der Republik darstellten, aber nur wenige Darstellungen von und über römische Frauen, Sklaven oder Bewohnern ausgebeuteter römischer Provinzen.

Würde zum Beispiel in der heutigen Zeit ein Schriftstück eines gallischen, helvetischen oder germanischen Stammesoberhauptes gefunden werden, so würde in diesem Schriftstück der Feldzug Gaius Julius Caesars im 1. Jahrhundert v. Chr. sicher aus einer anderen Perspektive dargestellt werden. Da dies allerdings nicht der Fall zu sein scheint, müssen sich die heutigen Geschichtswissenschaftler mit den Ausführungen Caesars in den Büchern „De Bello Gallico“37 zufrieden geben. Dies kann aber nicht bedeuten, dass die Ausführungen des späteren römischen Diktators auf Lebenszeit unkritisiert übernommen werden sollen. Berichte über eigene Taten der Vergangenheit werden naturgemäß so verfasst sein, dass die eigene Person in einem vorteilhaften Licht erscheint. Im Fall Caesars dienten seine Bücher über den Gallischen Krieg der Rechtfertigung seiner, zum Teil vom römischen Senat nicht genehmigten, Taten.38

Vor allem sind bei der Quellenkritik folgende wichtige Fragen an den Gegenstand zu richten: Liegt überhaupt eine authentische Quelle vor? , Was konnte der Urheber der Quelle über die historische Tatsache wissen und was nicht? , Was wollte er darstellen und was wollte er verschweigen (was eventuell aus anderen Quellen bereits bekannt ist)? , Welche Werturteile oder Einstellungen prägen die Quelle?39 Die Quellenkritik erfüllt durch die erwähnte Verfahrensweise eine wichtige Funktion für die Gültigkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung. Nur wenn der Forscher seine Vorgehensweise während des Arbeitsschrittes Quellenkritik anderen Forschern und seinem allgemeinen Publikum zugänglich macht, beziehungsweise seine Vorgehensweise in seinen wissenschaftlichen Ausführungen darlegt, besteht die Möglichkeit für Außenstehende die Belastbarkeit der vom Forscher getroffenen Aussage auf ihre Gültigkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit zu überprüfen.

2.3 Quelleninterpretation

Nachdem die Quellen durch die Analyse und die Kritik erschlossen wurden, sind sie Quelleninterpretation zu unterziehen. Unter Berücksichtigung der Fragestellung sind die Quellen auszuwerten. Sie müssen gedeutet und in den geschichtlichen Zusammenhang eingeordnet werden. Bei Textquellen handelt es sich dabei meist aus methodischer Sicht um eine Inhaltsanalyse. Da zwischen dem Entstehen der Quelle und der Inhaltsanalyse des Historikers ein großer zeitlicher Abstand liegen kann, ist zu Beginn der Interpretation eine Begriffsklärung, der in der Quelle und vom Forscher verwendeten Begriffe, vorzunehmen. Dies ist notwendig, da sich Begriffe nicht nur auf wandelte Sachverhalte beziehen, sondern selber einer Wandlung unterliegen.40 So verstanden Aristoteles (384- 322 v. Chr.) und die Menschen der Antike unter dem Begriff Demokratie etwas anderes als dies heute der Fall ist. Der Demokratiebegriff wurde von Aristoteles mit Pöbelherrschaft gleichgesetzt, einer Herrschaft der armen, ungebildeten Masse und blieb danach für viele Jahrhunderte überwiegend negativ besetzt. Erst in der Neuzeit gewann der Begriff seinen positiven Bedeutungsgehalt. Denn Demokratie wurde nun als Herrschaft des Volkes, vor allem als Volkssouveränität begriffen, aus der heraus sich das gesamte politische Gemeinwesen eines Staates begründen und rechtfertigen lassen musste.41

Die Aussagefähigkeit einer Quelle hängt auch davon ab, was der Historiker aus ihr herauslesen möchte. Quellen sprechen nur, wenn man sie befragt, und sie sprechen so oder anders, je nach dem, wie man sie befragt.42

Wie die kurzen Ausführungen zur Quellenkritik gezeigt haben, ist es wichtig die Perspektive und das Selbstverständnis des Quellenautors (z.B. Caesars) zu kennen, um sich in den Standpunkt des Autors hineinversetzen zu können. Die erforderliche Perspektivenübernahme des Historikers ermöglicht eine dem Gegenstand gerecht werdende Interpretation. Gerade wenn der Interpret den Standpunkt der Quelle nicht teilt, muss eine neutrale Perspektivenübernahme erfolgen, um den wissenschaftlichen Ansprüchen der Quellenarbeit auch weiterhin genügen zu können.

Dabei ist ein umfassendes Hintergrundwissen notwendig. Nur wenn der Historiker die institutionellen und biographischen Hintergründe des Quellenautors kennt, kann der die Bedingungen unter denen die Quelle entstanden ist, in seiner Interpretation berücksichtigen. Dies muss unter Berücksichtigung des zeitspezifischen Horizonts erfolgen. Sind einzelne Vorraussetzungen dem Historiker nicht bekannt oder werden sie in der Quelle nicht erwähnt, so muss eine erneute Recherche unter Berücksichtigung der Forschungsfrage erfolgen.

Es kommt bei der Quelleninterpretation letztendlich darauf an, zur Kenntnis zu nehmen was die Quelle sagt und dies einer Kritik zu unterziehen, sowie an die Quelle mit eigenen Vermutungen und Hypothesen heranzutreten. Die eigenen Vermutungen und Hypothesen erhalten ihren Nährboden meist aus der Tatsache, dass der Interpret die Quelle aus der Distanz, also nicht zum Zeitpunkt seiner Entstehung, betrachtet. Wenn der Historiker die Quelleninterpretation mit dieser zeitlichen Distanz und dem Wissen von Heute durchführt, sowie die möglichen Einflussfaktoren auf die Interpretation selbstkritisch reflektiert, wird er durch die Quellenarbeit zu ertragreichen Erkenntnissen bezüglich der Ursachen-, Wirkungs- und BedingungsBeziehungen von historischen Sachverhalten gelangen.43

3. Das historische Urteil

Der bisherige Gliederungspunkt III zeigte, dass der Historiker während seines Forschungsprozesses die historischen Ereignisse auf seine Tatsächlichkeit prüft, um diese dann im Zusammenhang mit anderen Tatsachen einer Bedeutung zu zuschreiben. Es sind somit die zwei bedeuteten Aufgaben des Historikers herausgearbeitet, die Verifikation und die Interpretation.44 Die Unterscheidung von Tatsachen und Urteilen können in der Geschichtswissenschaft nicht eindeutig auseinander gehalten werden. So besteht über die Tatsächlichkeit des 17. Juni 1953 und den stattgefundenen Aufständen von DDR- Bürgern in verschiedenen Städten des Landes keine Diskrepanz. Eventuelle unterschiedliche Meinungen von Historikern in bezug auf das Zustandekommen dieses Ereignisses, liegen aus diesem Grund in der Beurteilung und nicht in der Tatsachenfeststellung. Es liegt infolgedessen in der Natur der genannten Arbeitsschritte eines Historikers, dass es die eine Perspektive auf Geschichte nicht geben kann. Die hermeneutische Arbeit eines Historikers kommt nie an ein definitives und nicht mehr zu überschreitendes Ende, denn jedes Ganze, das zum Verständnis einer Quelle diente, kann stets seinerseits daraufhin befragt werden, welcher Gesamtgestalt Teil es war.45

Der Interpret der Quelle bricht immer dann den hermeneutischen Schraubvorgang ab, wenn er meint, mit seinem Verstehen weit genug gekommen zu sein. Dieser Vorgang wird meist von der zu Beginn der hermeneutischen Arbeit gestellten Forschungsfrage beeinflusst. Aber auch die Quellenverfügbarkeit kann den Abbruch der hermeneutischen Arbeitsweise beschleunigen.

Das Urteil eines Historikers ist somit das methodisch kontrollierte Verfahren, um geschichtlichen Erscheinungen eine bestimmte Bedeutung zuzusprechen. Dieses Urteil bedarf immer eines Maßstabes.46 Die Bedeutung der Herrschaft Caesars in Rom ließe sich zum Beispiel an den Erwähnungen seiner Taten in anderen Überlieferungen messen. Die Bedeutung des 17. Juni 1953 für die Bürger der BRD zum Beispiel an Reaktionen der zeitgenössischen Massenmedien oder an der zahlenmäßigen Beteiligung von Bürgern an Gedenk- oder Kundgebungsveranstaltungen des Kuratoriums Unteilbares Deutschland.47

Bei einer Erforschung der Bedeutung des gleichen historischen Ereignisses für den DDR- Bürger bedürfte es allerdings einer anderen methodischen Vorgehensweise. Die Analyse von zeitgenössischen Medien würde sicher nicht zur bestmöglichen Annäherung des Historikers an die tatsächlich vorherrschende Stimmung am 17. Juni 1953 führen.48 Eine Zeitzeugenbefragung hätte in diesem Fall mehr Chancen auf Annäherung an die tatsächlich vorherrschende Bedeutung für DDR Bürger. Zusammenfassend für die überblicksartig betrachtete geschichtswissenschaftliche Forschungsweise lässt sich deshalb sagen: Die Einflussfaktoren auf das historische Urteil sind nicht vollständig kontrollierbar. Aus diesem Grund müssen Historiker den Forschungsablauf und die eigenen Interessen offen legen, denn Subjektivität und Parteilichkeit sind mit Wissenschaftlichkeit nicht zu vereinbaren.49 Der Anspruch an ein historisches Urteil liegt in der historischen Objektivität. Diese Kriterium ist nur dann erfüllt, wenn die Forschungsergebnisse im beschriebenen Sinn richtig, dass heißt überprüfbar sind und eine grundsätzliche Bereitschaft des Historikers besteht, die Ergebnisse der Forschungen mit den eigenen möglichen Einflussfaktoren zu reflektieren und sie bei der Quelleninterpretation zu berücksichtigen. Ebenfalls muss die Bereitschaft bestehen, die Ergebnisse in einen gesellschaftlichen Diskurs einzubringen, um diese dann mit anderen Historikerkollegen kontrovers diskutieren zu können.

Geschichte ist nicht monolithisch, sondern immer multiperspektivisch. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des Themas für historisches Lernen in der Schule. Neben dem Bewusstsein und der Behandlung multiperspektivischer Standpunkte im Unterricht, wie sie Klaus Bergmann fordert,50 sollten die Schüler/innen der Sekundarstufen auch den Erkenntnisprozess selber, wie ihn besonders Jochen Huhn fordert51, thematisieren. Diesen Ansprüchen, der Kenntnis und Konfrontation von Multiperspektivität im Geschichtsunterricht und der eigenen Durchführung von historischen Erkenntnisprozessen, versuchen die Ausführungen der nun folgenden Gliederungspunkte gerecht zu werden.

IV. Multiperspektivität im Geschichtsunterricht

1. Psychologische Vorbetrachtungen nach Robert L. Selman

Die Thematik der Multiperspektivität im Geschichtsunterricht fordert von den Schüler/innen umfassende kognitive Leistungen ab. Die Planung von Geschichtsunterricht unter der Berücksichtigung der Multiperspektivität darf sich aus diesem Grund nicht nur an den fachdidaktischen Vorgaben ausrichten, sondern muss die Entwicklungspsychologie im Kindes- und vor allem im Jugendalter berücksichtigen. Um dieser Anforderung gerecht zu werden, wurde dieser Gliederungspunkt der geschichtsdidaktischen Betrachtung vorangestellt.

Die Kinder beurteilen häufig die Richtigkeit oder Falschheit einer geschichtlichen Handlung mehr auf der Basis der beobachtbaren Folgen als nach den Absichten der handelnden Personen. Eine Unterscheidung von möglichen unterschiedlichen Gesichtspunkten, zum Beispiel des eigenen mit dem eines anderen, findet erst ab einem bestimmten Entwicklungsstadium statt. Es besteht für einen Lehrer somit die ständige latente Gefahr, von den Schüler/innen kognitiv- begriffliche und emotionale Fähigkeiten zu erwarten, die der Jugendliche noch gar nicht entwickelt hat. Die Relevanz dieser entwicklungspsychologischen Vorbetrachtung ergibt sich aus der Tatsache, dass Geschichte und damit auch der Geschichtsunterricht meist mit konträren Meinungen und Auseinandersetzungen sowie mit moralischen Dilemmata verbunden ist. Der fachdidaktische Anspruch sich vom Belehrungsunterricht und starren Faktenlernen zu entfernen, fordert die Jugendlichen somit zur Perspektivenübernahme auf.52 Perspektivenübernahme bezeichnet in der Psychologie das Bewusstsein über den Standpunkt einer anderen Person, wodurch das Verhalten, Denken und Fühlen dieser Person besser verstanden wird.53

[...]


1 Vgl. Sander, Wolfgang: Handbuch politische Bildung, Bonn 2007, S. 15.

2 Schiele, Siegfried/ Schneider, Herbert (Hrsg.): Reicht der Beutelsbacher Konsens, Schwalbach/ Ts. 1996.

3 Schöfthaler, Traugott: Bildungsziel Multiperspektivität, Die andere Seite der Bildungsqualität, in: Krüger- Potratz, Marianne (Hrsg.): Das Bildungsprogramm der UNESCO- von der Erziehung zum Pluralismus bis zum Nachhaltigkeitslernen, Münster 2006, S. 9- 18, hier S. 17.

4 Bergmann, Klaus: Multiperspektivität, Geschichte selber denken, Schwalbach/Ts. 2000.

5 Huhn, Jochen: vergangenes sehen, Perspektivität im Prozess historischen Lernens, Bonn 1995.

6 Sächsische Akademie für Lehrerbildung (Hrsg.): Geschichte denken statt pauken, Didaktischmethodische Hinweise und Materialien zur Förderung historischer Kompetenzen, Meißen 2005.

7 Vgl. Bergmann, Klaus: Personalisierung im Geschichtsunterricht. Erziehung zur Demokratie, Stuttgart 1972, S. 75 ff.

8 Vgl. Gies, Horst: Geschichte, Geschichtslehrer, Geschichtsunterricht, Weinheim 1998, S. 23- 24.

9 Vgl. Bergmann, Klaus: Multiperspektivischer Geschichtsunterricht, in: Süssmuth, Hans (Hrsg.): Geschichtsunterricht im vereinten Deutschland (Teil I), Baden- Baden 1991, S. 80- 91, hier S. 89.

10 Vgl. Bergmann, 2000, S. 47.

11 Vgl. Bergmann, 2000, S. 29- 30.

12 Ebd.

13 Vgl. Huhn, 1995, S. 26- 27.

14 Bergmann, 2000, S. 31- 32.

15 Vgl. Huhn, 1995, S. 28- 29.

16 Zum Beispiel: Warum ließ die BRD den Mauerbau zu?, Warum hat die DDR- Bevölkerung sich einmauern lassen?, Wie konnte die DDR- Staatsführung nach so einem Rechtsbruch die Macht behaupten?, Wie verhielten sich auseinander gerissenen Familien nach dem Mauerbau? Wie hätte ich mich unter Berücksichtigung der Einflussfaktoren verhalten? …

17 Huhn, 1995, S. 18ff.

18 Ebd., S. 21.

19 Vgl. Bergmann, 2000, S. 29- 30.

20 Lenzen, Dieter: Pädagogische Grundbegriffe, Band 2, Reinbek 1989, S.1282.

21 Huhn, Jochen: Geschichtsdidaktik, Köln 1994, S. 28.

22 Huhn, 1995, S. 28.

23 Die Berliner Mauer wurde aufgrund dieser Tatsache in der BRD als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und in der DDR als ein antifaschistischer Schutzwall angesehen.

24 Huhn, 1995, S. 19.

25 Vgl. Patzelt, Werner: Einführung in die Politikwissenschaft, Passau 2003, S. 166.

26 Vgl. Ebd., S. 167.

27 Vgl. Ebd.

28 Vgl. Ebd.

29 Vgl. Ebd.

30 Iggers, G. Georg: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 113.

31 Vgl. Rohlfes, Joachim: Geschichte und ihre Didaktik, Göttingen 1997, S. 48- 49.

32 Siehe Gliederungspunkt III.1.

33 Patzelt, Werner: Grundlagen der Ethnomethodologie, Passau 1987.

34 Vgl. Bergmann, 1972, S. 75 ff.

35 Vgl. Sellin, Volker: Einführung in die Geschichtswissenschaft, Göttingen 2005, S. 25- 27.

36 Patzelt, 2003, S. 166.

37 Siebenborn, Elmar: C. Julius Caesar, De Bello Gallico, Göttingen 1995.

38 Vgl. Ebd., S. 17- 22.

39 Patzelt, 2003, S. 168.

40 Vgl. Rohlfes, 1997, S. 69.

41 Vorländer, Hans: Demokratie- Geschichte eines Begriffes, in: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 284, Bonn 2004, S. 4-5, hier S. 5.

42 Sellin, 2005, S. 49.

43 Vgl. Rohlfes, 1997, S. 83- 85.

44 Vgl. Sellin, 2005, S. 36- 37.

45 Vgl. Patzelt, 2003, S. 167.

46 Vgl. Sellin, 2005, S. 42.

47 Meyer, Christoph: Die deutschlandpolitische Doppelstrategie, Wilhelm Wolfgang Schütz und das Kuratorium Unteilbares Deutschland (1954- 1972), Landsberg am Lech 1997.

48 Dieser Aussage liegt die Vermutung des Autors zu Grunde, dass die Massenmedien in der DDR einer Zensur unterlagen.

49 Rohlfes, 1997, S. 64- 65.

50 Vgl. Bergmann, 2000, S. 42.

51 Vgl. Huhn, 1995, S. 27.

52 Vgl. Selman, Robert: Sozial- kognitives Verständnis, Ein Weg zu pädagogischer und klinischer Praxis, in: Geulen, Dieter (Hrsg.): Perspektivenübernahme und soziales Handeln, Texte zur sozial- kognitiven Entwicklung, Frankfurt am Main 1982, S. 223- 256, hier S. 224.

53 Vgl. Siegler, Robert/ DeLoache, Judy/ Eisenberg, Nancy (Hrsg.): Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, München 2005, S. 487.

Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Multiperspektivität im Geschichtsunterricht
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Geschichte)
Note
1,5
Autor
Jahr
2008
Seiten
80
Katalognummer
V93613
ISBN (eBook)
9783638069236
ISBN (Buch)
9783638954440
Dateigröße
1266 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Multiperspektivität, Geschichtsunterricht, Geschichtsdidaktik, Beutelsbacher Konsens, Persepektivität, Kontroversität
Arbeit zitieren
Thomas Koneczny (Autor:in), 2008, Multiperspektivität im Geschichtsunterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93613

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