Die Relevanzstrukturen von Live- und Studioaufnahmen im Jazz

Eine phänomenologische Analyse der Relevanzstrukturen von Live- und Studioaufnahmen in der Deutsch-Schweizer Jazzszene nach der Relevanztheorie von Alfred Schütz


Masterarbeit, 2020

508 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Originality Statement

Abstract

1. Einleitung
1.1 Ziele und Ausgangspunkt der Arbeit
1.2 Verwendungszusammenhang
1.3 Forschungsfeld
1.4 Methodik
1.5 Aufbau der Arbeit

2. Theorie und Grundlagen
2.1 Begriffsdefinitionen
2.1.1 Konzertmitschnitte
2.1.2 Studioaufnahmen
2.2 Alfred Schütz
2.2.1 Lebenswelt
2.2.2 Wissensvorrat
2.2.3 Relevanzstrukturen
2.2.3.1 Thematische Relevanz
2.2.3.2 Interpretationsrelevanz
2.2.3.3 Motivationsrelevanz
2.2.4 Typen im Wissensvorrat

3. Aktueller Forschungsstand

4. Methodik
4.1 Forschungsparadigma
4.2 Experteninterview

5. Durchführung
5.1 Feldzugang
5.2 Erstellung des Leitfadens
5.3 Auswahl von Interviewpartnern
5.4 Kontakt via E-Mail
5.5 Ablauf der Interviews
5.6 Forschungsethik
5.7 Analyse
5.7.1 Ausgangsmaterial
5.7.2 Variablen
5.7.2.1 Motivationsrelevanzen
5.7.2.2 Thematische- und Interpretationsrelevanzen
5.7.3 Kategorien

6. Ergebnisse
6.1 Zweck
6.1.1 Visitenkarte, Werbung
6.1.2 Verkauf
6.1.3 Dokumentation
6.1.4 Reflexion
6.2 Kosten
6.3 Klangvorstellung
6.4 Raumakustik
6.5 Tontechniker
6.5.1 Feedback
6.5.2 Sichtbarkeit
6.5.3 Geschwindigkeit
6.5.4 Motivation
6.6 Medien
6.7 Flow
6.8 Liveaufnahmen
6.8.1 Technik
6.8.2 Publikum
6.9 Studioaufnahmen
6.9.1 Takes
6.9.2 Schnitt
6.9.3 Monitoring
6.9.4 Quasi-Live
6.9.5 Stress
6.10 Technik
6.11 Konkurrenz

7. Diskussion

8. Zusammenfassung

8.1 Kritik
8.1.1 Gütekriterien
8.1.2 Fremdverstehen

9. Literaturverzeichnis

Anhang

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Variable 1 – Motivierte Motivationsrelevanz

Tabelle 2: Variable 2 – Auferlegte Motivationsrelevanz

Tabelle 3: Variable 3 – Auferlegte thematische Relevanz

Tabelle 4: Variable 4 – Motivierte thematische Relevanz

Tabelle 5: Variable 5 – Motivierte Interpretationsrelevanz

Tabelle 6: Variable 6 – Auferlegte Interpretationsrelevanz

Originality Statement

I hereby declare that this submission is my own work and to the best of my knowledge it contains no materials previously published or written by another person, or substantial proportions of material which have been accepted for the award of any other degree or diploma. Any contribution made to the research by others is explicitly acknowledged in the thesis. I also declare that the intellectual content of this thesis is the product of my own work.

Submitted in partial fulfillment of the Master of Creativ Industries.

Abstract

Die vorliegende Masterthesis gibt eine Übersicht über die wichtigsten Relevanzen von Jazzmusikern in ihrer alltäglichen Lebenswelt bezüglich der reproduktiven Praxis mithilfe von Live- und Studioaufnahmen. Die Ergebnisse bestätigen die These von Ekkehard Jost, dass Studioaufnahmen eher der Herstellung eines nachhaltigen Produktes dienen und dass Liveaufnahmen eher dokumentarischen Charakter haben. Jedoch übersteigen die Motivationsrelevanzen diese beiden Zwecke. Des Weiteren konnten noch eine Reihe von anderen Relevanzen zu diesem Thema ausfindig gemacht werden. Beispielsweise die Relevanz der Raumakustik, des Tontechnikers und der Kosten.

Das Thema wurde mithilfe der Relevanztheorie von Alfred Schütz bearbeitet dessen Relevanztypen fanden in der Datenerhebung (Leitfaden) sowie in der Auswertung Anwendung. Die Daten wurden mithilfe von Experteninterviews gewonnen, die transkribiert und mit der Inhaltsanalyse nach Gläser und Laudel ausgewertet wurden. Insgesamt wurden 9 Interviews mit Musikern geführt, die in der Deutsch-Schweizer Jazzszene aktiv sind und über Aufnahmeerfahrung verfügten.

Die Arbeit richtet sich vor allem an Tontechniker und Jazzmusiker.

This master thesis provides an overview of the most important relevance of jazz musicians in their everyday life with regard to reproductive practice with live and studio recordings. The results confirm Ekkehard Jost's thesis that studio recordings are more used to produce a sustainable product and that live recordings are used for documentary. However, the motivational relevance exceeds these two purposes. Furthermore, a number of other relevances on this topic could be identified. For example, the relevance of room acoustics, sound technicians and the costs of a recording.

The topic was treated by using the relevance theory of Alfred Schütz, whose relevance types were used in the data collection (interview guideline) as well as in the evaluation. The data was obtained with the help of expert interviews that were later transcribed and evaluated with the content analysis according to Glässer and Laudel. A total of 9 interviews were conducted with musicians who are active in the German-Swiss jazz scene and who had recording experience.

The work is aimed primarily at sound engineers and jazz musicians.

1. Einleitung

Die Möglichkeit der akustischen Aufzeichnung spielt seit der ersten Aufnahme der Dixieland Jass Band im Jahre 1917 für die Verbreitung des Jazz eine große Rolle (O'Meally, 1998 S. 409) und beeinflussten den Jazz auch stilistisch. Vorerst jedoch vor allem durch ihre technischen Einschränkungen wie beispielsweise die Aufnahmedauer (Meeder, 2008 S. 31). Der technische Fortschritt führte später dazu, dass längere Aufnahmen mit besserer Qualität möglich wurden und die Relevanz von Aufnahmen weiter stieg. Das erste im Jahre 1953 veröffentlichte Live-Jazz-Album von Dave Brubeck war beispielsweise so erfolgreich, dass es der Band einen Plattenvertrag bei Columbia Records einbrachte, was wiederum den Weg frei machte für weitere Aufnahmen, die in die Jazzgeschichte eingingen (Kallen, 2012 S. 68).

Im Laufe der Zeit kristallisierten sich zwei unterschiedliche Typen von Aufnahmepraktiken heraus, die jeweils ihre spezifischen Vor- und Nachteile besaßen. Auf der einen Seite der Konzertmitschnitt und auf der anderen Seite die Aufnahme im Studio. Die Notwendigkeit, den Geräuschpegel auf ein Minimum zu reduzieren, führte die Musiker zunächst ins Aufnahmestudio. Aber es suspendierte auch das Publikum aus dem Geschehen, was sich neben anderen Faktoren auf die Performanz der Musiker auswirkte (Meeder, 2008 S. 31). Eine Diskussion über die „richtige“ Aufnahmemethode, um eine Jazzperformanz adäquat aufzuzeichnen, war die Folge. Ob Jazz besser Live oder als Aufnahme genossen werden sollte, beschäftigte ebenfalls den französischen Philosophen Jean-Paul Sartre. „ Jazz is like bananas – it must be consumed on the spot.” (Gottlieb, 1999 S. 710) Sartre beschreibt in seinem Artikel sehr bildhaft, was in einem Jazzclub passiert und welchen Einfluss die Musik auf die Zuhörer hat. „The trombone sweats, you sweat, the trumpet sweats, you sweat more, and then you feel that something has happened on the bandstand; the musicians don't look the same: they speed ahead, they infect each other with this haste, they look mad, taut, they seen to be searching for something.” (ebd. S. 711) Auf den ersten Blick scheint diese Aussage trivial, doch es bringt einen interessanten Widerspruch in der Aufnahmepraxis zum Vorschein. Das spontane Improvisieren, die Interaktion zwischen den Musikern und Publikum gilt für den Jazz als das Alleinstellungsmerkmal schlechthin (Smudits und Steinert, 1997 S. 7). Davon ausgehend kann die Hypothese aufgestellt werden, dass die Reproduktion von Jazz am besten mit einer Liveaufnahme gelingt. Im Kontrast dazu steht die Praxis der Aufnahme im Tonstudio. Warne Marsh, ein amerikanischer Saxofonist, verdeutlicht dieses Problem in einem Interview: „Recorded jazz doesn't impress me at all, and the best performances are still going to be live performances. [...] It`s manufactured music, not good musical performance. To my ears they`re not; they don`t move me.” (Baggenæs, 2008 S. 87) In einem späteren Abschnitt des Interviews entgegnet Marsh auf die Frage, ob es eine Aufnahme gäbe, in dem sein Spiel gut repräsentiert wäre: “The recent Revelation record, which has my solos edited from appearance at the Half Note in 1959. I think it`s the best picture of my playing on record. And that`s a live recording.” (ebd.)

1.1 Ziele und Ausgangspunkt der Arbeit

Ausgehend von den zuvor genannten Quellen kann die Annahme getroffen werden, dass ein hypothetischer Widerspruch zwischen Jazz als Erlebnis und der Praxis der Reproduktion gegeben ist. Ziel der Arbeit soll es jedoch nicht sein, diesen hypothetischen Widerspruch zu untersuchen, sondern eine möglichst unbefangene empirische Analyse der von Musikern interpretierten und geschaffenen Strukturen ihrer „Lebenswelt“ in Bezug auf die reproduktive Praxis anzufertigen.

Daher wird im Folgenden untersucht, welche Relevanzen in Bezug auf das Thema Live- und Studioaufnahmen für die Musiker in ihrer alltäglichen Lebenswelt eine Rolle spielen und was sie zu diesem Thema emotional und denkerisch beschäftigt. Das Endergebnis soll eine Übersicht der Relevanzen sein, die die wichtigsten Themen, Probleme, Motivationen und Einstellungen der Probanden beinhaltet.

Die Problemstellung der Arbeit entspringt der Arbeitswelt eines Aufnahmetechnikers, dessen tägliche Praxis sich idealtypisch in die oben genannten Aufnahmearten einteilen lässt. Der räumliche, technische und situative Kontext einer Aufnahme ist zweifellos entscheidend für die Qualität und somit für die Zufriedenheit der Musiker (Albrecht, 2010 S. 118). Es stellt sich ableitend die Frage, warum sich Musiker für die eine oder andere Aufnahmevariante entscheiden und welche Erwartungshaltung dahintersteht. Um ein Grundverständnis zu schaffen, wird der Begriff Relevanz genauer bestimmt. Um ein Verständnis von den Relevanzen der Musiker zum Thema Live- und Studioaufnahmen zu bekommen, muss eine metatheoretische Perspektive eingenommen werden. Dabei muss die Relevanzstruktur der Phänomene „Live- und Studioaufnahme“ betrachtet werden. Des Weiteren muss diese aus Sicht der Musiker rekonstruiert und interpretiert werden. Das Forschungsproblem wird in dieser Arbeit aus streng subjektiver Perspektive behandelt, beinhaltet die Bedeutungszuschreibung der Probanden und führt darüber zur Aufdeckung allgemeiner Strukturen und zu den Phänomenen selbst (Dreher, 2012 S. 28).

1.2 Verwendungszusammenhang

In erster Linie soll die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Jazzforschung leisten. Es gibt ausrechend Literatur, die das Thema Live- und Studioaufnahmen aus technischer Perspektive beleuchtet. Eine Arbeit, die die subjektiven Ansichten und Relevanzsysteme der Musiker untersucht, soll als gute Ergänzung dienen. Außerdem können die Forschungsergebnisse von Musikern und Technikern dazu genutzt werden, die eigenen Handlungen und Produktionsweisen zu reflektieren, zu hinterfragen und ggf. anzupassen. Die psychologischen und soziologischen Gesichtspunkte ihrer Arbeit sind ein entscheidender Faktor, wenn es um gelungene Performanz, Konzerte und Aufnahmen geht.

Auch Jazzmusik befindet sich – wie die Medienwelt im Allgemeinen – im stetigen Wandel. Das Verständnis für die immanente Logik der Szene und deren Relevanzen, können einen Beitrag dazu leisten, sich als Musiker oder Techniker besser zu positionieren. Ein weiterer Grund, warum dieses Thema von Interesse ist, beruht auf der in der Vergangenheit gemachten Erfahrung, dass die Relevanzsysteme und Erwartungen von Musikern und Technikern durchaus unterschiedlich sein können. Des Weiteren können die Ergebnisse für Anschlussforschung genutzt werden. Das Endergebnis wird eine Reihe von Relevanzen zum Thema sein, bei denen es sich lohnt, einzelne herauszugreifen und in der Tiefe weiter empirisch zu untersuchen.

1.3 Forschungsfeld

Das Forschungsinteresse richtet sich auf den Jazz. Er wurde nicht nur als Livemusik konzipiert, sondern birgt ebenfalls einen immanenten Widerspruch in sich (Meeder, 2008 S. 12). Der Umstand, dass Jazz als improvisierte Musik vor allem vom Moment und dessen einmaligen Erlebnischarakter lebt, der durch die Reproduktion zu verschwinden droht. Die Frage nach der Aufnahmemethode und dem Kontext ist demnach äußerst wichtig, denn Jazz war in seiner Ursprungsform eine Musik, die ausschließlich live performt wurde. Selbst auf Notation wurde verzichtet und eine Liveperformance war ein rein singuläres Ereignis, das flüchtiger war als die meisten Kunstformen (Parent, 2003 S. 1).

Das Forschungsfeld ist geografisch eingeschränkt und es wird nur der deutschsprachige Teil der Schweiz untersucht. Das liegt einerseits in der Erreichbarkeit der Probanden begründet, andererseits in der sprachlichen Vielfalt der Schweiz. Dazu kommt, dass für eine studentische Arbeit nur begrenzte zeitliche und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen.

Die Auswahl des Forschungsfeldes soll sich aus methodischer Perspektive nach der Frage richten, wo das Forschungsproblem am deutlichsten zutage tritt (Przyborski und Wohlrab-Sahr, 2010). Da das Livekonzert als natürliches Habitat des Jazz beschrieben wird und das Studio als Raum für Tonaufnahmen in Erscheinung tritt, sollte die Probanden Erfahrung in beiden Umgebungen haben und damit zum Thema in relevanter Beziehung stehen (Honer, 1994b S. 626). Die Protagonisten selbst nach der qualitativen Relevanz von Live- und Studioaufnahmen zu befragen ist unverzichtbar. Außerdem zeichnen diese sich durch eine grösstmögliche Nähe zu den Phänomenen aus. Musiker können des Weiteren als Experten ihrer eigenen musikalischen Alltagspraxis bezeichnet werden. Um das Feld weiter auf der Ebene der Akteure einzugrenzen, werden Musiker befragt, die über langjährige Erfahrung verfügen und kontinuierlich in der Szene mitwirken. Sie besitzen Kenntnisse über die historische Entwicklung, sind in der Szene aktiv und können ihre aktuellen Sichtweisen reflektieren. Ausserdem wird versucht, das Feld der Befragten möglichst heterogen zu gestalten (Alter, Herkunft, Instrument).

1.4 Methodik

Als Datenerhebungsmethode wurde das Experteninterview gewählt. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass das Interview möglichst unstrukturiert sein soll, um den Relevanzsystemen der Probenden höchste Priorität zukommen zu lassen. Zweitens sollen nicht beliebige Probanden befragt werden, sondern Experten. Experten verstehen sich im Folgenden als Personen, die „über spezifisches Rollenwissen verfügen, solches zugeschrieben bekommen und diese besonderen Kompetenzen für sich selbst in Anspruch nehmen. (Przyborski und Wohlrab-Sahr, 2010 S. 119) „ Für das Experteninterview wird ein Leitfaden entworfen, der aber nur zur groben Orientierung dienen soll. Da die Untersuchung das Relevanzsystem der Probanden ins Zentrum stellt, muss im Interview entsprechend darauf eingegangen werden und was die Befragten selber als Rekonstruktion ihrer thematisch einschlägigen Wissensbestände anbieten.“ (Honer, 1994a S. 624) , soll im Mittelpunkt stehen. Die Interviews werden aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Die Daten liegen zur Auswertung in schriftlicher Form vor. Analysiert werden die Daten mit der computergestützten Inhaltsanalyse von Gläser und Laudel („MIA“). Dies bietet den Vorteil eines strukturierten Vorgehens, einfacher Datenverwaltung als auch einer gewissen Flexibilität, die dem Forschungsgegenstand angemessen ist.

1.5 Aufbau der Arbeit

Im ersten Teil dieser Arbeit werden das Interessengebiet, der Hintergrund der Arbeit und das Forschungsproblem genauer erläutert. Anschließend wird im zweiten Teil der Stand der aktuellen Forschung betrachtet und in Bezug gesetzt. Im dritten Teil wird die Methodologie diskutiert und erläutert. Nachfolgend werden die Datenauswertung, die Interpretation, die Diskussion und die Zusammenfassung der Ergebnisse präsentiert.

2. Theorie und Grundlagen

2.1 Begriffsdefinitionen

2.1.1 Konzertmitschnitte

Bereits in der Einleitung wurde in einem Zitat von Warne Marsh der Begriff des „Live-Recording“ eingeführt. Die Variationsbreite der beiden Idealtypen „Live-“und „Studioaufnahmen“, ist groß. Jedoch wird unter der „Liveaufnahme“ meist einen Konzertmitschnitt am Veranstaltungsort oder wenigstens außerhalb des Tonstudios verstanden (Bartlett und Bartlett, 2007). Verwechslungsgefahr besteht bei diesen Begriffen, weil auch im Studio von „Liveaufnahme“ gesprochen werden kann, wenn Musiker ein Stück gleichzeitig einspielen oder versucht wird, die Konzertsituation nachzubilden (Friedrich, 2008 S. 228). Diese spezielle Form der Studioaufnahme ist im Zusammenhang mit der vorliegenden Forschungsarbeit ausdrücklich nicht gemeint und wird im weiteren Verlauf als „Quasi-Live-Aufnahme“ bezeichnet. Ein weiterer Aspekt, durch den sich eine „Liveaufnahme“ charakterisieren lässt, ist, dass während der Aufnahme nicht in das Geschehen eingegriffen werden kann (Izhaki, 2012 S. 5) und es in Echtzeit stattfindet (Jones und Bennett, 2015). Das schließt technische Verfahren wie das „Overdubbing“ aus. Außerdem wird bei einer Liveaufnahme die Anwesenheit von Publikum vorausgesetzt.

2.1.2 Studioaufnahmen

Die Abgrenzung einer Studioaufnahme zum Konzertmitschnitt sind in erster Linie der Ort und die technischen Möglichkeiten. Kommerzielle Tonstudios müssen eine Reihe von allgemeinen Bedingungen erfüllen. Dazu zählt beispielsweise die akustische Entkopplung der Räume, eine optimierte Akustik, eine regulierte Temperatur und Luftfeuchtigkeit (Newell, 2012). Dazu kommt die technische Infrastruktur, die es ermöglicht, das „Overdubbing-Verfahren“ anzuwenden und Instrumente akustisch getrennt aufzunehmen. Es ist also möglich, dass Material im Nachhinein zu bearbeiten, was bei Konzertmitschnitten i. d. R. nur eingeschränkt der Fall ist. Außerdem ist der Zweck einer Studioaufnahme häufig die „zielbewusste Herstellung eines Produktes“ wohingegen Live-Aufnahmen eher der „Dokumentation eines musikalischen Ereignisses“ dienen (Smudits und Steinert, 1997 S. 21).

2.2 Alfred Schütz

Als theoretische Grundlage für diese Arbeit dient die Relevanztheorie von Alfred Schütz. Diese bietet den Vorteil einer metatheoretischen Perspektive, die mit dem Forschungsgegenstand nur mittelbar verbunden ist (Przyborski und Wohlrab-Sahr, 2014 S. 43). Der Ausgangspunkt der Arbeit von Schütz war das Bestreben der Sozialwissenschaft und besonders der Handlungstheorie von Max Weber, eine philosophische Grundlage zu geben (Schützeichel, 2007 S. 102). Demnach ist das Werk von Schütz keine soziologische Theorie, sondern deren methodologische Basis. Im Zentrum des Forschungsinteresses von Alfred Schütz stand menschliches Handeln und dessen Begründung in den Sinnstrukturen der Wirklichkeit (Käsler, 1999 S. 337). Das Fundament für seine „verstehende“ Soziologie bilden die Handlungstheorie von Max Weber und später auch die Phänomenologie von Edmund Husserl (ebd.). Schütz vertritt einen – aus heutiger Sicht – radikal konstruktivistischen Standpunkt. Die Wirklichkeit tritt demnach nur in der subjektiven Wahrnehmung zutage (Neuweg, 2000 S. 9). In sozialinteraktiven Prozessen entwickeln sich Zeichensysteme und Erfahrungsmuster, die sich als Struktur der „Lebenswelt“ äußern und die Grundlage für den gemeinsamen „Wissensvorrat“ bilden (Käsler, 1999 S. 338).

2.2.1 Lebenswelt

Die „Lebenswelt“ ist ein zentraler Begriff, den Schütz von Husserl übernahm und dazu benutzte, den Gegenstand der Sozialwissenschaften genauer zu bestimmen (Muckel, 1993 S. 124). „Lebenswelt“, meint die alltägliche vorwissenschaftliche natürliche (ungefragte) Welt der Menschen, auf der sich letztlich jede wissenschaftliche Erkenntnis aufbaut (Schütz und Luckmann, 2017 S. 29). Die Lebenswelt wird vom erwachsenen Subjekt als gegeben vorgefunden, ist selbstverständlich, „wirklich“ und bilden den unproblematischen Rahmen für das Denken und Handeln (Muckel, 1993 S. 125). „Sie ist der unbefragte Boden aller Gegebenheiten wohlumschriebener Objekte mit bestimmten Eigenschaften.“ (Schütz und Luckmann, 2017 S. 30) Die Lebenswelt schließt demnach Fantasiewelt, Traumwelt und Kinderwelt kategorisch aus (Muckel, 1993 S. 124). Wichtig ist, dass das Verhältnis des Subjekts zur Lebenswelt ein wechselseitiges ist. Menschen handeln in Ihr, aber unser Handeln wird auch von Ihr bestimmt. Das leitende Prinzip in der natürlichen Lebenseinstellung im alltäglichen Handeln ist ein durchgehend pragmatisches (Schütz und Luckmann, 2017 S. 33). Ferner geht Schütz davon aus, dass in der Lebenswelt andere Subjekte leben, die auf der Grundannahme der Intersubjektivität in der natürlich-vorwissenschaftlichen Einstellung, die Konstitution der Lebenswelt ähnlich erleben, wie er selbst (Schütz und Luckmann, 2017 S. 31). „Die alltägliche Lebenswelt ist also grundsätzlich intersubjektiv, ist Sozialwelt.“ (ebd. S. 45) Der Begriff der Lebenswelt und die Theorie von Alfred Schütz sind aus heutiger Sicht immer noch höchst aktuell. Es handelt sich hierbei sogar, um das „systematische Kernproblem der Sozialwissenschaften“ (Flick, 2017 S. 114) .

2.2.2 Wissensvorrat

Der „Wissensvorrat“ ist bei Schütz ein wichtiges Element und für die vorliegende Arbeit von hoher Bedeutung, da er sich unter anderem durch die „Relevanzstrukturen“ auszeichnet. Die Lebenswelt muss vom Individuum gedeutet, oder wie Schütz es nennt, „ausgelegt“ werden, um in ihr Handeln und Wirken zu können. Diese Auslegung und die darauf beruhenden situativen Erfahrungen, Sinnsetzung- und Deutungsakte bilden die Grundstruktur des Wissensvorrates (Neuweg, 2000 S. 24). Der Wissensvorrat beruht aber nicht ausschließlich auf selbst gemachten Erfahrungen, sondern ebenfalls auf den Erfahrungen die Andere gemacht haben (z. B. Eltern, Freunde). Dieser Wissensvorrat ist der Bezugsrahmen für das handelnde Subjekt und die Gegenstände in ihm sind immer typenhaft (z. B. Saxofon, Baum, Stuhl) (Schütz und Luckmann, 2017 S. 33). Jede Auslegung, auch die neuer problematischer Gegenstände, werden auf den Wissensvorrat bezogen und die vorhandenen Auslegungsschemata (anwendbare frühere Erfahrung) werden erweitern oder ergänzt. Wobei neue Erfahrungen nicht zwangsläufig problematisiert werden müssen, solange ähnliche Bezugsschemata (vertraute Typen) vorhanden sind und das Neue somit vertraut erscheint (ebd. S. 37). Wichtig ist, dass die subjektive Stabilität der „Wirklichkeit“ auf der Annahme beruht, dass dieser Wissensvorrat „grundsätzlich Gültigkeit behalten wird.“ (ebd. S. 34). Der Wissensvorrat kann als dynamisch-pragmatischer Problemlösungsvorrat angesehen werden, der aber nur verändert oder ergänzt wird, insofern er in seiner bisherigen Form nicht zur Problemlösung betragen konnte (ebd. S. 37). Der Wissensvorrat beruht auf subjektiven situationsabhängigen Erlebnissen und ist damit in seiner Grundstruktur zeitlich, räumlich, sozial strukturiert und begrenzt (ebd. S. 153).

2.2.3 Relevanzstrukturen

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den subjektiven Relevanzstrukturen von Musikern in Bezug auf Live- und Studioaufnahmen und die Relevanztheorie beschreibt, wie sich im Bewusstsein von Subjekten diese Wertezuschreibungen konstituieren (Dreher, 2012 S. 29).

Doch wie genau ist Relevanz bei Schütz definiert? Relevanz ist ein Synonym für Wichtigkeit oder Erheblichkeit (Hillmann und Hartfiel, 2007 S. 745). Bei Schütz sind „Relevanzen Auswahlkriterien, mit deren Hilfe das handelnde Individuum aus seinem Wissensvorrat, die für eine Situationsbewältigung nützlichen Wissenselemente auswählt. Insgesamt ergeben die R.en einen Orientierungsrahmen für das Handeln in sozialen Situationen.“ (ebd.) Schütz stellt außerdem fest: „ Alle Erfahrungen und alle Handlungen gründen in Relevanzstrukturen. Jede Entscheidung stellt außerdem den Handelnden mehr oder minder explizit vor eine Reihe von Relevanzen. Das Relevanzproblem ist vielleicht das wichtigste und zugleich schwierigste Problem, das es in der Beschreibung der Lebenswelt zu lösen gilt.“ (Schütz und Luckmann, 2017 S. 253) Die Relevanztypen sind aber nicht als klar abtrennbare Konzepte zu verstehen. Das Gleiche gilt für die Unterscheidung in auferlegte und motivierte Relevanz (ebd. S. 265).

2.2.3.1 Thematische Relevanz

Die thematische Relevanz beschreibt, wie ein Thema aus dem vertrauten Feld des Unproblematischen ins Bewusstsein gelangt bzw. beschreibt, warum ein Thema relevant wurde. „Thematische Relevanzen werden durch jede Veränderung oder Modifikation geschaffen, die uns nötigen, die Idealisierung des »und so weiter« und des »immer wieder«, welche ja unserer ganzen Erfahrung zu Grunde liegen zu unterbrechen.“ (Schütz und Zaner, 2016 S. 58f)

1. Auferlegte thematische Relevanz:

Unvertrautes (im Wissensvorrat nicht routinemäßig Vorhandenes) zieht im Rahmen von Vertrauten die Aufmerksamkeit auf sich. Der Gegenstand oder die Handlung taucht unerwartet auf und muss zwangsläufig, sprungartig problematisiert werden. Schütz unterscheidet verschiedene Arten der auferlegten thematischen Relevanz: „Unvertrautes zieht im Rahmen des Vertrauten die Aufmerksamkeit auf sich; im »Sprung« von einem Wirklichkeitsbereich geschlossener Sinnstruktur zum anderen begegnet man neuen Themen; Veränderung der Bewusstseinsspannung innerhalb des gleichen Wirklichkeitsbereiches können zu »unmotivierten« Themenwechsel führen; Aufmerksamkeit kann sozial erzwungen werden“ (Schütz und Luckmann, 2017 S. 259) .

2. Freiwillige thematische Relevanz:

Die motivierte Relevanz entspringt der freiwilligen Aufmerksamkeitszuwendung zu einem Thema. Das Thema kann neu gesetzt oder ein bestehendes weiter vertieft werden.

2.2.3.2 Interpretationsrelevanz

Die Interpretationsrelevanz beschreibt, wie mit einem Thema umgegangen wird, was sich bereits im Bewusstsein befindet. Das Thema wird nun mit relevanten Wissenselementen abgeglichen. Mit welchen Wissenselementen das Thema abgeglichen wird, ist abhängig vom Gesamtkontext (ebd. S. 279).

1. Auferlegte Interpretationsrelevanz:

Routinemäßige Deckung zwischen Erfahrungsgegenstand und Typus im Wissensvorrat. „Interpretation“ erfolgt automatisch und unbewusst und ist deswegen auferlegt. Hierbei werden keine neuen Elemente dem Wissensvorrat hinzugefügt, sondern vorhandene Elemente bestätigt und erhärtet. Führt zur Festigung von Um-zu-Motivationsketten und zur Automatisierung (ebd. S. 309).

2. Motivierte Interpretationsrelevanz:

Keine zur Bewältigung der Situation hinreichende Deckung zwischen Erfahrungsgegenstand und Typen es kommt zur bewussten Problemauslegung. Übereinstimmung mit dem Wissensvorrat liegt nicht vor (kein vertrauter Typus). Der Wissensvorrat wird ergänzt und erweitert.

2.2.3.3 Motivationsrelevanz

Die Motivationsrelevanz beschreibt das subjektive Interesse an einer Situation bzw. der Problemlösung (Eberle, 1984 S. 52). Schütz unterscheidet auch hier in auferlegt und freiwillige Motivationsrelevanz, wobei sich die zwei Arten nur in der Zeitperspektive unterscheiden (Schütz und Luckmann, 2017 S. 293).

1. Freiwillige Motivationsrelevanz:

Geleitet von Um-zu-Motiven (Erwartung an künftiges Geschehen bzw. variabler Zukunftsentwurf) ist die freiwillige Motivationsrelevanz auf Tages- oder Lebenspläne bezogen. Je nach Interpretation des Erfahrungsgegenstandes erfolgt ein anderes Handeln. Handlungen sind immer vom Ziel her motiviert und der Handlungsentwurf steht vor der eigentlichen Handlung und wird in die Zukunft „fantasiert“ (Schütz und Luckmann, 2017 S. 292). Der Sinn der Handlung ist demnach immer im Handlungsentwurf zu suchen (Fischer, 2012 S. 36 ff) Jedes Um-zu-Motiv wird retrospektiv zum „unechten“ Weil-Motiv.

2. Auferlegte Motivationsrelevanz:

Motivationsrelevanz geleitet von echten Weil-Motiven sind in der Vergangenheit verankerte Einstellungen. Die Motivation beruht auf im Wissensvorrat abgelegten Typen und dessen sedimentierten Erfahrungen (Schütz und Luckmann, 2017 S. 297).

2.2.4 Typen im Wissensvorrat

„Jeder Typ des lebensweltlichen Wissensvorrates ist ein in lebensweltlichen Erfahrungen »gestifteter« Sinnzusammenhang. Anders ausgedrückt, der Typ ist eine in vergangenen Erfahrungen sedimentierte, einheitliche Bestimmungsrelation.“ (ebd. S. 314) Typen bilden sich genauso, wie andere Elemente im Wissensvorrat durch Situationen, die problematisiert werden mussten, da der bisherige Wissensvorrat zur Problembewältigung nicht ausreichte. Es kann demnach nur Typen geben, die problematisiert wurden (ebd. S. 316). Genau wie der Wissensvorrat selbst festigen sich Typen, die in der Lebenswelt im Laufe der Zeit immer wieder bestätigt und ergänzt werden. Es bilden sich relativ endgültige Typen, die zum Gewohnheitswissen zählen und der Zugriff in Alltagssituationen geschieht automatisch (ebd. S. 317).

[...]

Ende der Leseprobe aus 508 Seiten

Details

Titel
Die Relevanzstrukturen von Live- und Studioaufnahmen im Jazz
Untertitel
Eine phänomenologische Analyse der Relevanzstrukturen von Live- und Studioaufnahmen in der Deutsch-Schweizer Jazzszene nach der Relevanztheorie von Alfred Schütz
Hochschule
( Middlesex University in London )  (SAE Institute Switzerland)
Veranstaltung
Audio Production
Note
1.3
Autor
Jahr
2020
Seiten
508
Katalognummer
V935445
ISBN (eBook)
9783346263407
ISBN (Buch)
9783346263414
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit wurde mit "Distinction" abgeschlossen.
Schlagworte
Liveaufnahmen, Studioaufnahmen, Jazz, Schweiz, Phänomenologie, Alfred Schütz, Relevanzen, Tontechnik, Audioengineering, Relevanzstrukturen, Relevanztheorie, Phänomenologische Analyse, Experteninterview, Inhaltsanalyse, Tonstudio, Konzert, Soundengineering, Konzertmittschnitt, Typus, Thematische Relevanz, Interpretationsrelevanz, Motivationsrelevanz, Lebenswelt, Wissensvorrat, Leitfaden, Interview, Raumakustik, Publikum, Monitoring, Creative Media Industries, MA Professional Practice
Arbeit zitieren
Andre Fritzsche (Autor:in), 2020, Die Relevanzstrukturen von Live- und Studioaufnahmen im Jazz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/935445

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