Auswirkungen von Intervallen in der Musik auf die Individualentwicklung des Kindes


Hausarbeit, 2019

26 Seiten, Note: (keine Note; bestanden)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Wie verändert sich der Zugang zu Musik im Verlauf der Unter- und Mittelstufe und was 4 folgt daraus für den Lehrplan im Fach Musik?
2.1 Wie entwickelten sich die verschiedenen Intervalle in der Historie und was bedeutet dies 4 in Bezug auf die Individualentwicklung des Kindes?
2.1.1 Die Quinte(nstimmung)
2.1.2 Die Terz(enstimmung)
2.1.3 Die Sekunde
2.1.4 Die Prime
2.2 Was folgt daraus für die altersbezogenen Grundhaltungen des Pädagogen und den 11 Lehrplan im Fach Musik?
2.2.1 Die Klassen 1 und 2
2.2.2 Die Klassen 3 bis 6
2.2.3 Die Klassen 7 und 8

3. Fazit

1. Einleitung

Im Zuge von verschiedenen Fachdidaktik-Veranstaltungen am Seminar sowie einem Kurs zur musikalischen Auffassungsgabe von Oberstufenschülern im Zusammenhang mit musik­geschichtlichen Ereignissen, welchen ich bei der Musiklehrertagung 2019 in Berlin besucht hatte, entwickelte ich ein großes Interesse, mich recherchierend mit der anthroposophischen Sichtweise auf musikpädagogische Inhalte zu beschäftigen.

Aufgrund meines praktischen Interesses und im Hinblick auf meinen zukünftigen Unterrichts­schwerpunkt in der Unter- und Mittelstufe, habe ich die vorliegende Arbeit genutzt, um mir - angeregt durch das Zitat Rudolf Steiners „ ... Wir müssen natürlich die Töne haben, aber die Musik liegt zwischen den Tönen“ (Steiner in Wünsch, 1995: 27) - anhand von Literaturrecherche einen Überblick über die Bedeutung und Wesenheit der wichtigsten Intervallstimmungen zu erarbeiten. Ich werde untersuchen, wie sich die Intervalle in der Historie entwickelten und was dies in Bezug auf die Individualentwicklung des Kindes bedeutet.

„In der Schule muss der Geist der Sache walten. Der kann aber nur kommen, wenn man selber in den Sachen drinnen steht, nicht wenn man ihn durch äußerliche Methoden an die Kinder heranbringen will“ (Steiner 1920 in Stockmeyer, 2001: 258). Dieser Satz macht meines Erachtens schon die Bedeutung des Wortteils „Stimmung“ im Begriff der „Intervallstimmungen“ deutlich, da hier die Atmosphäre, aus welcher heraus unterrichtet wird, neben dem konkreten Inhalt oder der Methodik eine essentielle Grundlage für den Unterricht bildet.

Ich werde darüber hinaus versuchen, abzuleiten und zu sammeln, wie sich die Grundhaltung des Pädagogen und ein waldorfpädagogischer „Lehrplan“ im Fach Musik an den Etappen der kindlichen Entwicklung im Zusammenhang mit der Auffassungsmöglichkeit für musikalische Phänomene orientieren kann. Ich werde versuchen, Parallelen zwischen den musikgeschichtlichen Ereignissen und der Individualentwicklung des Menschen, an geeigneten Stellen einfließen zu lassen, muss aber aufgrund des begrenzten Umfangs auf die Ausweitung dieses Zusammenhangs auf die Oberstufe verzichten.

Zur Strukturierung meiner Kapitel möchte ich einleitend erwähnen, dass „Der Gesichtspunkt des Verhältnisses von Innen- und Außenwelt . die Einteilung in siebenjährige Perioden (ergibt), die mit der biologischen Entwicklung zusammenfallen“ (Lievegoed, 2007: 15). Da in der Musik, im Zusammenhang mit der Veränderung der musikalischen Auffassungsgabe im Verlauf der Kindesentwicklung, der Zugang zum Innen- und Außenraum von besonderer Bedeutung ist, möchte ich mich in dieser Arbeit auf die im obigen Zitat genannte Gliederung des Lebens in „Jahrsiebte“ beziehen.

2. Wie verändert sich der Zugang zu Musik im Verlauf der Unter- und Mittelstufe und was folgt daraus für den Lehrplan im Fach Musik?

2.1 Wie entwickelten sich die verschiedenen Intervalle in der Historie und was bedeutet dies in Bezug auf die Individualentwicklung des Kindes?

In Rudolf Steines Ansätzen zur Musikpädagogik charakterisiert er Stimmungen, die mit den jeweiligen Intervallen wesensverwandt seien: „Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein konventionelles Verständnis der musikalischen Intervalle, sondern um Charakterisierung bestimmter musikalischer Atmosphären, die in Zusammenhang mit den betreffenden musikalischen Intervallen erlebt werden können, allerdings unter einem erheblich weiteren Erlebnis-, Bedeutungs­und Verständnishorizont“ (Ronner, 2005: 12). Die Charakteristika der Intervalle waren für Rudolf Steiner ein für die Ereignisse oder Lebensgewohnheiten der Menschen im Verlauf der Historie, und analog dazu ein für die Individualentwicklung des Kindes (s. Kapitel 2.2) bezeichnendes Indiz (Kalwa, 1997: 21). Auch in der Sekundärliteratur werden die Wesenheiten der verschiedenen Intervalle in diesem Sinne phänomenologisch analysiert. Durch Literaturrecherche erarbeite ich die folgenden Zusammenhänge im Hinblick auf das Alter des Schulkindes in der Unter- und Mittelstufe.

Um die Wesenhaftigkeit der Intervalle - beginnend mit der Quinte - vor einem anthroposophischen Hintergrund zu erarbeiten, greife ich einleitend auf das Kind in seinen ersten Lebensjahren zurück. In der anthroposophischen Menschenkunde wird in Bezug auf die Charakteristika des sogenannten ersten Jahrsiebts Folgendes resümiert: „Es (das Kind) erlebt sich als gleichberechtigten Teil dieser Welt, die in sich noch ein Ganzes ist ohne die für das Bewusstsein des Kindes erst deutlich später einsetzende endgültige Spaltung in Individuum und Außenwelt“ (Kalwa, 1997: 14). In diesem Altersabschnitt, in welchem sich das Gefühl von Einheit von „Welt und ich“ zeigt „ . begegnen (wir) dem Phänomen echter, erfüllter Einstimmigkeit“ (Ronner, 2005: 20). Auch nach der Einschulung bleibe diese Grundhaltung noch weiterhin prägend, denn die Kinder lebten vorerst weiterhin in dem Urvertrauen ihrer ersten Lebensjahre, die Welt sei gut und den sinnvoll handelnden Lehrern könnten sie ihr „ganzes Vertrauen“ entgegenbringen (Kalwa, 1997: 15).

2.1.1 Die Quinte(nstimmung)

Im alten China, Ägypten und Griechenland (Antike ab ca. 1500 v. Chr.) bewegten sich die musikalischen Errungenschaften innerhalb des Tonraumes der sogenannten anhemitonischen Pentatonik (Kalwa, 1997: 22). So sei auch heute noch die chinesische Musik von der Quintenstimmung geprägt, da das Tonmaterial eine um d, e, g, a, h, und die oktavierten Töne d und e eine um den Zentralton a angeordnete Skala darstelle (Ronner, 2005: 42). Dieser Begriff beschreibt aus fünf Tönen (C, D, E, G, A) aufgebaute Tonräume, in der keine kleinen Sekunden (Halbtöne), sondern nur große Sekunden (Ganztöne) und eine kleine Terz vorkommen, also noch kein Leittoncharakter existiert. Vielmehr können alle in diesem Tonraum vorhandenen Töne miteinander in wohlklingende Zusammenklänge gebracht werden. Im chinesischen Altertum wurde die Skala aus fünf Tönen, die jeweils im Quintenabstand zueinander standen, durch Transponieren in einen Oktavraum zu einer o. g. pentatonischen Tonfolge gebracht. Aufgrund der Möglichkeit, die Tonleitern von jedem der zwölf Töne jeweils als Grundton beginnen zu lassen, und wiederum Umkehrungen einzubauen, entstanden unter diesen Voraussetzungen 60 verschiedenen pentatonischen Skalen, die auch als Chinesische Tonleitern bezeichnet werden. So wie der anhemitonisch-pentatonische Tonraum mit seinem schwebenden Charakter eine in sich abgeschlossene Klangsphäre entstehen lässt und sich hier in der noch „unperspektivischen“ Musik (Ronner, 2005: 86) noch kein „Sehnsuchtscharakter“ zeigt, lässt sich analog auch zu der Quinte selbst folgendes beobachten: „Ihr Klang hat einen hohen Konsonanzwert und wird als schwebend, in sich abgeschlossen und im besten Sinne „harmonisch“ erlebt. In der Quint schwingt noch nichts „Individuelles“ . sie ist eigentlich noch „überpersönlich“ (Kalwa, 1997: 22). Mit der Quinte treten wir seelisch aus uns heraus, hinein in die umgebende Welt, „ . und gerade das ist es, was das Kind noch als natürliche Fähigkeit mitbringt“ (Wünsch, 1995: 15).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Eigenkomposition

So lässt sich das Wesen der pentatonischen Skala auf die Auffassungsgabe des kleinen Kindes beziehen und es bietet sich an, diese zum leichten Komponieren oder Improvisieren zu nutzen, wie ich es auch bei Wolfgang Wünschs Fachdidaktik-Kurs zum Thema „Improvisation“ praktisch erfahren konnte. Um mich an dieser Stelle selbst zu versuchen und erste Kompositionserfahrungen zu machen, habe ich vier kleine Melodien zu vier Sprüchen aus Rudolf Steiners Seelenkalender komponiert (s. Abb. 1). Die Zweiklänge machen ersichtlich, dass es sich anbietet, das Lied auf der Kinderharfe zu spielen, mit welcher ich auch die Melodie erarbeitet habe. Dass die pentatonischen Skalen auch heutzutage noch in traditionellen Musiken Nord- und Südamerikas, Afrikas oder Asiens verwendet werden, mag auch darin begründet liegen, dass durch die Beziehung zwischen den fünf Tönen im Tonraum auch ohne bestimmte theoretische Regeln anzuwenden, eine wohlklingende Melodie und Harmonie zustande kommt, denn es gebe hier „noch kein Falsch oder Richtig‘“ (Kalwa, 1997: 32). Daher können leicht „unendliche Melodien“ (Kalwa, 1997: 23) entstehen, die im gemeinschaftlichen Musizieren entstehen können und ineinandergreifen, sodass Musiker und Zuhörer in diesem „musikalischen Kosmos“ Eins werden (Kalwa, 1997: 23).

Bezüglich ihrer Wesenheit und des musikgeschichtlichen Kontextes meint der Begriff Quintenstimmung jenseits der formalen Definition, eine pentatonische Skala zu nutzen, das Ausbleiben des Grundtonerlebnisses, von Mehrstimmigkeit und von taktmäßigem Rhythmus. Dieser „ . definiert sich noch ganz aus einem Wechselverhältnis zu dem permanent in Veränderung befindlichen kindlichen Atemduktus als atemgebundenes Rhythmisches“ (Ronner, 2005: 19), und beschreibt damit ein Phänomen, welches noch bis zur polyphonen Mehrstimmigkeit der Renaissance als rhythmisches Element im weiteren Sinne hineinwirkte (Wünsch, 1995: 22). Das „Quintenerlebnis“ beschreibe ein musikalisches Erleben, das sich noch nicht - wie beim Erwachsenen - auf den „Blutrhythmus (Puls)“, sondern auf den „Atemrhythmus“ stütze, auch da die pentatonische Skala durch die Quinten melodisch betrachtet „aufwärts“ (Einatmung) und „abwärts“ (Ausatmen) konstruiert werden könne (Wünsch, 1995: 15, f).

Rudolf Steiner stellt dar, dass das Ziel der Erziehung zu Beginn der Schulzeit darin bestehe, „richtig atmen zu lernen“ (Steiner, 1919).

Bezogen auf das ausbleibende Grundtonerlebnis besitzt die Quinte also eine Klangqualität, welche „ ... noch ohne jedes harmonische Element im Sinne eines Zusammenklangs, der bereits durch seinen Terzcharakter weitgehende Anforderungen an das seelische Erlebnisvermögen des Kindes stellen würde“ (Kalwa, 1997: 31), auskommt.

So bietet sich in den ersten Lebensjahren besonders einstimmiges Liedgut in „ ,quintenstimmiger' Pentatonik“ an, sodass den Kindern ermöglicht wird, „ ... sich ,unbehelligt‘ von Dur und Moll im ,schwerelosen‘, gleichzeitig offenen und in sich geschlossenen Raum ... “ (Kalwa, 1997: 55) und sich in „hüllenbildenden, transparenten“ musikalischen Formen zu bewegen (Ronner, 2005: 87). Gerade diese offene, atmende Atmosphäre veranlasst, als singender/ musizierender Lehrer schon vor dem ersten Ton eines Liedes an eine Stimmung zu schaffen und aus dem entsprechenden Bild bzw. der lebendigen Vorstellung heraus zu musizieren (Wünsch, 1995: 24). Das Lied bekomme so „Wahrheitscharakter“. Die Schule wird hier gewissermaßen zum Ort der Chance für das Kind, mit Musik in Kontakt zu kommen, die seiner wesens- bzw. altersgemäßen musikalischen Auffassungsgabe entspricht, in der es sich naturgemäß „sicher fühlt“ und welche es „ . wirklich innerlich mitvollziehen (kann), d.h. auch innerlich nachschaffen (kann) oder gar selbst musikalisch tätig . “ werden kann (Kalwa, 1997: 32). Martin Sieveking spricht an dieser Stelle davon, dass in der heutigen Zeit, in der die Kinder schon sehr früh mit diversen (nicht-quintenstimmigen) Tonmedien in Kontakt kommen, die Aufgabe des Lehrers mitunter darin bestünde, das Kind erst in diese für seine ganzheitliche Entwicklung wichtige Stimmung zu versetzen. Hierauf reagiere die Klasse in der Regel durch ihr „Gebanntsein“ oder eine ehrfurchtsvolle, heilige, geheimnisvolle Atmosphäre merkbar dankbar, besonders, wenn der Lehrer selbst das Lied für die Kinder erarbeitet habe.

2.1.2 Die Terz(enstimmung)

Den Übergang zur Terzenstimmung bildet die Quartenstimmung, welche sich innerhalb der 3. Klasse ereignet. Auf diese - von einem gewissermaßen noch „unpersönlicheren“ seelischen Innenraum zur Zeit der Quartenstimmung und dem objektiven Charakter der Quarte geprägte Phase - werde ich zu Beginn des Kapitels 2.2.2 kurz eingehen.

Innerhalb des ersten Lebensjahrsiebts erlebt das Kind einen Bruch der vorher selbstverständlichen Sicherheit, des Geborgenseins, des Urvertrauens: Auf diese Zeit (in der das Kind den „Verlust des kindlichen Paradieses“ noch nicht bemerkt, da es mit dem Gefühlsleben noch in der ersten Entwicklungsphase steht) folge eine Metamorphose im Gefühlsleben, welche zu einem Verlust dieses sicheren Gefühls führe (Lievegoed, 2007: 59). Nachdem die kindliche Phantasie die Kluft zwischen „ich“ und „Welt“ noch dem Denken vorenthalten hat, wird nun dieser Gegensatz „Lebensrealität im Gefühl“ (Lievegoed, 2007: 64). Durch die so entstehende Distanz zur Welt und die sich in Teile aufspaltende Ganzheit, entschwinde auch das vorherige Empfinden der Harmonie (Wünsch, 1995: 45). Im Zuge des sogenannten „Rubikon-Phänomens“ fühlt sich das Kind als ein von der Welt abgeschlossenes Wesen, nimmt sich selbst nun nicht lediglich als ein eigenes „Ich“ wahr, sondern erlebt erstmals seine eigene Persönlichkeit bzw. Individualität, die einer Abgrenzung bedarf. Dieses Zurückziehen in sich selbst bedeutet gleichsam die Bildung eines seelischen Innenraums. Hier werde ein gewisses Selbstbewusstsein notwendig, welches das Kind sich in diesem Alter erwerbe (Kalwa, 1997: 33). In den ersten Schuljahren vollziehe sich somit durch den Ätherleib, der von der Außenwelt unabhängig, also „frei“ wird, ein Prozess, der die „äußere“ in „innere“ Bewegung verwandele, wobei diese Bewegung auch beim Erwachsenen - körperlich betrachtet - an den Kehlkopfbewegungen erkannt werden kann, welche eine „ . Verdichtung unseres durch die Musik angesprochenen inneren Bewegungsmenschen“ erkennbar macht (Wünsch, 1995: 17, 19). Diese seelische Innenraumbildung geht wiederum mit körperlichen Veränderungen einher: „Das Bild wird jetzt nicht mehr von den schlanken beweglichen Gliedmaßen beherrscht, vom ganzen Bewegungssystem, welches auch den Rumpf als bewegliches Organ mitenthielt, sondern von dem massigen Inhalt des Rumpfes. Es ist als ob sich etwas vom Eindruck der Kleinkindgestalt auf höherer Stufe wiederholt“ (Lievegoed, 2007: 23). Es scheint gewissermaßen der „äußere Gewölbekeller der Quintenstimmung“ (A.d.V.) in den Brustbereich bzw. den seelischen Bereich des Kindes einzuziehen.

Das Kind sieht sich selbst neben anderen Menschen, erarbeitet sich einen eigenen Blick auf die Welt und wird kritikfähig, sachlich und persönlich konfliktbedürftiger: „Mit dem Ich-Erleben gegen das zehnte Jahr tritt das Kind in eine neue Welt ein. Sie ist musikalisch-dramatisch“ (Lievegoed, 2007: 99). Diese Selbstfindungsphase gehe aber gleichzeitig oft mit neuen Gefühlen wie Einsamkeit oder Traurigkeit einher (Kalwa, 1997: 16). Das zielbewusste Sehnen, welches in der Musik durch die Leittönigkeit ausgedrückt wird, wird Komponente der musikalischen Erlebnisfähigkeit des Kindes. „So wird sich zum Ende des zweiten Schuljahres hin die Tonalität von der Pentatonik zur Diatonik erweitern müssen, das Grundtonerlebnis wird ausführlich gepflegt werden, es wird begonnen mehrstimmig zu singen ... “ (Kalwa, 1997: 34). Die musikalische Ausdrucksform könne sich nun in Richtung des Kontrapunktes entwickeln, in welcher jede Stimme einen eigenständigen Charakter erhält: „So wie sich das Verhältnis des Kindes zur Umgebung von einem stark umkreisbestimmten, nachahmenden, zu einem selbstständig gegenübertretenden Duktus wandelt, so können wir musikalisch das sukzessive Erwachen der Mehrstimmigkeit (Polyphonie) feststellen (Ronner, 2005: 23; Wünsch, 1995: 33) - Bespiele zur Entwicklung der Mehrstimmigkeit nenne ich unten (S. 9, 10).

Das Kind befindet sich also im 9. bis 10. Lebensjahr in einer Phase, in der Gefühle - sowohl glückliche als auch traurige - stark vorherrschen und in der das Kind nach Situationen verlangt, in denen es in ein solches Mitempfinden versetzt wird und auf diese Weise seinem Fühlen ausgesetzt wird: Man erweise dem Kind „eine große Wohltat“, „ . wenn man mit Dur- und Mollstimmungen, überhaupt mit dem Verständnis des Terzzusammenhanges so in jenem Zeitpunkte herankommt, den ich auch sonst bezeichnet habe als nach dem 9. Lebensjahr liegend, wo das Kind wichtige - unbewusste - Fragen an uns stellt“ (Steiner 1923 in Stockmeyer, 2001: 262). In den unterschiedlichen Qualitäten von Dur und Moll lebe das reifende Kind nun sein „wechselndes Ich- Erleben“ aus (Lievegoed, 2007: 99).

Historisch betrachtet, entwickelten sich im Verlauf der abendländischen Musikgeschichte aus der Quinte im Zusammenklang die ersten mehrstimmigen Musikstücke. Die Quinte etablierte sich zunächst als „ .. . der ideale Zielklang aller Schlußbildungsfloskeln mehrstimmiger Musik“ (Kalwa, 1997: 24), bevor sie von der Terz zum Dreiklang ausgefüllt wurde:

„Wesentlich ist, daß durch das Auftreten der Terz letztlich die Grundlage gelegt wurde für den Tonalitätsbegriff bis an die Grenze des 20. Jahrhunderts: Auf dem Dreiklang, der gebildet wird durch die Einlagerung der Terz in die Quint ... fußt alle Harmonie, beruht schließlich alle Komposition der Zeit des ausgehenden Mittelalters (wo die Musik noch auf der Quinte (oder auch der Oktave) im Zusammenklang aufbaute (Kalwa, 1997: 25)) bis zum Beginn unseres Jahrhunderts“ (Kalwa, 1997: 24). Gegenüber der „objektiven“ Klangeigenschaft der Quint sei durch das Auftauchen der Terz nun der Ausdruck seelischer Zustände des Menschen durch die Musik (Dur und Moll) möglich geworden und ein „seelischer Innenraum“ habe sich durch Abgrenzung von der Außenwelt ergeben (Kalwa, 1997: 24). Dieser bringe die Möglichkeit mit sich, Musik zu fixieren, sowohl erstmals schriftlich (äußerlich), als auch durch innerliche „wachstumsfähige Bilder“, die als „Fundament“ im Zuge der Terzenstimmung angelegt werden und dann durch folgende Erlebnisse im Leben der Kinder ausgefüllt und erweitert werden können (Ronner, 2005: 85).

Analog zu der Entstehung der Notenschrift - etwa im Zusammenhang mit Schilderungen vom mittelalterlichen Klosterleben Guido von Arrezos im 11. Jahrhundert und mit Hilfe der „Guidonischen Hand“ (Ronner, 2005: 61) - wird in der dritten Klasse die Notenschrift (beginnend vom Dreilinien-, übers Vierlinien- bis zum Fünfliniensystem) eingeführt und in Anlehnung an „Mönchschöre“ im Tondiktat zunächst durch Sekundschritte geübt. Auch an Melodik, Rhythmik, Tempo und Dynamik wird in dieser Altersstufe gearbeitet (Kalwa, 1997: 62, f.), denn im Lebensalter des „Terzenerlebnisses“ können Rhythmen und metrische Verhältnisse nicht mehr nur innerlich nachempfunden werden, sondern auch gedanklich durchschaut werden. Das „schwingend-pulsierende Metrum“ wird zum Bezugsrahmen (Ronner, 2005: 22).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: „Adoramus“, Monteverdi, 1567-1643, Quelle s. Literaturverzeichnis, vergrößerte Darstellung auf Seite 26

Ein wichtiges Kennzeichen der mittelalterlichen Musik der Notre Dame-Schule (im 12. und 13. Jahrhundert), die durch den Komponisten Pérotin maßgeblich geprägt wurde, ist zudem die sogenannte Unterquarte (mit ihrer wesenhaften „Strenge und Objektivität“ (Wünsch, 1995: 35)) in der Harmonie der Sopran und Altstimme sowie der Tenor und Bassstimme, welche gegenüber den beiden höheren Stimmen im sogenannten Einklang im Oktavabstand erklangen. Die erste in Europa entstandene Form der Mehrstimmigkeit war die Zweistimmigkeit in Quartparallelen in der Romanik bzw. im frühen Mittelalter (etwa 9. Jahrhundert). Um historisch den Bogen weiter zu spannen, lässt sich fortsetzen, dass die Quarten und Quinten in der Musik der späten Renaissance zunehmend durch Terzen und Sexten (als der Terz komplementäres Intervall, welches die Empfindung nun aber „nach außen“ zu transportieren vermag (Wünsch, 1995: 38)) aufgelöst wurden, und dieser Charakter sich dann im Übergang zur barocken Musikepoche festigte, was beispielsweise aus den Werken Claudio Monteverdis hervorgeht (s. Abb. 2). Die Tonsatzregeln der von Terzen und Sexten geprägten Musik wurden in Philippe de Vitrys Werk „Ars nova“ im frühen 14. Jahrhundert verschriftlicht. Jean- Philippe Rameau legte dann in der barocken Musikepoche im Jahre 1722 durch sein Werk „Le Traité de l'harmonie réduite a ses principes naturels“ die Harmonielehre der modernen Musiktheorie fest.

Nachdem sich die Terz-Harmonik in der Musik der Renaissance zunehmend etabliert hatte, spricht Michael Kalwa beim Terz-Charakter der klassisch-romantischen Epoche von einem „gesättigten Dur-Moll-Phänomen“, welches den Bewusstseinswandel im Zuge dieses historischen Zeitraums kennzeichnete (Kalwa, 1997: 26). Die Gebundenheit der Stimmen (wie im sogenannten „Organum“) war nicht mehr obligatorisch, sondern die Wichtigkeit einzelner Stimmen in der Mehrstimmigkeit traten hervor, der musikalische Zusammenhang wurde verfeinert (und erreichte wohl einen Höhepunkt durch die durch Johann Sebastian Bach (1685-1750) geprägte Polyphonie) und durchdachter: „ ... eine (Stimme) kann ,selbstbewußt‘ neben der anderen existieren, jede in ihrer Eigenart und alle doch zusammengehalten vom ,Wissen‘ um den inneren Zusammenhang im Wesen der Terz bzw. des Dreiklangs“ (Kalwa, 1997: 26). Dreiklänge und Kadenzen entwickelten sich in den Harmonien im Zeitraum vom Wirken Bachs mit seiner temperierten Stimmung im 18. Jahrhundert über die Klassik (ca. 1750 bis 1830) bis zur Spätromantik (bis ca. 1914) in der abendländischen Musik und haben dort bis in die heutige Zeit hinein große Bedeutung.

Die folgenden zwei Intervalle umreiße ich lediglich, da die entsprechenden Intervallerlebnisse die Auffassungsgabe der Kinder im zweiten Jahrsiebt, dem Schwerpunkt dieser Arbeit, übersteigen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Auswirkungen von Intervallen in der Musik auf die Individualentwicklung des Kindes
Hochschule
Freie Hochschule Stuttgart
Note
(keine Note; bestanden)
Autor
Jahr
2019
Seiten
26
Katalognummer
V933159
ISBN (eBook)
9783346259684
ISBN (Buch)
9783346259691
Sprache
Deutsch
Schlagworte
auswirkungen, intervallen, musik, individualentwicklung, kindes
Arbeit zitieren
Florentine Mostaghimi-Gomi (Autor:in), 2019, Auswirkungen von Intervallen in der Musik auf die Individualentwicklung des Kindes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/933159

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