Das Nachleben der pharaonischen Musik in der Musik der koptisch-orthodoxen Kirche

Fakt oder Fiktion?


Magisterarbeit, 2007

72 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung und Prolegomena

II. Die Musik Altägyptens
II.1 Tonsystem
II.2 Gesang
II.3 Instrumente
II.4 Cheironomie
II.5 Notation

III. Die Koptische Kirche
III.1 Die koptische Liturgie
III.2 Die Ausführenden der Liturgie

IV. Die Koptische Musik
IV.1 Echos – LaÎn – B½hem: Tonarten und Modi
IV.2 Oktoechos
IV.3 Gesang
IV.4 Instrumente
IV.5 Musikalische Formen
IV.6 Rhythmik
IV.7 Vokalisen, Melismen, Verzierungen
IV.8 Koptische Poesie
IV.9 Notation

V. Altägyptische Spuren in der koptischen Musik
V.1 Tonsystem
V.2 Gesang
V.3 Instrumente
V.4 Vokalisen
V.5 Cheironomie
V.6 Blinde Sänger
V.7 Glaube und Liturgie
V.8 Andere Einflüsse

VI. Beständigkeit
VI.1 Die orale Tradition
VI.2 Beispiele

VII. Kulturelles Gedächtnis und erfundene Tradition

VIII. Schlussbetrachtung

IX. Literaturverzeichnis

X. Anhang

I. Einleitung und Prolegomena

Im Sinne einer "recherche de la musique perdue" beschäftigt sich die folgende Untersuchung mit der Frage, ob und inwieweit die Musik Altägyptens in der koptischen Musik weitergeführt wurde.

Die ägyptischen Kopten werden stets als eines der traditionsbewusstesten Völker angesehen (Ménard 1972: 109). Auch ihre Ahnen, die alten Ägypter, galten als die religiösesten Menschen der Welt (Herodot 1971: 115 [II, 37]). Geschichte, Kultur und Glaube der Kopten sind mit dem alten Ägypten verbunden, auch wenn griechisch-römische, byzantinische und syrische Einflüsse vom zweiten bis vierten Jahrhundert relevant waren (Erian 1986: 9).

Das altägyptische Volk lebt fort in einer kleinen religiösen Gruppe, den Kopten, und einer großen sozialen Gruppe, den Fellachen (Bauern) (Borsai 1968c: 29). Die Kopten selbst sehen sich als Nachfolger der pharaonischen Ägypter (jins FaraÙnÐ, genus Pharaonicus) (Erian 1986: 24). Archäologen sowie anthropologische, ethnologische und philologische Untersuchungen bestätigen dies (ebd.: 28f; Atiya 1968: 139). Die Verbindung des Gesangs der koptischen Kirche und der (vokalen) Musik des pharaonischen oder griechisch-römischen Ägypten ist der Schlüssel für das Studium der altägyptischen Musik (Hickmann 1952: 100).

Auch in der ägyptisch-arabischen Volksmusik und in der Koran-Rezitation des islamischen Ägypten gibt es Anzeichen dafür, dass diese Musikbereiche mit der koptischen Musik (zumindest teilweise) verwandt sind und dass sich somit hier ebenfalls altägyptisches Musikgut erhalten hat (vgl. Ménard 1972: 49-53). Parallel dazu ist das ägyptische Arabisch von der koptischen Sprache durchdrungen (Atiya 1968: 19).

Nach einem Überblick über die Musik Altägyptens und die koptische Musik werden die altägyptischen Spuren, die sich in der koptischen Musik finden lassen, aufgezeigt. Einige Beispiele sollen zudem zeigen, dass es möglich ist, dass sich die pharaonischen oder zumindest frühen koptischen Melodien über einen langen Zeitraum hinweg erhalten haben. Anhand der Konzepte des kulturellen Gedächtnisses und der erfundenen Tradition soll überprüft werden, inwieweit eine Überlieferung der Melodien bis heute glaubhaft erscheint.

Es soll nicht bestritten werden, dass die koptische Musik nie andere Einflüsse aufgenommen oder sich an andere Umstände angepasst hat. Doch möchte ich untersuchen, ob sich trotz des großen Zeitabstandes in der koptischen Musik auch heute noch Spuren der pharaonischen Musik finden lassen. Dabei beschränke ich mich auf die koptisch-orthodoxe Kirche in Ägypten. Auf andere koptische, orthodoxe oder weitere christliche Kirchen und ihre Musik werde ich nur am Rande eingehen.

Der Begriff pharaonisch wird im Folgenden synonym zu altägyptisch verwendet und deckt die Zeit bis zum Ende der Herrschaft der Ptolemäer (30 v.Chr., Eingliederung ins römische Reich) ab, die sich als Nachfolger der Pharaonen sahen.

Der Begriff koptisch erklärt sich folgendermaßen: Die Ägypter nannten die Hauptstadt Memphis @wt-kA-PtH, Tempel des Ka (etwa "Persönlichkeit, Lebenskraft") des Ptah (ein bedeutender Schöpfergott), woraus die Griechen "Aigyptos" machten, was die Araber wiederum zu qubt oder qobt verkürzten. Stand die Bezeichnung anfangs für alle Bewohner Ägyptens, wurde sie später auf diejenigen (Christen) beschränkt, die nicht zum Islam konvertierten. Auch heute nennt man die ägyptischen Christen Kopten. Sprachlich bezeichnet Koptisch die letzte Stufe der ägyptischen Sprache und Schrift, die aus dem griechischen Alphabet unter Zuhilfenahme von sieben zusätzlichen Buchstaben der ägyptisch-demotischen Schrift besteht. Von ehemals neun Dialekten werden heute noch Bohairisch, Saidisch und Basmurisch gesprochen (Rachet 1999: 187).

Die sogenannte koptische Epoche erstreckt sich im engeren Sinne vom Ende der Römerzeit (um 395) bis zur Eroberung durch die Araber (um 641), im weiteren Sinne bis ins Mittelalter (bis um 1200, Blüte der islamischen Periode) (Shaw / Nicholson 1998: 153). Allerdings

sollte man es vermeiden, von einem koptischen Ägypten vor der Zeit der arabischen Eroberung zu sprechen. In den Jahrhunderten vor 646 gab es keine irgendwie geartete koptische Phase, auch keine eigenständige, von der griechischen scharf geschiedene koptische Kultur, denn das christliche Ägypten der vorarabischen Zeit war das Produkt einer nahezu alle Lebensbereiche umspannenden griechisch-ägyptischen Symbiose (Heinen 1998: 39).

Jedoch ist seit dem vierten Jahrhundert ein Aufschwung der koptischen Sprache zu verzeichnen. Griechisch wurde zwar noch bis ins zehnte Jahrhundert gesprochen, doch die hellenische Kultur war in den Hintergrund gedrängt (ebd.: 52), die Mehrheit der Ägypter war seit dem vierten Jahrhundert christlich (ebd.: 49). Aufgrund dessen wird der Begriff der koptischen Epoche hier weiterhin verwendet.

Mit koptischer Musik wird heute nur die liturgische Vokalmusik der koptisch-orthodoxen Kirche bezeichnet.

II. Die Musik Altägyptens

Villoteau stützt sich bei seinem Beitrag zur Description de l' Égypte über die ägyptische Musik auf antike Autoren. So gab Platon an, die Künste im alten Ägypten seien an die heilige Lehre gebunden (Villoteau 1821: 23). Da die Musik Teil dieser Künste war (ebd.: 34), waren alle Gesänge, auch die religiösen, durch Gesetze bestimmt (ebd.: 29).[1]

Musikerziehung war verpflichtend für jeden (ebd.: 34). Studium und Lehre der Musik sowie der anderen heiligen Wissenschaften waren aber allein den Priestern gewährt (ebd.: 113). Die mündliche und gesungene Weitergabe wurde gegenüber der schriftlichen favorisiert (ebd.: 53).

Laut Diodor erfand Hermes (griech. für den ägypt. Gott Toth) den Götter- und Opferdienst, studierte den Lauf der Himmelskörper und die Harmonie der Töne und schuf die Lyra, die er mit drei Saiten zur Nachahmung der drei Jahreszeiten bespannte. Der hohe Ton symbolisierte den Sommer, der mittlere den Frühling, der tiefe den Winter (ebd.: 69f)[2] (die Ägypter hatten nur drei Jahreszeiten: Überschwemmung, Wachstumszeit und Ernte bzw. Trockenzeit).

Die Musik war mit der Astronomie verbunden: sieben diatonische Töne repräsentierten die sieben Planeten, bezeichnet durch sieben Vokale (ebd.: 105) (siehe Kapitel II.5).

Die vier Töne jedes Tetrachords entsprachen den vier Elementen und vier Temperamenten (ebd.: 106). Ferner bestand eine Entsprechung der zwölf Töne mit den zwölf Tierkreiszeichen, der sieben Töne mit den Tagesstunden sowie den Wochentagen. Zudem entsprachen laut Dio Cassius die sieben Planeten (Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur, Mond) den Tag- und Nachtstunden (ebd.: 107f).

Stand in früheren Zeiten der Schreiber für die ägyptische Kultur schlechthin, so war es in der Spätzeit der Priester (J. Assmann 2005: 190). Die Kultur wurde 'klerikalisiert' und 'sakralisiert'. In dieser Umbruchszeit wurde sich Ägypten seiner Tradition bewusst und beschäftigte sich intensiv mit seiner Vergangenheit. Im Bedürfnis nach kultureller Identität wurde vieles kodifiziert und 'hieratisch stillgestellt'[3] (ebd.: 193). Dies dürfte auch für die Musik gegolten haben.

In der Ptolemäerzeit zeigte sich das Bemühen, die ägyptische mit der griechischen Musikkultur zu vereinen. "Scheinen auch die beiden Musikkulturen im Niltal einige Jahrhunderte nebeneinander oder vermischt existiert zu haben, so zeigt[e] sich doch deutlich der Traditionsverlust im Land einstiger Pharaonenherrschaft" (Hickmann / Manniche 1989: 69). Neben hellenistischen Elementen gab es auch asiatische und römische Einflüsse im Bereich der weltlichen Musik, die wohl vor allem in Alexandria ausgeübt wurde (ebd.: 71).

Altägyptische Musik wirkt weiter in der Musik der Kopten, erhielt sich sicherlich auch unter dem Einfluss von Byzanz vom 4. bis 6. Jahrhundert n. Chr. und blieb eigenständig, mit Elementen auch der pharaonischen Vergangenheit, seit der Eroberung durch die Araber, damit der Islamisierung im 7. Jahrhundert (ebd.).

II.1 Tonsystem

Aufgrund antiker Berichte und von erhaltenen Instrumenten lassen sich einige Theorien zum altägyptischen Tonsystem ableiten.

Durch die Verbindung der Tagesstunden mit den Planeten wird von Villoteau (mit Bezug auf Dio Cassius) eine Art 'Heptaechos' abgeleitet: Der erste Ton ist h. Vier Grade aufsteigend oder fünf absteigend erhält man die erste Note der ersten Stunde des nächsten Tages (Villoteau 1821: 108ff): [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Saturn – Samstag – E; [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Sonne – Sonntag – A; [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Mond – Montag – d; [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Mars – Dienstag – g; [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Merkur – Mittwoch – c'; [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Jupiter – Donnerstag – f'; [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Venus – Freitag – b'[4] (Farmer 1966: 277).[5]

Flavius Josephus[6] (ca. 37/38-100) beschreibt die Harfen der ägyptischen Tempelmusiker als 'organon trigonon enarmonion'. Demnach seien sie enharmonisch gestimmt gewesen. Sachs (1943: 71) leitet daraus die Beispielskala A F E C H ab. Von Darstellungen der Fingerpositionen auf Harfen ausgehend[7] kommt er zu dem Ergebnis, dass Einklang, Quarte, Quinte und Oktave gespielt wurden und die Instrumente pentatonisch gestimmt waren (ebd.: 99f).

Laut Platon waren keine Abweichungen von den existierenden Modellen (wie Modi, Melodien etc.) in der Musik gestattet (Farmer 1966: 265). Jede Note besaß kosmischen Wert und magische Kraft. Es ist anzunehmen, dass ein Modus-System in Gebrauch war und feste melodische Formeln eine bestimmte (u.a. moralische) Wirkung entfalten sollten (ebd.: 276). Möglicherweise befand sich eine Modus-Theorie in den Büchern des Hermes (Thot), von denen Clemens von Alexandria (ca. 150-215) berichtet (ebd.: 277). Darunter befinden sich Hymnen-Bücher, Bücher über Gesetze, Götter, priesterliche Bildung, Erziehung sowie viele andere.[8]

Man nimmt an, dass Pythagoras, der um 547-525 v. Chr. in Ägypten war, dort seine Musiktheorie entwickelte, so wie alle Bereiche des Quadriviums (Mathematik, Geometrie, Arithmetik, Musik) wohl dort entstanden sind. Das pythagoräische System konnte an überlieferten Instrumenten jedoch nicht bewiesen werden (Farmer 1966: 277f).

Altägyptische Lauten der 18. Dynastie, die aus einem schalenförmigen Holzresonator oder einem Schildkrötenpanzer mit Ledermembran bestehen, durch die ein Holzstab gesteckt wurde, waren wahrscheinlich in Terzen, Quarten und Oktaven gestimmt. Spuren von Bünden lassen vermuten, dass außerdem Ganz- und Dreivierteltöne gespielt wurden (Eichmann 2000: 36). Lauten, die um 700 oder 800 v. Chr. datiert werden und aus einem bootförmigen Resonator mit Ledermembran und Holzstab bestehen, weisen Bundabstände von Halbton – Ganzton – Halbton – Halbton auf, die vielleicht die Erzeugung verschiedener Skalen- und Modusarten ermöglichen. Die Saitenlänge entspricht 40 altägyptischen "Fingern" (1 Finger = 1,87 cm), was wiederum zwei Oktaven entspricht (ebd.: 37).

II.2 Gesang

Gesang nahm in der altägyptischen Musik einen wichtigen Platz ein. Die meisten Darstellungen von Musik-Ensembles zeigen immer mindestens einen Sänger. Besonders im Kult kam der Stimme eine wichtige Rolle zu. So wurde ein Verstorbener "gerechtfertigt (oder wahr) an Stimme", d.h. selig, genannt. Zudem wurde an der Mumie des Verstorbenen das Mundöffnungsritual durchgeführt.

Unter den Priestern gebührte dem Sänger die erste Stelle, denn den Gott durch Gesang zu verehren war eine wichtige Aufgabe der Priester. Alles, was mit Sdj "lesen, rezitieren" bezeichnet ist, wurde gesungen (siehe die arabische Entsprechung shadÁ "singen") (Farmer 1966: 259). Ab dem Mittleren Reich wurden die Sänger häufig blind dargestellt (Hickmann / Manniche 1989: 45, 58f).

II.3 Instrumente

Bei vielen altägyptischen Instrumenten lässt sich nicht genau erschließen, ob sie originär ägyptisch oder ausländischer Herkunft sind, da die Ägypter fremde Musikinstrumente im Hinblick auf ihre eigenen Form- und Klangprinzipien assimilierten (Hickmann / Manniche 1989: 33). "[D]ie beträchtliche Kontinuität vor allem der Tempelmusik [mag] mit dieser Eigenart, sich Fremdes alsbald zu eigen zu machen, originär Eigenes auch über große Zeiträume nahezu unverändert zu bewahren, einen ursächlichen Zusammenhang haben" (ebd.).

Zu den ältesten überlieferten Instrumenten (viertes bis drittes Jt. v. Chr.) zählen Idiophone wie Klappern, Rasseln, Schellen, Sistren, Schwirrhölzer und Aerophone wie Schneckenpfeifen und Gefäßflöten aus Ton.[9] Neben der apotropäischen Funktion wurden die Klappern, Rasseln und Schellen als Begleitung zu Gesang und Tanz verwendet (ebd.: 34). Zudem ist auf der berühmten Schminkpalette von Hierakonpolis (Oberägypten) eine randgeblasene Langflöte belegt (ebd.: 37).

Im Alten Reich entwickelten sich Hof- und Kultmusik. Zahlreiche Reliefs zeigen Ensembles mit Flöten, Doppelklarinetten und Harfen. Erhaltene Flöten aus dieser Zeit weisen drei bis vier Grifflöcher auf. Durch variierte Techniken von Anblaswinkel und Grifflochabdeckung konnten jedoch zusätzliche Töne produziert werden. Die Klarinetten bestanden immer aus zwei gleichlangen parallelen Röhren mit je vier bis sechs Grifflöchern und wurden horizontal gehalten. Indem man die Löcher mit Stöpseln verschloss, konnte man die Stimmung verändern (ebd.: 38) oder einen Bordunton auf einer Röhre erzeugen, während der Klarinettist auf der anderen die Melodie spielte. Von der Beliebtheit der Harfe zeugen die vielen Formen und Varianten, die sich im Laufe der Zeit entwickelten. Im Alten Reich schaufelförmig mit fünf bis sieben Saiten, erscheint die Harfe in den frühesten Belegen voll ausgereift (ebd.: 39). Dies lässt vermuten, dass die Bogenharfe schon früher in Gebrauch war und bis zum Alten Reich bereits eine Entwicklung hinter sich hatte. Neben Hof- und privaten Musikszenen wurde auch bei der Arbeit mit Stimme, Flöte und Klappern musiziert (ebd.: 41). Bei Begräbnissen kamen Handklatschen, Rasseln, Sistren und möglicherweise (Gefäß-)Trommelspiel zum Einsatz (ebd.: 42).

Waren im Alten Reich oft große Musiker-Ensembles dargestellt worden, wurde im Mittleren Reich meist in kleinen Gruppen oder solistisch musiziert (ebd.: 44). Die Harfe blieb das prominenteste Instrument. Auch in Begräbnisszenen ist jetzt Harfenspiel belegt (ebd.: 45). Neben der neuen Kellenform traten weitere Formen auf. Zudem gewann das Sistrum an Bedeutung – Attribut der Göttin Hathor, die den Toten an der Pforte zum Jenseits empfing. Im Mittleren Reich wurde die Form des Naos-Sistrums bevorzugt, bei dem der obere Teil einen Schrein darstellt. In Verbindung mit diesem wird oft das Menat (ein schwerer Perlenhalsschmuck mit Gegengewicht) dargestellt, das auch als Rassel fungierte (ebd.: 44).

Im Mittleren Reich wurden erstmals blinde Musiker abgebildet, oft als Harfenspieler oder auch als Sänger (ebd.: 45). Als neue Instrumente tauchten zylindrische Trommel, Fasstrommel, Trommeln vom vasenförmigen Darabukka-Typ (Farmer 1966: 265f) und die Leier auf.

In der auf das Mittlere Reich folgenden Zweiten Zwischenzeit ergriffen die Hyksos die Macht in Ägypten. Ob die Fremden neue Instrumente einführten oder die im Neuen Reich dargestellten schon früher bekannt waren, kann nicht beantwortet werden (Hickmann / Manniche 1989: 47).

In den musikalischen Szenen des Neuen Reichs zeigen sich die Harfenformen wiederum variantenreich, meist bootförmig als Stand- oder Schulterharfe mit acht bis zwölf Saiten (ebd.: 49). Auch eine kellenförmige Harfe mit fünf bis elf Saiten war sehr beliebt (ebd.: 52). Außerdem werden Leier, Rahmentrommel (Tamburin), Gesang und Handklatschen dargestellt. Die importierte Langhalslaute besaß zwei bis drei Saiten und wurde mit dem Plektrum gespielt. Die schon vor dem Neuen Reich eingeführte Leier hatte eine symmetrische oder asymmetrische Form mit vier bis acht Saiten und wurde ebenfalls mit Plektrum gespielt (ebd.: 50). Die Doppeloboe, vermutlich mesopotamischer Herkunft, ersetzte nun die Doppelklarinette im Ensemble. Die beiden Oboenröhren mit zwei bis fünf Löchern (manchmal mit Daumenloch auf der Rückseite) waren nicht verbunden und konnten parallel oder im Winkel gehalten werden. Wie schon bei der Doppelklarinette waren die Löcher mit Harz verschließbar, und unterschiedliche Modi oder Klangfarben wurden mit einer anderen Röhrenlänge erreicht (ebd.: 51). Neben der Klarinette wurde auch die Flöte – zumindest auf Darstellungen – in den Hintergrund gedrängt (ebd.: 53f). Die Ensemble-Besetzung bestand meist aus Harfe, Laute und Doppeloboe (ebd.: 49). In Opferszenen verdeutlichte der Soloharfenist die enge Verbindung von Opfer und Musik (ebd.: 52). Im Bereich der Militärmusik erschienen Trompete und zweifellige Walzentrommel (ebd.: 55f).

In der Amarnaperiode (d.h. unter Amenophis IV./Echnaton) traten die Winkelharfe und die Langhalslaute mit eingezogenen Flanken auf. Einzigartig für diese Zeit war eine dargestellte Riesenleier, die nach Echnatons Regierungsende vorerst von der Bildfläche verschwand (ebd.: 57).[10] Nach der Amarnaperiode wurde die Flöte als archaisierendes Element oder rituelles Instrument wiederentdeckt (ebd.: 60).

Unter den Ramessiden dominierte der Soloharfenist, wiederum mit verschiedenen Harfenformen, z.B. der elf- oder zwölfsaitigen Riesenharfe (ebd.: 61). In dieser Zeit ist "eine Kontinuität der Festgestaltung zu beobachten, die immerhin fast 500 Jahre nahezu unverändert beibehalten schien" (ebd.: 63).

Da die Spätzeit von einer Vielzahl ausländischer Herrscher geprägt war, nahm man in der Kunst Sujets des Alten Reiches wieder auf, um den fremden Einflüssen entgegen zu wirken. So wurden wieder größere Ensembles dargestellt, z.B. aus Winkelharfe, Lauten, Leier und Walzentrommel. Auch die dargestellten Tänze ähnelten denen des Alten Reiches, und wie bereits erwähnt lebte das Langflötenspiel im Kult wieder auf (ebd.: 66).

II.4 Cheironomie

Viele auf Reliefs dargestellte musikalische Ensembles werden von einem oder mehreren Cheironomen geleitet. Charakteristisch für das Alte Reich, verschwindet der Cheironom im Mittleren und Neuen Reich fast ganz von Darstellungen. In der Spätzeit taucht er wieder in Darstellungen auf (Hickmann 1956: 50 Anm. 4). Der Gebrauch der Cheironomie ist vor allem an mündlich überlieferte Vokalmusik gebunden (Hickmann 1958: 97).

Eine Darstellung zeigt den im Augenblick erklingenden Ton. Man kann sie als musikalische Schreibung deuten, vor allem, wenn die Zahl der Musiker der Zahl der Cheironomen entspricht. Es ist jedoch unmöglich, die Gesänge aufgrund der Handzeichen zu rekonstruieren; man müsste die Melodien kennen, um sie in der Darstellung wiederzufinden (Hickmann 1949b: 418).

Man kann zwischen melodischen und rhythmischen (und einigen choreographischen, von Tänzern verwendeten) Zeichen unterscheiden (vgl. Hickmann 1958: 116). In der Ausgangstellung vor Beginn des Gesangs hat der Cheironom (sitzend oder hockend) beide Hände auf den Knien. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Rhythmus zu schlagen: Er schlägt mit einer Hand auf den Handrücken der anderen, die auf dem Knie oder Oberschenkel liegt; die linke Hand schlägt auf die zur Faust geballten rechte; die Faust schlägt den Rhythmus auf Knie, während die andere Hand melodische Zeichen gibt. Der Rhythmus konnte auch separat mit Klappern geschlagen werden, die die Form von Händen hatten.

Hat der Cheironom eine Hand am Ohr (wie auch heute im Orient zu beobachten), handelt es sich um einen Sänger. Die vom Sänger selbst ausgeführte Melodie im freien, improvisierten Charakter wird nicht cheironomisch angezeigt. Die Handzeichen sind aber notwendig für den Kontakt zwischen Sänger und Instrumentalisten.

Werden verschiedene Instrumentalisten mit je einem eigenen Cheironom gegenüber dargestellt und die Cheironomen machen alle dasselbe Handzeichen, so steht dieses für "unisono" (ebd.: 99). Melodische Zeichen werden ausgeführt, indem die Hand zum O geformt wird ('Grundton'), oder offen – vertikal oder gerundet – ist. Dazu wird der Arm in verschiedenen Winkeln gebeugt. Die melodischen Zeichen zeigen 'Zentraltöne' einer Skala, eines Tetrachords oder einer anderen Gruppe an (ebd.: 117). Die ausgestreckte Hand bedeutet die Quinte des 'Grundtons' (ebd.: 109). Der variierte Winkel des Unterarms zum Oberarm und Körper zeigt die Intervalle zwischen dem 'Zentralton' der Hauptgeste und der anvisierten Note. Das Heben des Arms bedeutet das Steigen der Stimme, ein größerer Winkel bedeutet größere Entfernung der Note von Zentralton. Diese Interpretation der Darstellungen wird bestätigt durch die cheironomischen Gesten und Erläuterungen eines heutigen Kopten[11] (ebd.: 117). Unbekannte Zeichen stellen vielleicht 'Manieren' dar, wie Timbre oder Triller, oder sind dynamische Zeichen und zeigen die Intensität der Stimme an.

Die Tätigkeit der Sänger-Cheironomen ist oft mit "singen (Hsj) zur Harfe / Flöte / Klarinette" angegeben; Hsj heißt eigentlich "loben", durch eine Arm-Hieroglyphe "mit zeichengebender Hand als Determinativ" (Hickmann / Manniche 1989: 40) erhält dieses Wort jedoch die Bedeutung "singen". Die Varianten der Arm-Hieroglyphe sind nicht nur philologischer Ordnung, sondern auch musikalischer (Hickmann 1949b: 421).[12]

In der christlichen Zeit erwähnt der Abt Pambo[13] († ca. 375) die Cheironomie (Hickmann 1956: 50 Anm. 4), die im Orient bis ins 12. Jahrhundert in Gebrauch war (Randhofer 1995: 26 Anm. 63).

"Es ist die Frage, ob die Cheironomen im Interesse der Betrachter der Szene, der besseren Verständlichkeit wegen also, oder als 'Dirigenten' der abgebildeten Ensembles dargestellt wurden" (Hickmann / Manniche 1989: 40). Für die erste Annahme spricht die Interpretation der cheironomischen Zeichen als Notation.

II.5 Notation

Im Mittleren Reich trifft man auf Darstellungen musikalischer Szenen eine Häufung bestimmter Hieroglyphen an, ë (i/j/y) und H (h). Sie sind als graphische musikalische Zeichen zu deuten und stellen vermutlich die 'Notation' von Vokalisen eines Gesangs bzw. im Falle des H die Angabe einer rhythmischen Wiederholung dar (Hickmann 1956: 50-53). In religiös-magischen Texten ließe sich außerdem in den oft verdoppelten Silben magischer Worte eine musikalische oder rhythmische Bedeutung vermuten (ebd.: 53).

Das Zeichen ƒ´ für "zweimal" (sp 2) könnte bedeuten, dass man eine Phrase, Strophe oder Wörter wiederholt rezitierte bzw. sang, oder auch dass eine Gruppe wiederholte, was eine andere zuvor gesungen hatte. Auch graphisch rückt es in die Nähe der Wiederholungs- oder Da Capo-Zeichen des gregorianischen Gesangs und der 'modernen' Musik (ebd.: 57f)[14]. Ferner dient die Hieroglyphe T (Hwt "Haus") neben der Einteilung eines meist poetischen Textes in Kapitel auch der Angabe der musikalischen Form, nämlich der D½r-Form (arab. "Kreis" oder "Etage"), die dem Rondo oder Ritornell ähnelt (ebd.: 59f).

Im Neuen Reich wird dann in hieratischen Texten die Arm-Hieroglyphe ª in verschiedenen Ausführungen als Ergänzung zu roten Punkten verwendet, um das Ende einer Strophe oder eines ganzen Gedichts anzuzeigen. Dies erinnert an die cheironomischen Zeichen (ebd.: 63f). Es ist nicht auszuschließen, dass die Varianten des Zeichens außer für die Interpunktion (z.B. als rubra) auch für Zwischenspiele (ebd.: 66), Rhythmik (ebd.: 70) oder Aussprachehinweise[15] (ebd.: 71) stehen. Rote Interpunktionszeichen finden sich auch in koptischen Manuskripten (Muyser 1953: 32).

In Ein neuentdecktes Dokument zum Problem der altägyptischen Notation (Hickmann 1961) beschreibt Hickmann eine Doppelstatuette, die wahrscheinlich in die 26. Dynastie um 650 v. Chr. zu datieren ist. Sie besteht aus einem sitzenden Mann und einer ihm gegenüber sitzenden, Harfe spielenden Frau. Zwischen ihnen steht eine Art Pult, auf dem in sieben Zeilen senkrechte Zeichen angeordnet sind, die als Notation interpretiert werden können (ebd.: 17). Die Zeichen befinden sich zum Teil auf einer waagerechten Linie, zum Teil reichen sie unter diese hinab, außerdem unterscheiden sie sich voneinander in Länge und Form. Aber alle stellen die Hieroglyphe des Schilfblatts ë (i/j/y) dar. Hickmann stellt drei Thesen auf: entweder handelt es sich um eine Silbenschrift, oder zweitens um die Fortentwicklung der Notationsweise aus dem Mittleren Reich, bei der Vokalisen durch die Häufung bestimmter Schriftzeichen dargestellt wurden, oder drittens um eine Variante der altägyptischen Urform der "singenden Vokale", die später von den Gnostikern für eine Art griechischer Buchstabennotation übernommen wurde. Da die Zeichen im Text normalerweise genau auf einer Linie stehen, dies aber hier nicht der Fall ist, sieht Hickmann einen möglichen Bezug zu Vokalisen und deren Tonhöhen. Da einige Zeichen in ihrer Form den Hieroglyphen für mA, Sps und HoA (seit dem Mittleren Reich auch als H gelesen) ähneln, könnte es sich um eine Silbenschrift handeln, die durch Melismen (These 2) ergänzt wurde. Die Notation auf dem Pult stellt damit nur einen Teil eines Liedes dar, der wenige Silben umfasst und den Melodieverlauf skizziert (ebd.: 19).

In diesem Zusammenhang steht auch der "Gesang der (sieben) Vokale" der gnostischen Theorie, die viele Elemente der altägyptischen Religion aufgriff (Hickmann 1956: 80). Die Vokale stellen einerseits nur einen symbolischen Bezug zu Tönen her (Wellesz 1961: 67-69), andererseits geht Hickmann davon aus, dass die von den Gnostikern übernommenen Ideen auf eine reale Gesangspraxis der altägyptischen Priester gründen (Hickmann 1956: 82), die von Demetrius Phalereus (um 350-280 v.Chr.)[16] bezeugt ist: die ägyptischen Priester priesen demnach die Götter durch die sieben Vokale, "letting them sound one after the other; [...] it is the sound of these letters which is heard in euphony" (Wellesz 1961: 65f). Damit in Zusammenhang steht eventuell die oft auftretende Darstellung der Zahl Sieben (sieben Saiten einer Harfe, sieben Harfenisten und Flötisten) (Farmer 1966: 277).

III. Die Koptische Kirche

Die Christianisierung Ägyptens wurde laut der koptischen Überlieferung durch den Apostel Markus initialisiert, der frühestens von 48[17] bis zu seinem Märtyrertod 68 in Alexandria war (Atiya 1968: 27 u. Anm. 1)[18]. Auch Philon von Alexandria[19] (um 15/10 v. Chr. - nach 50 n. Chr.) bezeugt die Gründung der christlichen Kirche in Ägypten durch Markus (Erian 1968: 103). Das Christentum fand schnell großen Anklang bei den Ägyptern, die in Osiris ebenfalls einen Gott-Menschen, der starb und wiederauferstand, verehrten.[20] Erst um 180 bildete sich das orthodoxe Christentum aus den christlich-gnostischen Gemeinden heraus (Krause 1998a: 82, 101). Unter dem Patriarchat des Bischofs Demetrius (189-231/2) waren die christlichen Gemeinschaften bereits blühende Institutionen. Für die Liturgie nahmen sie sich die Zeremonien des jüdischen Tempels und der Synagogen zum Vorbild (Borsai 1968c: 31).

Ebenfalls 180 wurde die Katechetenschule erbaut, die nach dem Schisma von 451 geschlossen und erst im 20. Jahrhundert wieder eröffnet wurde (Erian 1986: 39f). Im dritten Jahrhundert riefen Antonius (um 251-356) und Pachom (um 292-346) das Mönchtum ins Leben, infolgedessen sich das Anachoreten- und Asketentum als Vorbild für viele Länder entfaltete (Randhofer 1995: 180).

Wegen der verheerenden Christenverfolgung unter Diokletian begannen die Kopten am 29. August 284 (erstes Regierungsjahr Diokletians) einen neuen Kalender, dessen Jahre sie mit Annus Martyrus (284 A.D. = 1 A.M.) bezeichneten (Erian 1986: 49).

Im Jahre 451 verurteilt das Konzil von Chalcedon unter dem Kaiser Marcianus die monophysitische Lehre, der auch die Kopten anhingen. Daraufhin bildeten sich schismatische Kirchen (nach vorangegangenen Konzilen: Duophysiten, Monophysiten, Arianer, Nestorianer) mit eigenen Kirchenhäuptern und eigener Hierarchie. Das hatte die Trennung von Byzanz und Rom zur Folge (Borsai 1974a: 4f). Aber erst nach der Eroberung Ägyptens durch die Araber im siebten Jahrhundert konnte sich – vom Islam toleriert – die non-chalcedonensische Hierarchie der Kopten gegenüber den Befürwortern der Beschlüsse des Konzils behaupten. Die Autorität im Monophysitismus hatte ab dem sechsten Jahrhundert die Kirche Antiochias (Syrien) inne (Erian 1986: 38). Die Beziehung zu dieser zeigt sich in der koptischen Kunst, der Literatur und auch in der Kirchenmusik, hier vor allem in Terminologie und Texten (Randhofer 1995: 180f). Andererseits besann man sich nach dem Schisma wieder verstärkt auf nationale Elemente und drängte hellenistische und byzantinische Einflüsse zurück (Erian 1986: 59).

Unter dem Patriarchen Christodoulos (1047-1078) wurde das Patriarchat von Alexandria nach Kairo verlegt, was die Isolation der koptischen Kirche von den anderen orientalischen Kirchen förderte. Erst im 19. und 20. Jahrhundert konnte die koptische Kirche einen spirituellen Aufschwung verzeichnen (ebd.: 33-35).

Der koptische Glaube beruht auf Mystizismus (z.B. die mystische Erfahrung der göttlichen Einheit Christi) und Tradition (arab. taslÐm "Überlieferung per Hand"). Der Gesang als Ausdruck der Anbetung wurde den ersten Gläubigen vom Heiligen Geist verliehen. Ein laÎn (siehe Kapitel IV.1) ist Teil eines heiligen Sakraments. Deswegen ist es die vorrangigste Aufgabe eines Kopten, vor allem des aarif (Kantor), dieses musikalische Erbe ohne Veränderung zu bewahren und weiterzugeben (ebd.: 67f).

III.1 Die koptische Liturgie

Die Organisation des liturgischen Jahres geht auf den altägyptischen Kalender zurück und behält die Unterteilung in 13 Monate (12 zu 30 Tagen und ein Monat zu fünf Tagen) und die Monatsnamen bei.[21] Beginn des liturgischen Jahres ist der 1. TÙt, was unserem 11. oder 12. September entspricht. Der Monat Kiahk entspricht der Adventszeit und beginnt am 10. Dezember, das Weihnachtsfest wird in der Nacht zum 6. Januar begangen (Borsai 1971: 73).

Da das ägyptische Christentum seinen Ausgang in Alexandria hatte, wurde die Liturgie (arab. quddÁs) zunächst in griechischer Sprache zelebriert. Mit zunehmender Verbreitung des Christentums entstand der Bedarf, die liturgischen Texte in eine allen verständliche Sprache zu übersetzen, nämlich das Koptische. In der koptischen Kirche hat sich der bohairische Dialekt durchgesetzt. Ein Großteil der Antworten und Akklamationen der Gemeinde, der Ermahnungen des Diakons sowie einige Sätze des Priesters sind auf Griechisch geblieben (Borsai 1976: 493).

Die Bibel und apokryphe Evangelien wurden spätestens im dritten Jahrhundert ins Koptische übersetzt, die liturgischen Texte nicht vor dem sechsten Jahrhundert (Borsai 1972: 329).[22] Bereits in der frühen islamischen Periode wurde den Texten eine arabische Übersetzung hinzugefügt (Moftah u.a. 1998: xi).

Im Jahre 997 wurde die koptische Sprache in Ägypten durch die arabischen Herrscher verboten. Zu diesem Zeitpunkt wurde Arabisch als Liturgiesprache eingeführt (Ménard 1969: 229). Heute ist die liturgische Hauptsprache koptisch, die katechetischen Deklamationen und die Lesungen (außer dem Evangelium) werden wegen der allgemeinen Verständlichkeit auf Arabisch rezitiert, auch die Absolution wird auf Arabisch erteilt (Hickmann 1998: 204). Zu wichtigen und offiziellen Anlässen wird die Messe ganz auf Koptisch gehalten (Erian 1986: 207).

Die Liturgie war bis zum vierten oder fünften Jahrhundert byzantinisch (Ménard 1954: 21). Es werden drei Anaphoren verwendet: die Messe des heiligen Basilius (329-379) ist die älteste. Sie entstand in Caesarea (Hammerstaedt 1999: 2)[23] und wird für den jährlichen Ritus (kopt. taqs, Pl. toqÙs) gebraucht. Die Musik ist rein ägyptisch bis auf einen kleinen byzantinischen Teil (Moftah 1958: 50). Die Messe des heiligen Gregor von Nazianz (329-389) kommt an den vier großen Festtagen – Christi Geburt, Epiphanie, Ostern und Pfingsten – zum Einsatz (Moftah u.a. 1998: ix). Die Markusanaphora (arab. al-MurqusÐ) wird so genannt, weil der Evangelist Markus selbst die Liturgie den Gläubigen übermittelt haben soll (Erian 1986: 39). Sie entstand in Alexandria und wurde von Kyrillos I. (412-444) reorganisiert. Sie wird deswegen auch Kyrillosanaphora genannt (ebd.: 101) und stellt – abgesehen von einigen aus Syrien entlehnten Texten – den "true Egyptian type of Liturgy" dar (Moftah 1958: 49). Sie ist für die Fastenzeit vorgesehen, ihre Melodien sind jedoch fast ganz vergessen (Borsai 1974a: 6). Einige alÎan (Pl. von laÎn) sind erhalten, z.B. der laÎn Ayyub (Hiobs Ton) zu Begräbnissen (Erian 1986: 101). Diese Anaphora wird heute noch von den Mönchen in Klöstern gesungen (ebd.: 123).

Die Liturgien des heiligen Basilius und des heiligen Gregor stimmen in ihrem vor-anaphorischen Teil und dem Teil nach der Brotbrechung mit der Kyrill-Liturgie überein. Laut Moftah (1958: 49-51) existierte zudem die Messe des heiligen Serapion[24], der die Liturgietexte im vierten Jahrhundert auf Griechisch verfasste. Von den in Äthiopien erhaltenen 14 Liturgien gehen einige sehr wahrscheinlich auf verlorene koptische Anaphoren zurück (Atiya 1968: 127).

Die Messetexte festigten sich in Hergang und Wortlaut durch die mündliche Weitergabe (Hammerstaedt 1999: 2). Die koptischen Christen verwendeten mehrere Anaphoren nebeneinander (ebd.: 6 Anm. 30). Im Mittelalter konnten sich aber nur Basilius-, Markus/Kyrillos- und Gregoriusanaphora halten (ebd.: 9).

Seit dem dritten Jahrhundert wurden gewisse Elemente der christlichen Kultur als Geheimnisse behandelt, wozu vor allem Ablauf und Wortlaut der Eucharistiefeier gehörten (ebd.: 14). Dass auch die Musik dazu zählte ist daran zu erkennen, dass sie nie aufgeschrieben wurde. Dies sollte verhindern, dass sie in die Hände von Uneingeweihten fällt (Moftah u.a. 1991c: 1730).

Neben der Messe gibt es das tägliche Offizium (bestehend aus Psalmlesung, neutestamentlicher Lesung, Troparia, Psali, Trisagion, anderen liturgischen Gesängen und der Rezitation von 41 Kyrie Eleison) und das Ritual der Sakramente und Sakramentalien (Ménard 1972: 112). Die Horen werden häufig nur rezitiert vorgetragen, da das Stundengebet monastischer Brauch war und früher Musik in den Klöstern nicht gebilligt wurde (Randhofer 1995: 181). Das Ritual der Sakramentalien setzt sich aus einem umfangreichen Repertoire zusammen. Das Weihrauch-Offizium abends (aashiÁh), morgens (bÁker) und um Mitternacht (niÒf-al-layl) enthält ebenfalls zahlreiche Gesänge. Das Offizium der Theotokien wird ganzjährig gefeiert, aber besonders im Monat Kiahk (Ménard 1972: 112) (siehe Kapitel IV.5).

In der Karwoche wird statt der Liturgie ein spezielles Oster-Offizium (al-baskhat) gefeiert, das aus je fünf Tages- und Nachtstunden (1., 3., 6., 9., 11.; an Karfreitag zusätzlich die 12. Tagesstunde) besteht (Borsai 1979: 5).

III.2 Die Ausführenden der Liturgie

Den Gottesdienst leitet der Zelebrant (arab. al-kahin). Die Verbindung zwischen ihm und der Gemeinde (al-shaab) stellt der Diakon (arab. al-shammÁs, kopt. Riv Shamshy; Erian 1986: 142; von altäg. Smsw "Diener") her (Hickmann 1998: 204f). Der aarif (kopt., etwa: "der Wissende"; Erian 1986: 152) ist der oberste Kirchensänger. Er ist oft blind. Die Kirchensänger (Psaltes) werden in Sängerschulen ausgebildet, wo sie Text und Melodien auswendig lernen. Die Rubriken führen außerdem einen Vorsänger auf, der Texte besonderer Feste "souffliert" (Ménard 1972: 114).

[...]


[1] Siehe Anhang 1 (Zeittafel Ägypten)

[2] Villoteau gibt an, dass der mittlere Ton eine Quarte zum unteren und oberen Ton bilde und führt den Akkord e' a' d'' auf (ebd.: 141).

[3] "das einmal [...] Erreichte gilt als heilig" (Jacob Burckhardt: Die Kunst der Betrachtung. Köln 1984, S. 195, zitiert nach J. Assmann 2005: 172 Anm. 9).

[4] Bei Farmer (ebd.): b''. Es müsste sich jedoch bei korrekter Fortsetzung des 'Quartenzirkels' um das eingestrichene b handeln.

[5] Aber bei Villoteau (1821: 110): Saturn – h; Sonne – e; Mond – a; Mars – d; Merkur – g; Jupiter – c; Venus – f.

[6] Jüdischer Geschichtsschreiber (u.a. Antiquitates Judaicae). Eusebius stützt sich auf ihn.

[7] Ein solches Vorgehen ist sicher fragwürdig. Parallel dazu ließen sich aber Quarte und Oktave auf Lauten rekonstruieren, wie am Ende dieses Kapitels gezeigt wird.

[8] Eine Auflistung aller Bücher in Assmann 1999: 453.

[9] Für genaue Fundorte, Zeiteinordnungen und instrumentenbauliche Details siehe Hickmann / Manniche 1989: 34ff.

[10] Eine große Leier der Ptolemäerzeit bildet dazu eine Parallele (ebd.: 68).

[11] Hickmann bezieht seine Informationen von dem aarif Mikhail Girgis.

[12] Dazu ausführlich in Hickmann 1956.

[13] Schüler des heiligen Antonius, Gründer zahlreicher Klöster.

[14] Siehe auch die dortige Tabelle (ebd.: 58).

[15] Die ägyptischen Hieroglyphen stehen nur für Konsonanten (neben einigen Halbvokalen), woraus sich das Problem der richtigen Vokalisation der Wörter ergibt.

[16] Demetrios von Phaleron hielt sich unter Ptolemäus I. in Ägypten auf.

[17] Auch die Jahre 55, 58 und 61 werden genannt (Atiya 1968: 27 u. Anm. 1)

[18] Vgl. Griggs (1991: 20f): Clemens von Alexandria schreibt in einem Brief, dass Markus nach Petrus' Tod nach Alexandria kam.

[19] Auch Philus Iudaeus genannt; er hinterließ Schriften über die christliche Kirche, auf die Clemens von Alexandria Bezug nimmt; er war mit den Aposteln Paulus und Markus befreundet (Erian 1986: 102).

[20] Vgl. Atiya (1968: 20): "[...] [The Egyptian's] familiarity with the basic ideas of the old faith prepared his mind for the acceptance of the dogma of the other without tremendous difficulty or spiritual anguish."

[21] Koptische Monatsnamen: TÙt, Baba, Íatur, Kiahk, TubÁ, AmšÐr, Baramhat, Baramuda, Bašans, Baauna, AbÐb, MesrÁ, Nasia (Erian 1986: 51; dort auch ehemalige buhairische und saidische Bezeichungen).

[22] Randhofer (1995: 180): Evangelium im zweiten Jahrhundert ins Koptische übersetzt; griechische Bibel im dritten bis vierten Jahrhundert übersetzt (ebd.: 182).

[23] Dort auch Entstehungsorte der anderen Anaphoren.

[24] Bischof von Themis, Schüler des heiligen Antonius und Freund des heiligen Athanasius.

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Das Nachleben der pharaonischen Musik in der Musik der koptisch-orthodoxen Kirche
Untertitel
Fakt oder Fiktion?
Hochschule
Universität zu Köln  (Musikwissenschaftliches Institut)
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
72
Katalognummer
V93077
ISBN (eBook)
9783638055512
ISBN (Buch)
9783638947022
Dateigröße
743 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nachleben, Musik, Kirche
Arbeit zitieren
Veronika Hein (Autor:in), 2007, Das Nachleben der pharaonischen Musik in der Musik der koptisch-orthodoxen Kirche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93077

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