Der bedürftige Karrierist. Analyse eines Lebensberichtes eines ehemaligen hauptamtlichen MfS-Mitarbeiters


Hausarbeit, 1999

35 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Theoretische Auswahl der Interviewpartner und Kontaktaufnahme zu einer „hidden population“ – oder wie ich an Otto Müller kam

2. Der Leitfaden

3. Die Erhebungsphase

4. Transkription und Autorisierung der Interviews

5. Auswertung

6. Sequenzanalyse

7. Sinnstrukturen des Interviews. Chronologie des Lebensberichts, Handlungsoptionen, Hypothesen

8. Verallgemeinerung der Ergebnisse und Typisierung

Quellen- und Literaturverzeichnis

0. Einleitung

Das in dieser Hausarbeit untersuchte biographische Interview mit dem ehemaligen hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter Otto Müller[1] ist im Sommer 1997 im Rahmen eines Praktikums beim Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Dresden entstanden. Thema der Untersuchung war das „Selbstbild“ hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter. Schon kurze Zeit nachdem ich mich an die Arbeit machte anhand biographischer Interviews etwas zum Selbstbild „dieser Menschen“ zu erfahren, mußte ich feststellen, mich viel zu naiv mit dem Thema befaßt zu haben.

Zum einen, weil die Menschen, denen ich durch die Interviews begegnete, alles andere als das Klischee erfüllten, was ich mir vom MfS und den Leuten gemacht hatte, die eine so „menschenunwürdige“ Institution wie die Staatssicherheit formiert hatten. Als gebürtiger Westdeutscher hatte sich damals trotz viereinhalbjähriger „Osterfahrung“ in Polen und in den neuen Bundesländern immer noch ein Gefühl in mir gehalten, demnach das sozialistische System bestimmt nicht überwiegend, aber doch zu einem großen Teil auf Überwachung, Repression und Angst basierte und dadurch existieren konnte. Bücher wie der „Gefühlsstau“ oder „Die Entrüstung“ von Hans-Joachim Maaz oder Aufsätze von Joachim Gauck, in denen er über Angst als kollektives Merkmal der DDR sprach, sowie aktuelle Monographien über den SED-Staat wie die von Klaus Schroeder, bestätigten meine Vorurteile gegenüber der „deformierten“ DDR-Gesellschaft und um so mehr meine Ablehnung gegenüber denen, die an der Konstituierung des westlich interpretierten „real existierenden Sozialismus“ beteiligt waren. Die Menschen, die an diesem System bestimmend mitwirkten, also auch Stasi-Mitarbeiter, waren für mich linientreu, geistig kollektiviert, ideologisiert, und notwendigerweise Gegenstand westlicher Nachwendepädagogik.

All das zusammenfassend, war es für mich eindeutig, daß ich die Stasi und ihre Mitarbeiter verurteilen mußte. Um so mehr, wenn man immer wieder zu lesen bekommt, daß die Stasi als „die größte Bedrohung“ galt, als „das Schlimmste“, als „Schreckgespenst“.[2] Anderswo liest man, daß die „Riesenkrake Staatssicherheit mit ihrem Gift die Atmosphäre verpestete“.[3] Man kann diese Liste negativer Deklarierungen beliebig fortsetzen. Auffällig ist, daß dieses vielen so obskure, unfaßbare Gebilde Staatssicherheit eher emotional als nüchtern betrachtet wird. Das ist nicht verwunderlich bei einem Geheimdienst, erst recht nicht bei einem Geheimdienst wie der Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Daß die durchgängig entrüstete Öffentlichkeit, die öffentliche Meinung mich nicht vollkommen überging, ist auch klar, obwohl ich trotz aller Vorurteile den großen Vorteil besitze, überhaupt nicht nachvollziehen zu können, einem operativen Vorgang der Staatssicherheit ausgesetzt gewesen zu sein oder das, was dahintersteht, auch nur in meinem sozialen Umfeld erlebt zu haben. Insofern bin ich bei der Behandlung des Themas vielleicht unbelasteter.

Diese Ausführungen sind durchaus relevant für die vorliegende Auswertung des Interviews mit Herrn Otto Müller. Worum es mir geht ist, mir über meine eigenen Vorannahmen hinsichtlich der Lebensgeschichte Otto Müllers klar zu werden, auch um Leserinnen und Lesern zu ermöglichen, besser nachzuvollziehen, weshalb ich zu bestimmten Schlußfolgerungen komme und inwiefern diese Schlußfolgerungen etwas mit meiner eigenen Identität, meinen persönlichen Wertungen zu tun haben.

In den Schritten 1.-4. zeichne ich die Entstehung des Datenmaterials nach. Im 5. Punkt gehe ich auf allgemeine Prämissen der Biographieforschung bei der Auswertung eines narrativen Interviews ein, stelle die Vorgehensweise von Fischer-Rosenthal/Rosenthal vor und skizziere kurz meine eigenen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Auswertung des Interviews. Im 6. Punkt folgt die Sequenzanalyse des Interviews, die ich in einer Tabelle zusammengefaßt habe. Im 7. Schritt wird das Interview als ganzes nachgezeichnet unter Berücksichtigung möglicher Handlungsoptionen und des historischen Kontexts. Erste Hypothesen werden hier ebenfalls formuliert. Schließlich fasse ich die Ergebnisse der vorhergehenden Schritte zusammen.

1. Theoretische Auswahl der Interviewpartner und Kontaktaufnahme zu einer „hidden population“ – oder wie ich zu Otto Müller kam

Aufgrund der qualitativen Vorgehensweise beschränkte sich die Auswahl der zu Interviewenden (natürlich auch aus zeitökonomischen Gründen) auf eine relativ geringe Zahl. Gängige Vorstellungen von Repräsentativität werden dabei nicht erfüllt, aber um „quantitative Repräsentativität“ geht es bei der qualitativen Methode natürlich nicht. Vielmehr wird jeder Interviewpartner als Alltagsexperte seiner Erfahrungen und Konstrukteur seiner sozialen Realität angesehen. Die Tiefe der Interviews steht über der Breite was die Fallzahl angeht.

Angebracht erschien es mir, mich auf eine bestimmte Hierarchieebene zu beschränken, um eine möglichst homogene Gruppe aussagekräftiger Personen zu bilden. Es bot sich deshalb an, sich auf die Offiziersebene als Untersuchungseinheit zu beschränken:

- Oberst; - Oberstleutnant; - Major; - Hauptmann; - Oberleutnant; - Leutnant; - Unterleutnant. Idealerweise wollte ich so viele Interviews durchführen bis sich bestimmte sich gleichende Muster herausbilden, die als typisch und in diesem Sinne als

verallgemeinerbar zu werten sind. Für die hier vorgenommene Einzelfallstudie sind

diese Überlegungen allerdings nicht relevant.

Wenn davon die Rede war, zu naiv an das Projekt herangegangen zu sein, dann hieß das auch, zu wenig Gedanken darüber verloren zu haben, daß es ein großes Problem sein könnte, überhaupt genügend aussagekräftige- und willige Personen zu finden. Ich hatte erfahren, daß es hinter der MfS-Zentrale in Dresden eine Siedlung gab, in der vor der Wende ausschließlich MfS-Mitarbeiter wohnten. Das war mein Ansatzpunkt. Sieben Jahre nach der Wende konnte man damit rechnen, daß viele weggezogen, neue Bewohner hinzugekommen waren. Doch ließ sich mit einer vom Bürgerkommitee Bautzner Straße e.V. 1992 herausgegebenen Liste aller ehemals in der Bezirksverwaltung Dresden hauptamtlich beschäftigten 3668 MfS-Mitarbeitern überprüfen, ob einige dieser Mitarbeiter dort noch wohnten.[4] Ich fuhr zu der Siedlung und schrieb alle Namen von den Klingelschildern ab, und verglich die Namen mit der erwähnten Liste. Von 145 Namen ließen sich knapp über 100 auf der Liste wiederfinden. Unter Berücksichtigung meiner Auswahlkriterien kam ich auf fast 80 Personen, die für mich interessant waren. Schwierig war es, den Kontakt mit den ehemaligen MfS-Mitarbeitern herzustellen. Da ich wußte, daß der damalige Landesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR, Siegmar Faust, einen schlechten Ruf bei MfS-Mitarbeitern hatte, trat ich unter dem Deckmantel der Universität auf. Mit dem Briefkopf des Soziologischen Instituts der TU Dresden verschickte ich einen Brief mit folgendem Wortlaut: Dresden, den 24. Juni 1997

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Rahmen eines Praktikums führe ich derzeit eine qualitative Studie zum Selbstbild ehemaliger hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter durch. Es geht darum, zu beschreiben wie Mitarbeiter dieser Institution rekrutiert wurden, in der DDR gelebt und gearbeitet haben, wie die Wendeerlebnisse verarbeitet wurden und was danach kam. Dazu sollen sogenannte biographische Interviews durchgeführt werden, die im Schnitt zwei Stunden dauern.

Die Fragestellung ist insofern interessant, weil gerade in der Wendezeit und auch danach eine „Anti-Stasi-Bewegung“ entstand, die - wenn es um eine Aufarbeitung der Geschichte des MfS geht - nicht mehr zuließ mit, sondern nur noch über die Menschen zu sprechen, die die Institution „Staatssicherheit“ formiert haben. Stigmatisierung und neue pauschalisierte Feindbilder waren das Ergebnis einer Diskussion, die in dieser Form den ehemaligen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit nicht gerecht wird - oder doch?

Sicher werden Sie sich fragen, woher ich Ihre Adresse habe. Die verdanke ich dem Wissen, daß in Ihrer Wohnsiedlung früher vor allem MfS-Mitarbeiter gewohnt haben und einer 1992 vom Bürgerkommitee Bautzner Straße herausgegebenen Liste der hauptamtlichen Mitarbeiter. Anhand der Liste und den Namen auf den Briefkästen konnte ich feststellen, ob Sie nach wie vor hier wohnen.

Ich möchte Sie fragen, ob Sie bereit wären, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen. Einige Ihrer früheren Kollegen haben das bereits getan. Das Interview wird auf Tonband aufgezeichnet, anschließend transkribiert und Ihnen dann zur Autorisierung zugesandt.

Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, daß die Untersuchung anonym durchgeführt wird. Es besteht kein Interesse, die geführten Interviews und deren Inhalt auf die jeweiligen Personen zurückzuführen. Es geht um generelle Aussagen über die Gruppe der MfS-Mitarbeiter, wobei Personalien keine Rolle spielen. Persönliche Daten werden nach der Autorisierung der Interviews vernichtet.

Wenn Sie Rückfragen haben, können Sie mich jederzeit privat anrufen unter der Telefonnummer 4 22 55 21. Ich werde mich im Laufe der Woche bei Ihnen melden. Über eine Kooperation Ihrerseits würde ich mich wirklich sehr freuen.

Mit freundlichen Grüßen

Alexander Schug

Zwei Tage nach dem Einwurf des Briefes, an einem Samstag, an dem ich davon ausgehen konnte, daß die wenigsten arbeiten würden, fuhr ich zu der Siedlung und klingelte bei den entsprechenden Wohnungen.

Tatsächlich hatte ich von rund 30 angetroffenen Personen bei Dreien das Glück, Zusagen für ein Interview zu bekommen. Bei weiteren bestand Unsicherheit. Sie wollten es sich überlegen, weil sie noch nicht genau wußten, worauf sie sich mit mir einlassen. Mit diesen Leuten vereinbarte ich, Ihnen eine Kurzversion meiner Konzeption zukommen zu lassen, die im Grunde noch einmal die Informationen enthielt, die ich im ersten Schreiben genannt hatte. Zusammen mit der Konzeption verschickte ich einen Begleitbrief mit folgendem Wortlaut:

Dresden, den 1. Juli 1997

Sehr geehrte Damen und Herren,

vorigen Sonnabend habe ich mich kurz bei Ihnen vorgestellt und gefragt, ob Sie bereit wären, an dem von mir zur Zeit durchgeführten Projekt zum Selbstbild hauptamtlicher ehemaliger MfS-Mitarbeiter teilzunehmen. Sie waren sich noch nicht ganz sicher, ob Sie das nun tun sollten oder nicht.

Ich schicke Ihnen anbei die Konzeption, die dieser Studie zugrunde liegt. Somit haben Sie einen genaueren Einblick, auf was Sie sich mit mir „einlassen“ und was Sie erwartet.

Zum Zwecke der Kontaktaufnahme läßt es sich natürlich nicht vermeiden, mit Ihren Personalien in Kontakt zu geraten. Arbeitstechnisch läßt sich das nicht vermeiden. Aber ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, daß alle Daten nach der Transkription, also der Verschriftlichung des Interviews, und der Autorisierung des Interviews durch Sie (nach der Transkription werde ich Ihnen Ihr Interview in der verschriftlichten Form zusenden, damit Sie etwaige Transkriptionsfehler verbessern, Unverständliches ergänzen können) vernichtet werden.

Die Arbeit schreibe ich im Rahmen einer Semesterarbeit an der Universität.

Wenn Sie sich fragen, was letztlich dabei herauskommen soll - außer daß man sich im inneruniversitären Bereich darüber freut - muß ich zunächst als Negativdefinition sagen, daß es mir nicht darum geht, irgendwelche moralischen Maßstäbe anhand der Interviews zu entwickeln und zu ver-urteilen. Das ist in der öffentlichen Diskussion genug getan worden und würde wissenschaftlich-nüchternen Ansprüchen auch nicht genügen.

Vielmehr sollen Aussagen gemacht werden, wie der Transformationsprozeß der letzten Jahre, die vielen Umstellungen, Probleme, eventuell neuen Chancen erlebt worden sind.

Ich kann nur noch einmal wiederholen, daß ich mich über eine Zusage wirklich sehr freuen würde, da es eine vergleichbare Studie bislang noch nicht gibt.

Wenn Sie zu dem Interview bereit sind, rufen Sie mich an (Telefonnummer 4 22 55 21).

Mit freundlichen Grüßen

Alexander Schug

Auf diesen Brief meldete sich nur eine Person. Über Vermittlung der Personen, die bereits zugesagt hatten, bekam ich zwei weitere Interviewpartner, unter ihnen auch Otto Müller.

2. Der Leitfaden

Wie erwähnt interessierte mich das Selbstbild der ehemaligen MfS-Mitarbeiter. Wie sich das genau ausprägen könnte, wollte ich im voraus nicht genau operationalisieren. Diese Informationen werden erst im konkreten Interview gewonnen. Ich entwickelte jedoch einen Gesprächsleitfaden, der thematische Felder benannte, über die der Interviewpartner Aussagen machen sollte. Der Leitfaden sah wie folgt aus:

1. Kindheit/Jugend/Ausbildung

allgemeine Frage zum Einstieg: Kindheit, Jugend, Elternhaus, soziales Umfeld allgemein - was hat geprägt?

2. MfS

- Rekrutierung
- Motivation
- Vorstellung über MfS und Arbeit dort
- welche Arbeit dort gemacht?
- welche Karriere durchlaufen?
- wie war Umgang mit strenger Hierarchie, militärischem Gehorsam, mit Verschwiegenheit?
- Einschätzung des damaligen Sozialstatus als MfS-Mann? (Reaktionen der Außenwelt, Familie, Freunde)
- Kinder?
- was wurde für das MfS aufgegeben?
- wie würden Sie Arbeit und Funktion des MfS allgemein beschreiben?
- was bedeutete DDR?
- was bedeutete BRD?

3. Wende

- ‘98/’90 - wie haben Sie die letzte Zeit vor der Wende wahrgenommen?
- was bedeutete Wende, was wird damit verbunden - beruflich, persönlich?
- in Wendezeit regelrechte Anti-Stasi-Bewegung - wie war die Wirkung?

4. nach der Wende

- wie mit der Wende zurechtgekommen?
- was tun Sie heute?
- fühlen Sie sich integriert, können Sie sich mit neuem System arrangieren?
- was ist aus sozialistischen Überzeugungen geworden?
- DDR-Bild geändert?
- wie reagieren Familie, neue und alte Freunde auf die ehemalige Stasi-Mitarbeit?
- Gefühl, sich selber zu leugnen?
- wie bewerten Sie heutige Aufarbeitung der Geschichte des MfS?
- Stellung zu Opfern/Oppositionellen
- im Rückblick: gibt es etwas, was man beim MfS gelernt hat, was heute noch hilft, Leben zu meistern?

3. Die Erhebungsphase

Die Interviews wurden auf Tonband aufgezeichnet. Zu jedem Interview fertigte ich anschließend ein Protokoll an, in dem ich den ersten Eindruck meiner Interviewpartner festhielt. Das Rechercheprotokoll über Otto Müller sah wie folgt aus:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

4. Transkription und Autorisierung der Interviews

Bei der Transkription der Interviews ging es nicht darum, ein Höchstmaß an erzielbarer Genauigkeit zu erreichen, jede Pause, jedes „Hm“ zu registrieren, schließlich – so dachte ich damals - stand die Organisation der Sprache der Interviewten nicht im Mittelpunkt der Untersuchung. Es wurde bei der Verschriftlichung vor allem auf Lesbarkeit wert gelegt. Für mich zu abschweifende Textpassagen, Dinge, die nicht zum Interview gehören (Wollen Sie noch was trinken?) etc. sind ausgelassen worden und mit Klammern markiert (...). Das war eine Transkriptionsweise, die ich heute nicht wiederholen würde, auch wenn sie aus zeitökonomischen Gründen sehr wohl nachvollziehbar ist. Aber gerade in Zwischensätzen können sich Bedeutungen ergeben, die relevant für das Interview sind.

Nach der Transkription wurde den Befragten ihr Interview mit der Bitte um Autorisierung zugesandt.

5. Auswertung

Eine Lebensgeschichte, wie sie von Otto Müller vorliegt, verlangt – im Sinne qualitativer Forschungslogik – nach Analysekategorien, die immanent sind, sprich aus dem Text heraus entstehen. Dieser Aspekt steht im Gegensatz zur quantitativen Sozialforschung, die an ihre Forschungsobjekte mit einem zuvor gesetzten Analyserahmen herantritt, damit aber die Forschungssituation um Offenheit und Subjektbezogenheit beraubt. Das ultimative Ziel narrativer Forschung ist deshalb nicht, zu sehen, inwieweit der Interviewte den Erwartungen des Forschers, seiner Kategorien, und Denkstrukturen entspricht, sondern es geht - in einem zunächst globalen Sinne definiert – darum, Erfahrungen einer Person herauszukristallisieren und in ihrem Bedeutungszusammenhang zu intrepretieren. Interpretationen als auch Erfahrungen sind jedoch sehr relative Begriffe, die subjektabhängig sind. Subjektivität ist folglich in diesem Kontext ein wichtiger Schlüsselbegriff, der einerseits die Qualität biographischen Materials ausmacht, andererseits Probleme aufwirft, wenn es um die Auswertung der Interviews geht. Denn der Prozeß der Interpretation ist selbst ein subjektiver Akt, der von der Persönlichkeit des Forschers abhängt.

Trotz dieser Faktoren ist die Auswertung narrativer Interviews nicht beliebig, auch wenn es wohl unzweifelhaft ist, daß eine Lebensgeschichte kein ständig exakt reproduzierbares Konstrukt ist, und verschiedene Forscher sehr verschiedene Vorgehensweisen bei der Auswertung eines Interviews haben. Das bedeutet aber nur einen Nachteil, wenn man quantitative Gütekriterien wie Validität und Reliabilität als Maßstab für die Auswertung narrativer Interviews gebraucht. Anders formuliert heißt das, daß Reliabilität und Validität keine angemessenen valuativen Standards für die Biographieforschung sind. Historische Wahrheit oder die exakte Reproduktion eines Lebens mit all dem, was eigentlich alles in diesem Leben passierte, steht folglich nicht im soziologischen Forschungsinteresse bei narrativen Interviews, sondern die erzählte Lebensgeschichte und die Subjektivität des Empfindens – was die objektive Ebene der erlebten Lebensgeschichte allerdings nicht ausklammern sollte. Im Gegenteil, die erlebte Lebensgeschichte muß als Kontrastmittel im Blick auf die erzählte Geschichte dienen.

[...]


[1] Name und Daten, die auf die Identität des Interviewpartners hinweisen, sind geändert worden

[2] Bürgerkommitee, MfS-Bezirksverwaltung, S. 3

[3] Hellwig, Rückblicke, S. 61

[4] Bürgerkommitee, MfS-Bezirksverwaltung (Abgedruckt sind hier nicht nur Namen, Vornamen, sondern auch Geburtsdaten, seit wann der einzelne beim MfS arbeitete, welchen Dienstgrad er hatte und welche Tätigkeiten er in welcher Abteilung erfüllte. Das jeweilige Jahresgehalt ist in dieser Liste auch aufgeführt)

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Der bedürftige Karrierist. Analyse eines Lebensberichtes eines ehemaligen hauptamtlichen MfS-Mitarbeiters
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Sozialwissenschaften)
Note
1,3
Autor
Jahr
1999
Seiten
35
Katalognummer
V9285
ISBN (eBook)
9783638160247
ISBN (Buch)
9783640202591
Dateigröße
593 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Aufgrund ausführlicher biografischer Leitfadeninterviews mit ehemaligen hauptamtlichen Mitarbeitern der Stasi wurde eine Sequenzanalyse eines ausgewählten Intervies vorgenommen. Ausgiebig werden theoretische Prämissen und praktische Vorgehensweisen der Biografieforschung diskutiert.
Schlagworte
DDR, Biografieforschung, Stasi, MfS, Sequenzanalyse
Arbeit zitieren
Alexander Schug (Autor:in), 1999, Der bedürftige Karrierist. Analyse eines Lebensberichtes eines ehemaligen hauptamtlichen MfS-Mitarbeiters, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9285

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