Emmanuel Lévinas und die Frage der Gerechtigkeit in seinem Werk „Totalität und Unendlichkeit“


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALT

I. Einleitung

II. Emmanuel Lévinas und die Frage der Gerechtigkeit
1. Gerechtigkeit und Wahrheit
1.1. Gerechtigkeit und Wahrheit als Gründe von Solidarität und Transzendenz
1.2. Die Wahrheit und die Beziehung zum Anderen in Freiheit
2. Gerechtigkeit und Verantwortung
3. Gerechtigkeit und Sprache
4. Gerechtigkeit und Politik

III. Zusammenfassung / Summary

IV. Anhang

I. Einleitung

Emmanuel Lévinas verwirft in seinem ersten Hauptwerk „Totalität und Unendlichkeit“ die Gleichheit als ethische Leitidee und somit die autoritative Ordnung. Er wendet sich zur Andersheit des Anderen hin, zur zwischenmenschlichen Begegnung der sprachphilosophischen Wende der Ethik in der multikulturellen Zivilisation.[1] Traditionell leitet sich die Ethik nach dem Vorbild des Aristoteles aus der Ontologie ab. Die Frage nach dem, was ist, geht der Frage nach dem, was sein soll, voraus. Erst das Wissen von der Funktionsweise der Welt erlaubt es, Handlungsanweisungen abzuleiten. Lévinas dreht dieses Verhältnis im Sinne Platons wieder um, bei ihm ist die Ethik die wichtigste Philosophie. Auch im prophetischen Judentum, dem Lévinas angehört, ist die Ethik im Menschen angelegt. Die Frage der Gerechtigkeit ist für ihn die Grundfrage. Sie geht der Frage nach der Wahrheit voraus, die Welt enthüllt sich nur aus der Perspektive des Guten und erhält nur dann einen Sinn. Allein die Annäherung an die Welt in einer Haltung, die ihr gerecht werden will, enthüllt deren Wahrheit, die sprachlichen Schwankungen unterworfen ist.[2]

Allgemeine moralische Normen können heute kaum mehr die Menschlichkeit verkörpern, sondern manchmal sogar die Unmenschlichkeit, wenn man die Erfahrung von Lévinas bedenkt, der seine Familie in Auschwitz verlor. Der Untertitel von „Totalität und Unendlichkeit“, nämlich „Versuch über die Exteriorität“, verweist auf die Entfremdung des Menschen angesichts der schlimmen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Daher bezieht Lévinas Menschlichkeit nicht mehr auf die Idee der Gleichheit, sondern entdeckt die Andersheit des Anderen als wichtigsten ethischen Orientierungspunkt. Indem Lévinas sich von den Werten der „Kriegergesellschaft“[3] verabschiedet, öffnet er das Ethische nicht nur gegenüber der entstehenden Zivilgesellschaft, sondern auch gegenüber den Tendenzen einer multikulturellen Perspektive der Zivilisation. Diese wurden am Ende des 20. Jahrhunderts durch die technologischen Entwicklungen des Informationszeitalters beschleunigt. Die Begegnung zwischen den verschiedenen Kulturen ist heutzutage alltäglich, immer häufiger begegnen sich einander fremde Menschen.

Lévinas brauchte 14 Jahre, um seine Habilitationsschrift auszuarbeiten.[4] Entsprechend beeindruckend sind die Strenge und Dichte des Buches. Die von Hegel und Marx beschriebene „Totalität“ steht dabei für das Streben nach einem Sich-Schließen des Seins zu einem im Denken selbstgenügsamen Ganzen. Die metaphysisch-theologische „Unendlichkeit“ steht dagegen für die alltägliche Erfahrung der Unabschließbarkeit des Denkens und Seins. Laut Lévinas’ neuer These über das Sein, ist Seiendes extérieur, „so getrennt voneinander, so äußerlich, auswärtig und fremd füreinander, dass das Eine dem Anderen unentwegt neu begegnet“[5]. Dabei ziehen sie einander an und stoßen einander ab, aber niemals können sie sich einander entziehen. Dies wird unmittelbar deutlich in der Erfahrung des face-á-face, des Von-Angesicht-zu-Angesicht. Um sie gruppiert Lévinas nun die Erfahrungen des Genusses und der Leiblichkeit, des Besitzes und der Arbeit, des Schmerzes und der Geduld, der Liebe und der Fruchtbarkeit, der Güte und der Freigiebigkeit, des Krieges und des Friedens und auch schon dessen, was sie alle ermöglicht, der Sprache.[6]

Doch die Gerechtigkeit ist wie gesagt die Grundfrage für Lévinas und steht hier im Mittelpunkt des Interesses. Dazu wird zunächst die Beziehung von Gerechtigkeit und Wahrheit untersucht. Diese beiden sind Gründe von Solidarität und Transzendenzerfahrung, die Wahrheit spielt ferner bei der Beziehung zum Anderen in Freiheit eine Rolle. Außerdem ist Gerechtigkeit mit Verantwortung verknüpft, wobei neben dem Anderen der Dritte auf den Plan tritt. Weiterhin ist die Sprache eine eingehende Betrachtung wert, da diese Gerechtigkeit erst möglich macht. Ins Blickfeld rückt schließlich die Politik, welche in einer politologischen Arbeit nicht fehlen sollte.

II. Emmanuel Lévinas und die Frage der Gerechtigkeit

1. Gerechtigkeit und Wahrheit

1.1. Gerechtigkeit und Wahrheit als Gründe von Solidarität und Transzendenz

Wir machen jeden Tag die Erfahrung, dass es eine tiefe Gemeinsamkeit, also eine Grundsolidarität zwischen den Menschen gibt: Niemand lebt allein. Der Mensch erfährt die Wahrheit, wenn er Gerechtigkeit ausübt. Der Grund der Solidarität besteht darin, den Anruf und die Anklagen des Anderen zu hören.

„Die eigentliche Epiphanie des Anderen besteht darin, uns durch sein Elend im Antlitz des Fremden, der Witwe und der Waise zu fordern.“[7]

Wenn es Rechte gibt, so sind diese die Rechte des Anderen, und zwar sobald ich sie anerkenne. Die Rechte des Anderen bestehen, weil sie aus meiner Freiheit und meiner Güte entstanden sind. Nur die Güte des Opferns in der Unmittelbarkeit und in der Beziehung ist somit ein Recht und auch Gerechtigkeit. Lévinas führt damit einen neues Begriff des Seins ein. Das Sein kommt aus der Uneigennützigkeit (désinteressement) und der Hingabe an den Anderen.[8] Der Akt des Seins bei Lévinas ist eine Aufgabe und eine Pflicht, die sich mir aufbürdet und die ein Drama mit vielen Beteiligten ist. Eine Autonomie kommt aus der Heteronomie. Die Güte ist Mannigfaltigkeit und Friede, wodurch man die Anwesenheit vieler Anderer erfährt, und meine Verantwortung bewahrt den Frieden zwischen ihnen. Das bedeutet eine neue Art von Gerechtigkeit, eine Universalität, die mein Sein verlangt.[9]

Aufgrund dieser radikalen Erfahrung sind wir in der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, was Glück und Unglück betrifft, füreinander verantwortlich. Die Solidarität besteht nicht darin, dass wir uns gegenseitig unterstützen, sei es durch die Institutionen der Gesellschaft, sei es privat, oder weil das Leben so angenehmer wird. Die Solidarität besteht vielmehr darin, sich für die Rechte des Anderen verantwortlich zu fühlen und so zu ermöglichen, dass dem Anderen Gerechtigkeit widerfährt. Der Andere ist ein Plural, nicht das Du. Er ist Viele und Alle. Das ist keine sekundäre Dimension, sondern die vielfältige Relation, die an die Beziehung zu einem singulären „Du“ anknüpft, denn dank der Mannigfaltigkeit der vielen Anderen wird sich der Andere nicht in einem Du erschöpfen.[10] Lévinas schreibt:

„Die Singularität der Individualität ist auf der Höhe ihrer Vernunft – sie ist Apologie – d.h. persönliche Rede zwischen mir und den Anderen. Mein Sein ereignet sich, indem es sich den Anderen in der Rede darstellt, mein Sein ist das, was sich den Anderen offenbart, indem es allerdings teilhat an seiner Offenbarung, indem es dieser Offenbarung beisteht.“[11]

Nach Lévinas bin ich vom Anderen besessen. Diese Besessenheit ruft nach Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit erfordert immer Maß, Wissen und Bewusstsein, was im Grunde der Ursprung der Gerechtigkeit ist. So erleben wir das Menschliche, wenn wir mit der Wahrheit vorangehen.[12] Sich auf die Wahrheit einzulassen heißt, nach Gerechtigkeit zu streben. Als Maß und Wissen der Gerechtigkeit kommt die Bewusstseinsbildung ins Spiel, wodurch die Geschichte und die Welt des Menschen eine ethische Bedeutung erhält. Bewusstseinsbildung ist ein Lebensprozess, sie ist Lehren und Lernen, ist Begreifen und Bewusstsein der Rechte des Anderen.[13] Deshalb erweitert sich der Horizont des Menschen. Vom Anderen, der mich anruft und von mir Gerechtigkeit verlangt, lerne ich die ethische Dimension meiner Existenz. Alles, was uns geschieht, geht jedermann an. Der Andere, der sich durch sein Antlitz offenbart, das mich ansieht und mich angeht, ist der Maßstab der Gerechtigkeit. Die Solidarität hat ihren Ursprung in der Wahrheit:

„Die Gesellschaft fließt nicht aus der Betrachtung des Wahren, die Wahrheit wird möglich durch die Beziehung mit dem Anderen, unserem Meister. So ist die Wahrheit verknüpft mit der sozialen Beziehung, die Gerechtigkeit ist. Die Gerechtigkeit besteht darin, im Anderen meinen Meister anzuerkennen.“[14]

[...]


[1] Vgl. Schönherr-Mann: Postmoderne Perspektiven des Ethischen, S. 20.

[2] Vgl. ebd., S. 21.

[3] Ebd., S. 73.

[4] Vgl. http://www.bautz.de/bbkl/l/levinas_e.shtml

[5] Vgl. Stegmaier: Levinas, S. 37.

[6] Vgl. ebd.

[7] TU 107.

[8] Vgl. Sidekum: Ethik als Transzendenzerfahrung, S. 114.

[9] Vgl. ebd.

[10] Vgl. ebd.

[11] TU 369.

[12] Vgl. Sidekum: Ethik als Transzendenzerfahrung, S. 116.

[13] Vgl. ebd..

[14] TU 97.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Emmanuel Lévinas und die Frage der Gerechtigkeit in seinem Werk „Totalität und Unendlichkeit“
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaften)
Veranstaltung
Emmanuel Lévinas
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
19
Katalognummer
V92707
ISBN (eBook)
9783638063821
ISBN (Buch)
9783638951050
Dateigröße
451 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Emmanuel, Lévinas, Frage, Gerechtigkeit, Werk, Unendlichkeit“, Emmanuel, Lévinas
Arbeit zitieren
Piotr Grochocki (Autor:in), 2006, Emmanuel Lévinas und die Frage der Gerechtigkeit in seinem Werk „Totalität und Unendlichkeit“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92707

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