Von einer lokalen Vampirform zum politischen Schreckgespenst: Der polnische Upiórglaube in kulturhistorischer Perspektive


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

21 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


INHALT

I. Einleitung

II. Von einer lokalen Vampirform zum politischen Schreckgespenst: Der polnische Upiórglaube in kulturhistorischer Perspektive
1. Die Voraussetzungen: Quellenlage und politisch-historischer Hintergrund
1.1. Wiedergänger- und Vampirfälle im Polen der Frühen Neuzeit
1.2. Niedergang, Teilungen und Nationalbewegungen: Polen im 18. und 19. Jhdt
2. Die literarische Bearbeitung des Upiór-Sujets durch Adam Mickiewicz und andere polnische Autoren
2.1. Der Upiór in Adam Mickiewiczs Dichtung und Prosa
2.2. Der Upiór bei anderen polnischen Autoren
3. Von einer Volkssage zum politischen Schreckgespenst: Der Upiór bei den deutschen Liberalen
3.1. Die antipolnische Publizistik
3.2. Die spätromantische Mythologie- und Sagenforschung
3.3. Die Kriminalistik

III. Zusammenfassung / Abstract

IV. Anhang

I. Einleitung

Lange Zeit hielten viele Vertreter der historischen Zunft die Kulturgeschichte für eine weiche, da methodisch fragwürdige Disziplin.[1] In diesem Urteil steckt ein gewisser Widerspruch, ist doch gerade die Historiographie ein Gegenstand kulturgeschichtlicher Untersuchung. Die deutsche Kulturgeschichtsschreibung entwickelte ihr Thema systematisch erst zum Zeitpunkt der Entstehung des deutschen Nationalstaates. Sie versuchte, dessen Geltungsanspruch nicht nur politisch herauszustellen, sondern ihm eine „teleologische Aura“[2], also eine ziel- und zweckbestimmte Ausstrahlung zu verleihen. So sollte etwa in Arminius dem Cherusker bereits im Kern die übermächtige Gestalt des Reichsgründers Otto von Bismarck angelegt sein.

Weiter im Osten verfolgte die polnische Kulturgeschichtsschreibung zur selben Zeit ein ähnliches Ziel. Allerdings war mit einem polnischen Nationalstaat auf absehbare Zeit nicht zu rechnen, so dass nur der Rückgriff auf vergangene Größe blieb. Zu deren Veranschaulichung wurden alte Volkssagen historisiert, etwa die vom Wagenbauer Piast, der nach der Überlieferung zum ersten polnischen König aufgestiegen war. Eine beiden Kulturen gemeinsame Mythologie bildete jedoch der Glaube an den Vampir bzw. dessen polnische Form, den „upiór“. Dabei ist zu beachten, dass der polnische Begriff eine etwas weitere Bedeutung hat als sein deutsches Pendant, da er nicht nur Vampire, Wiedergänger und Nachzehrer, sondern auch Geister und Gespenster umfasst. Dennoch werden die beiden Bezeichnungen im Folgenden weitgehend gleichbedeutend verwendet, sind sie doch etymologisch miteinander verwandt.[3] Der Begriff „wampir“ tauchte im polnischen dämonologischen Wortschatz erst in den 1920er Jahren auf. Er bezeichnete einen Teufel oder Geist, der den Menschen im Schlaf das Blut aussog. Dieser Begriff entstand anscheinend aus „upiór“, der zu „wypiór“ verunstaltet wurde und sich schließlich zu „wampir“ weiterentwickelte.[4]

Die vorliegende Arbeit geht von zwei Leitfragen aus. Erstens ist zu klären, welche Rolle der Glaube an den Upiór in der polnischen Nationalbewegung spielte. Zweitens soll untersucht werden, warum der polnische Vampir von der deutschen Publizistik erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde. In der vorliegenden Arbeit werden zunächst die einschlägigen Quellen und der politisch-historische Hintergrund untersucht. Danach wird analysiert, wie der erwähnte Volksglaube von den Nationalbewegungen der beiden Länder literarisch verarbeitet und publizistisch instrumentalisiert wurde. Die Forschungsliteratur auf dem Gebiet der Nationalbewegungen ist umfangreich, zum Vampir- und besonders zum Upiórglauben jedoch überschaubar. Unter den deutschsprachigen Arbeiten ist besonders der noch nicht erschienene Aufsatz von Thomas M. Bohn hervorzuheben, der durch prägnante Thesen und ausführliche Literaturhinweise besticht und auf diesem Gebiet Pionierarbeit leistet.[5] In der polnischen Forschung findet das Thema leider noch kaum Interesse, die Arbeit von Maria Janion etwa beschäftigt sich fast ausschließlich mit der Rezeption des Vampirmythos im westlichen Kulturkreis.[6]

II. Von einer lokalen Vampirform zum politischen Schreckgespenst: Der polnische Upiórglaube in kulturhistorischer Perspektive

1. Die Voraussetzungen: Quellenlage und politisch-historischer Hintergrund

1.1. Wiedergänger- und Vampirfälle im Polen der Frühen Neuzeit

Die polnische Nachzehrerbezeichnung „upiór“ wurde durch die Naturgeschichte Polens des Jesuitenpaters Gabriel Rzączyński von 1721 bekannt, obgleich im Original noch von „upier“ (m.) und „upierzyca“ (f.) die Rede ist.[7] Rzączyński beschreibt dessen Erscheinung als „ein mit Flaum oder Federn versehener Körper, der leicht und stets in Bewegung ist“.[8] Dies verwundert nicht, ist doch im Begriff „upiór“ das polnische „pióro“ (Feder) enthalten. Im selben Traktat wird auch das erste bekannte Auftreten dieser Sagengestalt auf polnischem Boden beschrieben. Demnach waren in Kleparz bei Krakau 1624 mehrere Verwandte einer bereits toten und begrabenen Frau innerhalb kurzer Zeit ohne Anzeichen der Pest gestorben. Der lokale Magistrat hätte daraufhin die Öffnung des Grabes dieser Frau angeordnet und sie dort auf dem Bauch liegend, „vom Kopf bis zum Bauchnabel rot und das Laken fressend“[9] vorgefunden. Bei der Enthauptung der Leiche sei viel Blut geflossen, wodurch am Nachzehren kein Zweifel mehr bestand.

Die nächste Erwähnung eines derartigen Vorfalls findet sich in der handschriftlichen Notiz eines polnischen Geistlichen über einen Wiedergängerfall in der Woiwodschaft Krakau von 1674.[10] Ein Vampir, hier „strzyga“[11] genannt, habe dort Verwandte nach seinem Tod durch Würgen, Schlagen und Blutsaugen gequält. Nach der Öffnung des Grabes habe der Leichnam einem „mit Blut gefüllten Sack“[12] geähnelt. Laut diesem Bericht ordnete der Pfarrer daraufhin an, die Leiche auf den Mund zu drehen. Doch diese Maßnahme nutzte anscheinend nichts, da der Wiedergänger noch in derselben Nacht seinen Sohn niedergeschlagen habe, der daran gestorben sei. Daraufhin hätten die Dorfbewohner vom Pfarrer die Enthauptung des angeblichen Wiedergängers verlangt, ohne sich jedoch sicher zu sein, ob die Kirche dies erlaubt. Der Verfasser dieser Notiz kam zum Schluss, dass die Erlaubnis erteilt wurde: „ergo licitur occidere strygam“[13]. Dieses Dokument zeigt einerseits, dass es im polnischen Königreich noch keine kirchenrechtliche Anweisung für den Umgang mit Vampiren gab. Daher wurde wohl wie in diesem Fall recht pragmatisch entschieden und dem Vorgang keine große Bedeutung beigemessen, worauf die Niederschrift der Notiz auf dem leer stehenden Bogen eines Buches hinweist. Andererseits fällt auf, dass sich nicht der „Woiwode“, eine Art Bezirksvorsteher, oder eine andere Behörde wie noch 1624 um den Fall kümmerte, sondern der katholische Geistliche vor Ort. Anscheinend überließ die weltliche Obrigkeit nun der Kirche in Fragen des Aberglaubens das Feld.

Kaum zwanzig Jahre später ist in der französischen Zeitschrift „Mercure Galant“ zu lesen, dass Vampire in „Polnisch-Reußland“[14] von Mittag bis Mitternacht Menschen und Vieh das Blut aussaugten, welches auslaufe und die Vampire darin schwimmen lasse.[15] In dem Bericht von 1693/94 ist auch davon die Rede, dass die Vampire ihr leinernes Grabtuch verzehren, wodurch sie zweifellos zu den Nachzehrern gehören. Außerdem kommen sie angeblich als böser Geist aus dem Grab und saugen alle Verwandten aus, die davon sterben. Als Gegenmaßnahme vermischen demzufolge manche das Blut des Toten mit ihrem Brotmehl, da sie sich davon Schutz erhoffen. Dieser Zeitungsartikel holt die Vorfälle von der Peripherie Europas in das Licht einer breiten Öffentlichkeit und erhebt sie so in den Rang von Präzedenzfällen.

Ebenfalls im Jahr 1693 forderte laut den Meldungen französischer Zeitschriften ein polnischer Geistlicher an der Sorbonne ein Gutachten zur posthumen Exekution unverwester Leichen an.[16] Darin wird eine junge Frau beschrieben, die im Schlaf vom Geist ihrer toten Mutter geplagt und ausgezehrt worden sei. Nachdem der blutgetränkte Leichnam der Mutter enthauptet wurde, sei die Tochter gesundet, was von glaubwürdigen Priestern bezeugt werden könne. Der Geistliche möchte nun wissen, was der Beichtvater gegen die für die Graböffnung und Leichenschändung verantwortlichen Gläubigen unternehmen solle. Die Antwort der „Sorbonnischen Doctoren“[17] lässt nicht lange auf sich warten. Sie stellen lapidar fest, dass die erwähnten Delikte schwere Sünden seien, die zum Versagen der Absolution führten. Die Delinquenten seien nach weltlicher Rechtssprechung „Gottesschänder“, was die Strafe des Sakrilegs beinhalte. Die geistliche Rechtsprechung sehe für sie die Exkommunikation durch den Papst vor. Außerdem stelle die Vermischung von Totenblut und Brotmehl einen Bund mit dem Teufel dar. Schließlich geben die Gelehrten Ratschläge für den legalen Umgang mit von Vampiren verursachten Leiden, denen man mit Gottesfurcht, Geduld und im Zweifel mit Teufelsaustreibung begegnen könne. Wie aus dem Gutachten hervorgeht, scheint die kirchenrechtliche Einschätzung der einschlägigen Vorfälle zu diesem Zeitpunkt bereits konsolidiert zu sein und einer papsttreuen Auslegung zu folgen.

[...]


[1] Vgl. Johannes Willms: Schweres Thema, leichter Fuß. Vorbildlich: Alexander Demandts Kulturgeschichte der Deutschen. In: Süddeutsche Zeitung vom 05.03.2008, S. 14.

[2] Ebd.

[3] Vgl. Aleksander Brückner: Slownik etymologiczny języka polskiego. Warszawa 1970, S. 594.

[4] Vgl. Wilhelm Gaj-Piotrowski: Duchy i demony w wierzeniach ludowych z okolic Stalowej Woli, Rozwadowa i Tarnobrzega. Wrocław 1993, S. 150.

[5] Vgl. Thomas M. Bohn: Vampirismus in Österreich und Preußen. Von der Entdeckung einer Seuche zum Narrativ der Gegenkolonisation, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008), in Druck.

[6] Vgl. Maria Janion: Wampir. Biografia symboliczna. Gdańsk 2004.

[7] Vgl. Rzączynski, Gabrielis: Historia naturalis curiosa regni Poloniae, magniducatus Litvaniae, annexorumq; provinciarum, in tractatus XX divisa. Sandomiriae 1721, S. XXX; Auszug in: Thomas Schürmann: Nachzehrerglaube in Mitteleuropa. Marburg 1990, S. 148-150.

[8] Ebd., S. 150.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Thomas Schürmann: Nachzehrerglauben in Mitteleuropa. Marburg 1990, S. 147-148.

[11] Dieser Begriff stammt vom lateinischen „stryx“ bzw. vom gr iechischen „strygoi“.

[12] Schürmann, S. 148.

[13] „Also wurde erlaubt, die strzyga zu töten“.

[14] Gemeint ist wohl das polnisch-russische Grenzgebiet.

[15] Vgl. Klaus Hamberger (Hrsg.): Mortuus non mordet. Dokumente zum Vampirismus, 1689-1791. Wien 1992, S. 73-74.

[16] Vgl. Hamberger, S. 75.

[17] Vgl. ebd., S. 222-226.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Von einer lokalen Vampirform zum politischen Schreckgespenst: Der polnische Upiórglaube in kulturhistorischer Perspektive
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Historisches Seminar)
Veranstaltung
Kulturgeschichte der Vampire 1732-1897
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
21
Katalognummer
V92702
ISBN (eBook)
9783638062534
ISBN (Buch)
9783638951036
Dateigröße
516 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vampirform, Schreckgespenst, Upiórglaube, Perspektive, Kulturgeschichte, Vampire
Arbeit zitieren
Piotr Grochocki (Autor:in), 2008, Von einer lokalen Vampirform zum politischen Schreckgespenst: Der polnische Upiórglaube in kulturhistorischer Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92702

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