Die soziale Logik des Rauchens


Magisterarbeit, 2008

148 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung – Warum beginnen Jugendliche zu rauchen?
1.1 Aufbau und Gliederung
1.2 Allgemeine Anmerkungen

2 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Konsequenzen für die Tabakprävention

3 Wirkungen des Rauchens
3.1 Gesundheitsgefährdung
3.2 Abhängigkeit
3.3 Pharmakologische Wirkungen von Nikotin
3.4 Konsonanz und Dissonanz

4 Motive zum Rauchen von Zigaretten
4.1 Nutzen der pharmakologischen Wirkungen
4.2 Alternativen zum Rauchen
4.3 Soziale Funktionen des Rauchens
4.4 Gruppendruck
4.5 Initiation

5 Fallgeschichten
5.1 Fallgeschichte von Andreas
5.2 Fallgeschichte von Angi
5.3 Fallgeschichte von Dieter
5.4 Fallgeschichte von Liane
5.5 Fallgeschichte von Manuela
5.6 Fallgeschichte von Romana
5.7 Fallgeschichte von Sonja
5.8 Fallgeschichte von Ulrich

6 Rauchen als Karriere
6.1 Das Konzept von der „Raucherkarriere“
6.2 Überblick
6.3 Stufe 1: Beobachten von Rauchern
6.4 Stufe 2: Interesse am Rauchen
6.5 Stufe 3: Rauchen als „Normalzustand“
6.6 Stufe 4: Rauchen als wählbare Option
6.7 Stufe 5: Rauchen als „Gewinn“
6.8 Stufe 6: Rauchen als „Gefahr“
6.9 Stufe 7: Rauchen als Teil des „Selbstkonzeptes“

7 Ausblick
7.1 Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des Phasenmodells
7.2 Diagnose und Prävention des Rauchens bei Jugendlichen
7.3 Vorschlag für einen Fragebogen

8 Methodische Vorgangsweise
8.1 Grounded Theory als Forschungsparadigma
8.2 Datenauswertung mit Grounded Theory
8.3 Vorgangsweise bei der Datenerhebung
8.4 Transkription der Interviews
8.5 Vorgangsweise bei der Datenauswertung

Abstract
Die soziale Logik des Rauchens
The Social Momentum of Smoking

Unkommentierter Fragebogen

Danksagung

Die vorliegende Arbeit war für mich ein langes und streckenweise besonders schwieriges Projekt, das nur durch die direkte und indirekte Unterstützung einer großen Zahl von Personen gelingen konnte. Ich möchte jetzt die Gelegenheit nutzen, all diesen Personen zu danken und einige davon namentlich zu erwähnen.

Zuallererst möchte ich meinen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern danken, die diese Studie überhaupt erst ermöglicht haben und die hier anonym bleiben müssen.

In vielen Fällen waren mehrere Termine nötig, um die Interviews durchzuführen, die jeweils mehrere Stunden gedauert haben. Ich bedanke mich auch besonders für das große Vertrauen, das mir meine Interviewpartner entgegengebracht haben.

Mein Dank gilt auch meinem Betreuer, Prof. Anselm Eder, der mir stets geduldig und weise mit seinem Rat zur Seite stand und von dem ich sowohl im Lauf dieser Arbeit als auch während meines Studiums und während meiner Tätigkeit als Studienassistent sehr viel lernen konnte. Ohne seine Anregungen und Ermutigung hätte diese Arbeit so nicht entstehen können.

Besonders bedanken möchte ich mich auch bei Annelies Larcher und Tanja Zauner, die mir beide etwa zur selben Zeit unabhängig voneinander entscheidende Tipps für meine Arbeit gegeben haben, die mich auf die richtige Spur geführt haben.

Eine große Quelle für Inspirationen und ein Fixpunkt waren auch die regelmäßigen Treffen der Arbeitsgruppe zur Interpretation von Datenmaterial, u.a. bestehend aus Roswitha Breckner, Sandra Gombotz, Bettina Kubicek, Sabine Kubicek, Gabriele Pessl, Maria Pohn-Weidinger, Monica Titton und Margita Urbanek. Ich bedanke mich für die vielen Interpretationssitzungen, bei denen ich immer das Gefühl hatte, etwas für meine Arbeit mitgenommen zu haben, auch wenn mein Interviewmaterial gerade nicht zur Interpretation stand.

Nachdem ich – wie wohl die meisten Studenten heutzutage – während meines Studiums einer beruflichen Tätigkeit nachgegangen bin, möchte ich auch meinen Kunden – im Besonderen dem Management und den Mitarbeitern der Fa. Rodlauer Computer GmbH, der Altpapier Recycling Organisationsges.m.b.H. und der EDV-Abteilung der Parlamentsdirektion – dafür danken, dass sie auf meine zeitlichen Bedürfnisse in Hinblick auf mein Studium so viel Rücksicht genommen und mir mit flexiblen Arbeitsbedingungen und dem damit verbundenen Vertrauen das Studium wesentlich erleichtert haben.

Schließlich möchte ich mich – last not least – bei meiner Freundin Viki einerseits für ihr Feedback beim wiederholten Lesen meiner Arbeit und andererseits für ihre große und langandauernde Geduld, ihr Verstehen und ihre aufmunternde Anteilnahme bedanken. Wer jemals das Glück hatte, eine solche Unterstützung zu genießen, der weiß, wie wertvoll sie sein kann.

1 Einleitung – Warum beginnen Jugendliche zu rauchen?

Es gibt sehr viele Gründe, die aus der Sicht von typischen Jugendlichen in Österreich dagegen sprechen, mit dem Rauchen von Zigaretten zu beginnen. Neben den möglichen gesundheitlichen Schäden droht die Gefahr, vom Nikotin abhängig zu werden.

Und auch die unmittelbare Wirkung eines Rauchers auf seine Umgebung lässt die Erfahrung wenig erstrebenswert erscheinen: der Rauch riecht schlecht, der Raucher selbst oft ebenfalls, es kostet – besonders für Jugendliche – ziemlich viel Geld und es werden dem Nikotin im Gegensatz zu anderen Substanzen kaum positive Wirkungen zugeschrieben und wenn, dann sind sie eher schwach und recht unspektakulär.

Selbst wenn einem das nicht genügt und man doch einmal selbst eine Zigarette probieren möchte, ist das Ergebnis meistens eher negativ oder zumindest so, dass man keinen besonderen Gewinn durch das Rauchen erkennen kann.

Trotz all dieser Argumente haben ca. 75% aller 15-jährigen Jugendlichen einmal eine Zigarette probiert und somit selbst Erfahrungen damit gemacht, die wiegesagt meist negativ oder zumindest mehrdeutig waren. Trotzdem bleiben von diesen Jugendlichen ca. 60 % dabei und probieren weiter oder beginnen zu rauchen (Dür, Aichholzer, & Friedhuber, 2003, S. 41). Doch warum ist das so? Was ist am Rauchen „dran“, dass diese Jugendlichen trotz aller zu überwindenden Hürden und Durststrecken darauf nicht verzichten möchten?

Es gibt mehrere Möglichkeiten, einer Antwort auf diese Frage, die ich das „Raucher-Explanandum“ nennen möchte, näher zu kommen. Eine davon halten Sie in den Händen: eine sozialwissenschaftliche Untersuchung. Eine andere haben meine Interviewpartner gewählt: viele von ihnen haben so lange immer wieder zu rauchen probiert, bis sie schließlich Antworten auf diese Frage bekommen haben. Von diesen Antworten und warum sie für die Jugendlichen so wichtig zu sein scheinen handelt die vorliegende Arbeit.

Die Forschungsfrage, die am Beginn dieser Studie stand, lautet:

Wie beginnen Jugendliche mit dem Rauchen von Zigaretten?

Diese Forschungsfrage legt nahe, dass es einen mehr oder weniger langen Übergang vom Nichtraucher zum Raucher geben könnte und dass man somit die Aufnahme des Rauchens als einen Prozess betrachten kann, der verschiedene Phasen durchläuft und bei dem bestimmte Wendepunkte absolviert werden müssen.

In unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Forschungsfrage steht die für die Tabakprävention zentrale Frage nach den Motiven der Jugendlichen zum Rauchen (Vgl. Dür, Aichholzer, & Friedhuber, 2003, S. 2), nämlich:

Warum beginnen Jugendliche mit dem Rauchen?

Diese Frage wurde in der Literatur bereits sehr ausführlich behandelt (siehe Kapitel4). Allerdings kann diese Frage in einer Prozess-Perspektive nicht länger durch statische Motive beantwortet werden, sondern es muss auf die Fluktuation und Veränderung der Motive sowie – damit in Verbindung stehend – die unterschiedlichen und mehrdeutigen Erfahrungen und ihre Interpretation und die dadurch veränderten Einstellungen der betreffenden Person während ihrer Entwicklung zum Raucher Rücksicht genommen werden.

Um all dem Rechnung tragen zu können, ist ein Verständnis von Rauchen als Karriere erforderlich. Der Begriff der Raucherkarriere ist dabei aus Howard Beckers klassischer Studie über Marihuana-Raucher abgeleitet, in der Becker den Lernprozess beschreibt, den die beginnenden Raucher durchlaufen und bei dem sie auch ihren sozialen Status verändern (Becker, 1966).

In meiner Arbeit geht es ausschließlich um das Rauchen von Zigaretten bzw. Tabak. Wenn von anderen Substanzen (v.a. Marihuana) die Rede ist, dann ist das immer explizit angegeben. Aus Gründen der Einfachheit und Lesbarkeit ist an vielen Stellen nur vom „Rauchen“ die Rede. Dort sind damit immer Zigaretten bzw. Tabak als Substanz gemeint.

1.1 Aufbau und Gliederung

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sechs Teile: zunächst werden in Kapitel2die wichtigsten Ergebnisse dargestellt und mögliche Konsequenzen für die Prävention aufgezeigt.

Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse befindet sich in Kapitel5, wo die einzelnen Fallgeschichten meiner Interviewpartner im Detail dargestellt werden, und in Kapitel6, wo die fallübergreifenden Gemeinsamkeiten des Verlaufs der einzelnen Raucherkarrieren in den Fokus genommen werden und damit die Sicht des Einstiegs in das Rauchen als Prozess im Mittelpunkt steht.

Der Forschungsstand zu den pharmakologischen und den sozialen Wirkungen des Rauchens und den entsprechenden Motiven wird in den Kapiteln3und4dargestellt.

Wissenschaftliche Forschung ist ein rekursiver Prozess, bei dem Ergebnisse hauptsächlich dazu dienen, die Ausgangsfragen neu zu formulieren (Vgl. Eder, 2008, S. 138/139). Dem entsprechend habe ich in Kapitel7mögliche Anschlussoptionen für diese Studie dargestellt und auch einen Fragebogen entworfen, mit dem viele der in dieser Arbeit entwickelten Hypothesen weiter überprüft werden können.

Schließlich gebe ich in Kapitel8 noch einen Überblick über den Verlauf des Forschungsprozesses und die dabei verwendeten Methoden und vor allem die Methodologie der Grounded Theory, um möglichst transparent zu machen, wie diese Arbeit entstanden ist.

1.2 Allgemeine Anmerkungen

1.2.1 Zitate aus den Interviews

Die Position von Zitate aus Interviews innerhalb des Gesamtinterviews wird immer mit dem anonymisierten Namen der Interviewperson und der Nummer des Interviews gefolgt von einem Schrägstrich (‚/‘) eingeleitet. Die genaue Stelle der zitierten Textpassage kann auf bis zu vier verschiedene Arten angegeben werden:

- Als Verweis auf die Zeile im Interview, in der das Zitat beginnt, z.B. Andreas, 1/123.
- Als Verweis auf die Nummer des Absatzes im Interview, in der das Zitat beginnt, z.B. Andreas, 1/A23. Diese Form ist durch das große ‚A‘ für „Absatz“ nach dem Schrägstrich erkennbar.
- Als Verweis auf die Nummer des Zitats („Quote“) in Atlas TI, z.B. Andreas, Q1:23. Diese Form ist durch das vorangestellte ‚Q‘ und den Doppelpunkt (‚:‘) erkennbar und entspricht der von Atlas TI verwendeten Form. Weitere Informationen zur Verwendung von Atlas TI m Rahmen dieser Arbeit befinden sich in Kapitel8.4.
- Als Verweis auf die Zeit im Interview, bei der das Zitat beginnt. Die Darstellung erfolgt in der Form HH:MM:SS, z.B. Andreas, 1/00:12:30.

1.2.2 Anonymisierung der Interviews

Selbstverständlich sind alle Namen, Orte und andere Merkmale aus den Interviews, die eine Wiedererkennung ermöglichen würden, einer Anonymisierung unterzogen worden.

Darüber hinaus habe ich zum Zweck der Anonymisierung an Stellen, wo ich dies für nötig gehalten habe, in ein paar Fällen einzelne Fakten aus einer Fallgeschichte in eine andere übernommen, also die Fallgeschichten gleichsam etwas „durchmischt“. Dabei habe ich allerdings sehr genau darauf geachtet, dass der Verlauf zwischen den beiden anonymisierten und den beiden originalen Varianten sinngemäß derselbe geblieben ist und dass sich aus diesen Veränderungen keine neuen oder anderen Argumente für oder gegen meine Schlussfolgerungen und Hypothesen ergeben haben.

1.2.3 Geschlechtsneutrale Schreibweise

Auf eine durchgehend geschlechtsneutrale Schreibweise habe ich zugunsten der Lesbarkeit des Gesamttextes verzichtet. Ich möchte aber explizit darauf hinweisen, dass die weibliche Form an den jeweiligen Stellen ebenso impliziert ist und dass ich damit in keiner Weise eine Bevorzugung oder Benachteiligung eines der beiden Geschlechter ausdrücken möchte.

2 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Konsequenzen für die Tabakprävention

Neben den bereits ausführlich in der Literatur diskutierten Motiven, aus denen Jugendliche rauchen, scheint das „Raucher-Explanandum“ ein wesentlicher Grund zu sein, warum Jugendliche mit dem Rauchen beginnen. Mit „Raucher-Explanandum“ ist aus der Perspektive von Jugendlichen die Frage gemeint, was relevante Bezugspersonen, deren Urteil normalerweise ähnlich ausfällt wie das eigene, dazu gebracht hat, zur Zigarette zu greifen, zumal dem Rauchen im Allgemeinen nur negative Eigenschaften zugeschrieben werden und die ersten eigenen Erfahrungen damit ebenfalls meist negativ sind.

Diese Frage könnte im Prinzip statt durch eigenes Ausprobieren auch durch den schulischen Aufklärungsunterricht über das Rauchen beantwortet werden. Dazu müsste dieser aber in ausgewogener Weise auch auf den „Gewinn“ durch das Rauchen eingehen, anstatt nur die Gefahren zu betonen.

Eine einseitige Aufklärung hat vermutlich darüber hinaus den Nachteil, dass sie noch mehr Aufmerksamkeit für das Rauchen erzeugt und dadurch das „Raucher-Explanandum“ und gleichzeitig das Interesse für das Rauchen weiter verstärkt. Damit würde das Gegenteil dessen bewirkt, was eigentlich mit dem Aufklärungsunterricht bezweckt wird.

Insgesamt wäre ein aufgeklärterer gesamtgesellschaftlicher Zugang zum Rauchen wünschenswert, bei dem auch alternative Möglichkeiten des Tabakgenusses („kontrolliertes Rauchen“) an Stelle des vorherrschenden Sucht-Paradigmas Eingang in die Diskussion finden würden. Tatsächlich ist vermutlich nur ein geringer Anteil der Raucher wirklich tabakabhängig und für die wenig bis nicht-abhängige Mehrheit der Raucher hat das Sucht-Paradigma den Nachteil, dass sie sich selbst beim Versuch mit dem Rauchen aufzuhören in einer schwächeren Position wahrnehmen als es faktisch der Fall ist bzw. als es nötig wäre[1]. Das wiederum wirkt sich zum Teil negativ auf die Erfolgsaussichten beim Aufhören aus.

Jugendliche sind in einem gewissen Alter initiationsbedingt auch empfänglich für „Startsignale“ zum Rauchen, die auch implizit in Aufforderungen zum Nichtrauchen einhalten sein können. So kann z.B. die plötzlich von den Eltern vorgetragene Warnung vor dem Rauchen für den Jugendlichen als Signal gedeutet werden, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, um damit anzufangen. Ein unausgewogener Aufklärungsunterricht könnte von vielen Jugendlichen ähnlich gedeutet werden.

Eine unabdingbare Voraussetzung für das Wecken von Interesse am Rauchen ist seine Beobachtbarkeit. Allein aus diesem Grund müssen Raucherpräventionsmaßnahmen die Zigaretten so gut es geht aus der Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen und damit aus dem öffentlichen und medialen Raum verbannen. Nur, wenn Rauchen von den Jugendlichen nicht mehr als „Normalzustand“ bei anderen (und vor allem bei Erwachsenen) beobachtet werden kann, wird es auch kein „Normalzustand“ für die Jugendlichen selbst sein.

Ein weiteres Argument für die Verbannung von Zigaretten aus dem öffentlichen Raum und vor allem aus der Gastronomie ist die verbesserte Möglichkeit, das eigene Rauchen vor den Eltern zu verbergen, wenn in den Lokalen massiv geraucht wird, in denen sich die Jugendlichen Abends treffen.

Darüber hinaus ist das Fortgehen in Zusammenhang mit Alkohol eine klassische Situation, um Ex-Raucher in die Gefahr eines Rückfalls zu bringen.

Sowohl beim Einstieg als auch beim Rückfall dürfte der Alkohol eine enthemmende Funktion übernehmen und außerdem das eigene schlechte Gewissen der betreffenden Person wegen des (Wieder)Rauchens reduzieren helfen.

Rauchverbote für Jugendliche unter einer bestimmten Altersgrenze erweisen sich als relativ unwirksam. Ein Grund dafür mag sein, dass sich Personen, denen die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens und die Gefahr der Abhängigkeit von Zigaretten keine Angst macht, auch vor möglichen Sanktionen aufgrund eines Rauchverbotes weitaus weniger fürchten. Somit wirken Rauchverbote vermutlich hauptsächlich bei jenen, bei denen die Abschreckung durch die einseitige „Aufklärung“ ohnehin bereits weitgehend gelungen ist.

Für die Prävention wäre es hilfreich, wenn man Personen identifizieren könnte, die ein erhöhtes Risiko haben, mit dem Rauchen zu beginnen. Ein möglicher Ansatz dafür ist die Selbstwahrnehmung als intern bzw. extern geleitete Person nach Rotter (1966). Allerdings steht eine Verifikation eines Zusammenhangs zwischen erhöhter Wahrscheinlichkeit zu rauchen und der Selbstwahrnehmung als extern geleitete Person mittels des in dieser Studie vorgeschlagenen Fragebogens derzeit noch aus.

Es ist auch anzunehmen, dass solche Personen noch stärker an die derzeit gängigen Erklärungsparadigmen für das Rauchen wie v.a. Gruppendruck und Abhängigkeit glauben und dass solche Erklärungen besonders bei diesen Personen gleichsam als „selbsterfüllende Prophezeiungen“ wirksam werden.

Ein Thema, mit dem sich die Tabakprävention voraussichtlich in Zukunft verstärkt beschäftigen muss, ist die Schaffung funktionaler Alternativen zu den sozialen Nutzungsmöglichkeiten von Tabak. Damit sind vor allem die Kommunikationsmöglichkeiten, die Möglichkeiten zu Selbstbelohnung und auch die Funktion der Zeitstrukturierung mittels des Rauchens gemeint. Wenn das Rauchen in Organisationen wie der Schule wegfällt, dann verschwinden gleichzeitig Interaktionsmöglichkeiten und es könnte die Kontaktaufnahme zwischen den Rauchern erschwert werden.

Um diese Funktionen wäre es schade und möglicherweise würde ihr Fehlen die Funktion der betreffenden Organisationen beeinträchtigen, weshalb es wichtig wäre, hier geeignete Alternativen zu finden und anzubieten.

3 Wirkungen des Rauchens

3.1 Gesundheitsgefährdung

Die gesundheitsgefährdende Wirkung des Rauchens ist inzwischen durch zahlreiche Studien belegt. Eine umfassende Übersicht über die Auswirkungen des Rauchens für die Gesundheit wird beispielsweise im Bericht des US-amerikanischen Surgeon General gegeben (The Health Consequences of Smoking. A Report of the Surgeon General, 2004).

Hauptsächlich stehen folgende Erkrankungen in Zusammenhang mit dem Rauchen von Zigaretten (Vgl. Adlkofer, 2000, S. 47ff.):

- Krebserkrankungen
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Lungenerkrankungen
- Schwangerschaftskomplikationen

Die Gesundheitsgefährdung durch das Rauchen wird v.a. in Form von verschiedenen Anti-Raucher-Kampagnen immer wieder in den Alltagsdiskurs eingebracht, sodass das Thema Gesundheit und der Einfluss des Rauchens darauf von meinen Interviewpartnern fast durchwegs angesprochen worden sind.

Der Alltagsdiskurs über die Gefahren des Rauchens scheint vor allem dadurch gekennzeichnet zu sein, dass großer Konsens darüber besteht, bestimmte schwere Erkrankungen als eindeutig nachgewiesene Folgen des Rauchens zu sehen. Andererseits gehen die Einschätzungen über die Höhe des individuellen Risikos weit auseinander und werden von den potentiell Betroffenen auch kaum ernsthaft hinterfragt (z.B. bei Andreas 1/A51 auf S.29oder bei Ulrich 1/A4 auf S.99).

Das ist für mich Grund genug, die Frage nach dem Ausmaß der Gesundheitsgefährdung durch das Rauchen in diesem Kapitel ein wenig näher zu betrachten.

3.1.1 Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Gefährlichkeit des Rauchens

Besonders beim Lungenkrebs besteht ein hoher Zusammenhang zwischen dem Rauchen von Tabak und dem Auftreten der Erkrankung. Troschke (1987, S. 47) schreibt, dass von zehn Menschen, die an Lungenkrebs erkranken und sterben, neun geraucht haben. 90% der Lungenkrebs-Patienten sind also Raucher. Andererseits erkrankt von elf starken Zigarettenrauchern nur einer an Lungenkrebs. Die anderen zehn haben also – zumindest was diese eine gesundheitliche Auswirkung betrifft – „Glück gehabt“.

Statistische Daten lassen sich also immer sowohl als „Risiken“ als auch als „Chancen“ interpretieren und das mag neben gezielten Strategien der Tabakindustrie (Vgl. Proctor, 1995, S. 105ff.) dazu beigetragen haben, dass die Gesundheitsgefahr durch das Rauchen überraschend lange kontroversiell diskutiert worden ist, wodurch bis heute zumindest im Alltagsdiskurs noch ein beträchtlicher Interpretationsspielraum erhalten geblieben ist.

„Die Höhe des Krebsrisikos für Raucher genau zu bestimmen ist sehr schwierig, und verschiedene Forscher in verschiedenen Ländern sind zu voneinander abweichenden Ergebnissen gelangt“ (Schwarzer, 1996, S. 117). Das hat u.a. folgende Gründe (Vgl. Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 117):

- Es gibt unbekannte zusätzliche Risikofaktoren, denen die Raucher ausgesetzt sind (z.B. Luftverschmutzung, Alkoholkonsum, andere Karzinogene, Stress, etc.).
- Die Raucherkarrieren der untersuchten Personen haben sehr unterschiedliche Verläufe und die Personen haben verschiedene Rauchgewohnheiten (z.B. Dauer, aufgenommene Dosis, Nikotin- und Kondensatgehalt der gerauchten Zigaretten, Anzahl der Züge pro Zigarette, Tiefe des Inhalierens, etc.).
- Es gibt unterschiedliche Vorerkrankungen und Dispositionen der untersuchten Personen.
- Es können noch weitere riskante Verhaltensweisen bei den untersuchten Personen vorliegen.

Für die Schätzungen der Gesundheitsgefahr durch das Rauchen müssen also zusätzliche Annahmen getroffen werden, die für die Berechnung nötig, aber nur eingeschränkt gültig sind. Beispielsweise wird oft das gesamte Überschussrisiko der Raucher dem Rauchen angelastet (z.B. bei Wald & Hackshaw, 1996), obwohl sich Raucher und Nichtraucher in zahlreichen Eigenschaften, z.B. Ess- und Trinkgewohnheiten, Gesundheitsbewusstsein, Risikoverhalten und Sozialstatus unterscheiden. Alle diese Merkmale erhöhen das gesundheitliche Risiko der Raucher unabhängig vom Rauchen (Adlkofer, 2000, S. 47).

Vor allem bei Längsschnittstudien ist ein Problem, dass die heutigen Zigaretten gegenüber jenen von vor 20-30 Jahren weitaus schadstoffärmer sind. Es besteht deshalb lt. Adlkofer (2000, S. 47) kein Zweifel daran, dass das Lungenkrebsrisiko aufgrund dieses Faktors vor allem bei den jüngeren Rauchern inzwischen geringer geworden ist.

Problematisch ist es außerdem, wenn in einem Land erhobene Daten über die Risikoabschätzung auf ein anderes Land übertragen werden, für das solche Daten nicht existieren (wie z.B. für Deutschland) (Adlkofer, 2000, S. 47).

3.1.2 Rauchen als Todesursache

Schätzungen zufolge sterben weltweit jedes Jahr 3 Millionen Menschen an den Folgen des Rauchens (Wald & Hackshaw, 1996, S. 3). Bis zum Jahr 2030 soll diese Zahl auf 10 Millionen Menschen pro Jahr ansteigen (McKay & Eriksen, 2002, S. 36).

Tabelle 1zeigt den Vergleich der Anzahl von durch das Rauchen bedingten Toden mit anderen Todesursachen in Österreich für das Jahr 2000.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle1: Vergleich der Häufigkeit von Todesursachen in Österreich im Jahr 2000 (Quellen: Statistik Austria; Peto, Lopez, Boreham, & Thun, 2006; Peto, Watt, & Boreham, 2006)

Die Zahl der Tode als Folge des Rauchens ist demnach etwa doppelt so hoch wie die Summe aller Tode durch nichtmedizinische Ursachen. Das bedeutet, dass das Rauchen von Zigaretten die größte vermeidbare Todesursache ist.

Von den ca. 9.000 Personen, die jährlich in Österreich an den Folgen des Rauchens sterben, sind etwa 4.000 im mittleren Lebensalter, d.h. zwischen 35 und 60 Jahre alt (Peto, Watt, & Boreham, 2006).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle2: Krankheiten mit tödlichem Ausgang und Anteil der Folgen des Rauchens in Österreich im Jahr 2000 (Quellen: Peto, Lopez, Boreham, & Thun, 2006; Peto, Watt, & Boreham, 2006)

Eine Längsschnittstudie unter ca. 35.000 männlichen britischen Ärzten, die ab 1951 in periodischen Abständen deren Rauchverhalten und Todesursachen erfasst hat, konnte zeigen, dass die Raucher eine um ungefähr 10 Jahre geringere Lebenserwartung hatten als die Nichtraucher (Doll, Peto, Boreham, & Sutherland, 2004, S. 6). Für Österreich beträgt die durchschnittliche Verringerung der Lebenserwartung für Raucher im Alter von 35 bis 69 Jahren gegenüber Nichtrauchern im selben Alter ca. 23 Jahre (Peto, Lopez, Boreham, & Thun, 2006, S. 66). Das bedeutet, dass besonders Personen im mittleren Lebensalter von der verringerten durchschnittlichen Lebenserwartung betroffen sind, denn einer von fünf Toten im mittleren Lebensalter ist in Österreich zwischen 1950 und 2000 auf das Rauchen zurückzuführen gewesen (Peto, Watt, & Boreham, 2006, S. 4).

Nach der oben zitierten britischen Studie verbessert sich die durchschnittliche Lebenserwartung deutlich, wenn man mit dem Rauchen aufhört. Dies trifft umso mehr zu, je früher man auf die Zigaretten verzichtet. Hört man im Alter von 60 Jahren zu rauchen auf, dann erhöht sich die Lebenserwartung im Durchschnitt um 3 Jahre. Mit 50 Jahren sind es 6 Jahre, mit 40 Jahren 9 Jahre und mit 30 Jahren 10 Jahre an zusätzlicher durchschnittlicher Lebenserwartung (Doll, Peto, Boreham, & Sutherland, 2004, S. 9).

Die Erhöhung des relativen Risikos an einer mit dem Rauchen assoziierten Erkrankung zu sterben ist in einer anderen britischen Studie noch eindrucksvoller (Wald & Hackshaw, 1996, S. 6; Adlkofer, 2000, S. 48), die auf den Daten der „Cancer Prevention Study II“ der American Cancer Society basiert und deren Ergebnisse auszugsweise inTabelle 3dargestellt sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle3: Tödlich verlaufende, mit dem Rauchen assoziierte Erkrankungen; M = Männer, F = Frauen

Es zeigt sich also, dass das Risiko an einer der hier angeführten Erkrankungen für Raucher zu sterben, für Raucher bis zu rund 25 fach erhöht ist.

Eine andere häufig zitierte Studie stammt von Lubin, et.al. (1984; zit. nach Schwarzer, 1996, S. 118), die auf die inTabelle 4angegebenen Zahlen für den Zusammenhang zwischen dem Rauchen und der Erkrankung an Lungenkrebs kommen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle4: Zusammenhang zwischen Lungenkrebserkrankungen und Rauchen (Quelle: Lubin, et al., 1984; zit. nach Schwarzer, 1996, S. 118)

Diese Studie zeigt ein um mehr als den Faktor 5 erhöhtes Risiko für Raucher an Lungenkrebs zu erkranken. Das absolute Risiko aus dieser Studie beträgt für Raucher fast 40% und für Nichtraucher noch immer 8%. Bei diesen Werten handelt es sich allerdings um Erkrankungen und nicht um Todesfälle wie in den anderen bisher zitierten Studien.

Aufgrund von Daten, die im Internet allgemein verfügbar sind, habe ich für Raucher und Nichtraucher in Österreich versucht, eine grobe Berechnung über das Risiko durchzuführen, an Lungenkrebs zu sterben. Das Ergebnis ist inTabelle 5dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle5: Abschätzung des Risikos an Lungenkrebs zu sterben für Raucher und Nichtraucher in Österreich im Jahr 2000

Leider musste ich aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Daten desselben Jahres die Bevölkerungszahlen von 2002 mit den geschätzten Raucher-Prävalenzen von 2008 und den Zahlen für Lungenkrebs-Todesfälle von 2000 für die Berechnung heranziehen. Für eine ungefähre Abschätzung erschien mir dies jedoch erlaubt, da bei keinem dieser Werte große Schwankungen zu erwarten sind.

Die Zuordnung der Lungenkrebs-Todesfälle als kausal durch das Rauchen bedingt bzw. ohne Zusammenhang habe ich direkt aus der Studie von Peto, Lopez, Boreham & Thun (2006, S. 64-65) übernommen, ohne dass mir exakt nachvollziehbar war, wie diese Werte sich errechnen.

Vor allem die niedrig angesetzte Raucher-Prävalenz von 30% erklärt die hohen Werte für das relative Risiko des Rauchens bei Wald & Hackshaw. Aber auch ein Risikofaktor von ca. 10 ist natürlich beachtlich.

Anders ausgedrückt wird eine Person pro Jahr vor dem Tod durch Lungenkrebs gerettet, wenn 48 Personen zu rauchen aufhören würden(Anzahl der notwendigen Behandlungen bzw. NNT – number needed to treat; Vgl. Gigerenzer, 2005, S. 57).

3.2 Abhängigkeit

Während über die gesundheitsgefährdende Wirkung des Rauchens weitgehend Konsens innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde besteht, ist die Frage kontroversiell, ob und wie stark Nikotin zu Abhängigkeit oder Sucht führt.

Die Frage nach dem Vorhandensein einer abhängig machenden bzw. suchterzeugenden Wirkung von Tabak ist vor allem deshalb interessant, weil diese immer wieder als Erklärung für das Rauchen herangezogen wird.

Die Tabakabhängigkeit erfüllt aus medizinischer Sicht die folgenden Kriterien für eine stoffbezogene Abhängigkeit (Opitz, 2000, S. 53):

- Psychoaktivität
- durch die Substanz bestimmtes Verhalten
- zwanghafter Konsum
- Gebrauch trotz erkannter Gesundheitsschädlichkeit
- Rückfälle nach Abstinenz
- wiederkehrendes zwanghaftes Verlangen („craving“)
- Toleranzentwicklung
- körperliche Abhängigkeit

Allerdings sind auch einige wichtige Kriterien nicht erfüllt: Tabakabhängigkeit führt nicht zum Verfall der Persönlichkeit, und nur selten führt das abhängige Rauchen zum Verlust des Arbeitsplatzes oder zu Konflikten mit dem Gesetz (Opitz, 2000, S. 53).

Lange Zeit wurde das Rauchen nur als eine Gewohnheit betrachtet und das Nikotin bzw. der Tabak schienen nicht unter den von der WHO (World Health Organization) definierten abhängig machenden Substanzen auf. Der Diskurs um die Nikotinabhängigkeit nahm seinen Anfang als die World Health Assembly (WHA) im Jahre 1986 den Tabak erstmals als „addictive“ bezeichnete. Davor wurde die psychoaktive und abhängig machende Wirkung im Vergleich zu anderen Drogen als zu gering erachtet (Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 69 und 72).

Im Jahr 1988 wurde dann ein Bericht des US-amerikanischen Surgeon Generals publiziert, der den Titel „Nicotine Addiction“ trug (Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 70; U.S. Department of Health and Human Services, 1988). Ein Jahr später wurden in der ICD-10 („International Classification of Diseases“) erstmals Koffein und Tabak in die Liste der „Abhängigkeit produzierenden Drogen“ aufgenommen (Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 71).

„Im offiziellen Sprachgebrauch der WHO und der ICD (sowie der Ärzte und Therapeuten, die sie benutzen) ist der Tabak aufgrund des Beschlusses von 1989 (in Kraft dann ab dem 1.1.1993) also zu einer sowohl dependence-producing als auch psychoactive drug geworden“ (Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 72; Kursiv im Original).

Hess et.al. (2004, S. 118ff.; siehe auch Kolte, 2006, S. 55ff.) kritisieren diese geänderte Einstufung als fragwürdig und berufen sich dabei auf eine umfangreiche Studie von Frenk/Dar(2000), die darin vor allem folgende Annahmen kritisieren:

- Die Wirkung des Nikotins verstärkt das Konsumbedürfnis und erhöht den Konsum weil diese Wirkung als angenehm empfunden wird.
- Gegen diese Hypothese spricht, dass selbst Raucher den Effekten des Nikotins nichts abgewinnen können, wenn es in anderer Form als durch die Zigarette verabreicht wird (Frenk & Dar, 2000, S. 93ff., 105f.; zit. nach Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 120).
- Auch Opitz (Opitz, 2000, S. 55) meint, dass das Rauchverlangen („craving“) „bis zu einem gewissen Grad unabhängig von der Nikotinaufnahme“ ist und dass es vielleicht „überwiegend ein Verlangen nach Ausübung eines fest in den Tagesablauf integrierten Verhaltens (ausgelöst durch gelernte Reiz-Reaktions-Muster) und weniger ein Verlangen nach Nikotin“ sei.
- Es wird eine „Toleranz“ gegenüber Nikotin entwickelt, die eine Steigerung der Dosis nötig macht, um dieselbe angenehme Wirkung erzielen zu können (Vgl. auch Opitz, 2000, S. 55f.).
- Lt. Frenk/Dar (2000, S. 171; zit. nach Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 123) extrahieren starke Raucher tatsächlich aber weniger Nikotin aus ihren Zigaretten und es scheint so zu sein, dass Nikotin die Anzahl der gerauchten Zigaretten limitiert, weil ab einer gewissen Blutkonzentration die toxischen Effekte zu unangenehm werden.
- Nikotin verursacht folgende Entzugssymptome: dysphorische und depressive Stimmung, Schlaflosigkeit, Irritierbarkeit / Enttäuschung / Ärger, Angst, Konzentrationsschwierigkeiten, Unruhe, verminderte Herzfrequenz und gesteigerten Appetit(Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 124; Opitz, 2000, S. 55).
- Falls diese Symptome, die nicht spezifisch für Nikotin sind, tatsächlich durch das Fehlen von Nikotin hervorgerufen würden, dann müsste die Verabreichung von Nikotin z.B. bei der „Nicotine Replacement Therapy“ (NRT) diese Symptome verringern. Lt. Frenk/Dar (2000, S. 127; zit. nach Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 124) gibt es keine Studie, bei der alle Entzugssymptome verschwanden.

Opitz (2000, S. 53) sieht die Veränderungen in der Einschätzung des Suchtpotentials von Tabak/Nikotin im Gegensatz zu Hess et.al. bzw. Frenk/Dar als durch neue Forschung und neue Erkenntnisse zustande gekommen.

Ungeachtet der möglichen Kontroverse um die Einordnung des Tabaks hinsichtlich seines Suchtpotentials scheint es zumindest dahingehend einen Konsens zu geben, dass nicht alle Raucher im gleichen Maße nikotinabhängig sind(Vgl. Opitz, 2000, S. 53). Troschke (1987, S. 128) führt eine Liste von Rauchertypen nach deren Nikotinabhängigkeit und der Prävalenz des jeweiligen Typs an.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle6: Rauchertypen nach Grad der Nikotinabhängigkeit (Woeber & Bauermann, 1982, S. 144; zit. nach Troschke, 1987, S. 128)

Diese Zahlen deuten darauf hin, dass nur ein geringer Anteil der Raucher tatsächlich abhängig ist. Je nach Studie sind zwischen 10-15% der Raucher körperlich abhängig. Dazu kommen dann noch ca. 20% Raucher mit einer psychosozialen Abhängigkeit.

Die WHO schätzt hingegen in ihrem aktuellen Bericht den Anteil der nikotinabhängigen Personen aus der Gesamtzahl von mehr als einer Milliarde Rauchern weltweit im Gegensatz dazu auf mehr als 50% (WHO, 2008, S. 10).

Zur Bestimmung des Grades der Tabakabhängigkeit bei Rauchern wird weltweit sehr häufig ein einfacher Test verwendet, der „Fagerström Test for Nicotine Dependence“ (FTND) (Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 125f.; Opitz, 2000, S. 53; Schoberberger & Kunze, 1999, S. 125). Dieser Test ist als Fragebogen konzipiert, der die befragten Raucher mittels der folgenden sechs Fragen anhand der Summe der jeweils vergebenen Punkte in vier Grade der Abhängigkeit von „sehr gering“ bis „sehr schwer“ einteilt:

1. Wann nach dem Aufwachen rauchen Sie Ihre erste Zigarette?

- <=5min. 3 Punkte
- 6-30min. 2 Punkte
- 31-60min. 1 Punkt
- >60min. 0 Punkte

2. Finden Sie es schwierig, an Orten, an denen das Rauchen verboten ist, nicht zu rauchen (z.B. in der Kirche, Bibliothek, Kino, etc.)?

- Ja 1 Punkt
- Nein 0 Punkte

3. Auf welche Zigarette würden Sie nicht verzichten wollen?

- die erste am Morgen 1 Punkt
- andere 0 Punkte

4. Wie viele Zigaretten rauchen Sie im Allgemeinen pro Tag?

- <=10 0 Punkte
- 11-20 1 Punkt
- 21-30 2 Punkte
- >=31 3 Punkte

5. Rauchen Sie am Morgen im Allgemeinen mehr als am Rest des Tages?

- Ja 1 Punkt
- Nein 0 Punkte

6. Kommt es vor, dass Sie rauchen, wenn Sie so krank sind, dass Sie den ganzen Tag überwiegend im Bett verbringen müssen?

- Ja 1 Punkt
- Nein 0 Punkte

Die Auswertung dieses Tests sieht bei 0 – 2 Punkten eine geringe Abhängigkeit, bei 3 – 5 Punkten eine mittlere Abhängigkeit und bei 6 – 10 Punkten eine starke bis sehr starke Abhängigkeit vor.

Hess et.al. (2004, S. 126) und Schmidt-Semisch (2005, S. 284) kritisieren daran, dass jedweder Zigarettenkonsum als zumindest „gering abhängig“ eingestuft wird. Nicht-abhängiges Rauchen ist also bei diesem Test als Diagnose nicht möglich.

Die Einstufung des Rauchens als abhängiges und damit schwer modifizier- und beeinflussbares Verhalten ist aus Sicht von Hess et.al. (2004, S. 135) problematisch, weil dadurch bei den Rauchern ein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber ihrer Gewohnheit geschaffen wird und eine Reduktion bzw. ein „kontrolliertes Rauchen“ so erschwert, wenn nicht gänzlich verhindert wird.

Das Suchteingeständnis hat also eine stabilisierende und legitimierende Wirkung auf das Verhalten und dient nicht als Motivation für eine Verhaltensänderung. Zudem werden die Erwartungen an die eigenen Steuerungsmöglichkeiten geschwächt und eine Möglichkeit geschaffen, das eigene Rauchen gegenüber anderen zu rechtfertigen.

Die aus dem Alltagsdiskurs v.a. über die Gesundheitsgefahren des Rauchens bei den Rauchern entstehende Dissonanz führt so weniger zu Veränderungsversuchen als zu einem „Arrangieren“ mit der wahrgenommenen Abhängigkeit. Dabei entsteht die Vorstellung, dass man eine besondere Willensstärke benötigt, um die Sucht beherrschen zu können und dass jede Lockerung der Selbstkontrolle zu einem vollständigen Rückfall in die alten Gewohnheiten führt (Vgl. Kolte, 2006, S. 211 und 249).

Meine Interviewpartner haben mit einigen Aussagen weitere Anhaltspunkte in diese Richtung geliefert. Gerade am Beginn der Raucherkarrieren, die ich ja zum Großteil untersucht habe, scheint die Abhängigkeit schwach bis überhaupt nicht vorhanden zu sein und kann somit das Rauchen zumindest in dieser Phase auch nicht erklären. Somit bleiben in der Anfangsphasen vor allem soziale bzw. psychologische Faktoren als Ursachen des Rauchens übrig (Vgl. auch Opitz, 2000, S. 54).

3.3 Pharmakologische Wirkungen von Nikotin

Nikotin setzt eine große Zahl von Neurotransmittern frei, die sehr unterschiedliche Wirkungen haben, sodass die Gesamtwirkung von Nikotin uneinheitlich ausfällt (sieheAbbildung 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung1: Neurochemische Grundlagen der Auswirkungen des Nikotins (aus: Adlkofer, 2000, S. 46)

Die akuten Nikotinwirkungen umfassen also (Vgl. Adlkofer, 2000, S. 46; Schoberberger & Kunze, 1999, S. 29):

- Arousal (Anstieg der Herzfrequenz, des Blutdrucks, etc.)
- Konstriktion der Hautgefäße und damit Minderdurchblutung und Abkühlung der Haut
- Beschleunigter Stoffwechsel, höherer Grundumsatz (ca. 5%) und damit verringertes Körpergewicht bei Rauchern (Schoberberger & Kunze, 1999, S. 73).
- Appetithemmung
- Stimmungsaufhellung, Angst-, Stress und Schmerzlinderung
- Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungssteigerung; höhere Leistungsfähigkeit bei sich wiederholenden Aufgaben

Beim Rauchen von Zigaretten werden allerdings neben dem Nikotin noch ca. 4.000 andere Stoffe aufgenommen, die natürlich jeweils verschiedenste Wirkungen haben. Beispielsweise führt das im Zigarettenrauch enthaltene Kohlenmonoxyd beim Raucher zu einem Leistungsabfall durch Sauerstoffmangel (Hess, Kolte, & Schmidt-Semisch, 2004, S. 61).

3.4 Konsonanz und Dissonanz

Angelehnt an die Theorie kognitiver Dissonanz von Festinger sprechen auch Schoberberger & Kunze (1999, S. 76) von konsonanten und dissonanten Rauchern. Diese Begriffe sollen hier kurz erklärt werden.

Ein konsonanter Raucher denkt nicht daran, in näherer Zukunft etwas an seinem Rauchverhalten zu ändern. Ein solcher Raucher ist zufrieden damit, dass er raucht und auch mit der von ihm gerauchten Menge an Zigaretten.

Ein dissonanter Raucher möchte sein Rauchverhalten in naher Zukunft verändern, weil er damit unzufrieden ist. Meist möchten dissonante Raucher mit dem Rauchen aufhören oder es zumindest reduzieren. Es kann aber auch sein, dass ein dissonanter Raucher auf eine andere Zigarettenmarke mit weniger Nikotin- oder Kondensatgehalt wechseln möchte.

4 Motive zum Rauchen von Zigaretten

Als Motive für das Rauchen von Zigaretten kommen einerseits die pharmakologischen Wirkungen und die damit zusammenhängenden Nutzungsmöglichkeiten und andererseits soziale Funktionen in Frage.

4.1 Nutzen der pharmakologischen Wirkungen

Troschke (1987, S. 55ff.) nennt folgende Motive für das Rauchen von Zigaretten, die sich aus den pharmakologischen Wirkungen ergeben.

- Motivierung
- Selbstbelohnung
- Beruhigung

Mit dem Rauchen einer Zigarette kann man sich für unangenehme Tätigkeiten motivieren und wird damit leistungsbereiter und leistungsfähiger (Troschke, 1987, S. 56). Vor allem „Kopfarbeiter“ nutzen das Rauchen lt. Troschke seit jeher in dieser Weise, was zur Erklärung der hohen Verbreitung in intellektuellen und studentischen Kreisen beiträgt.

Gleichzeitig neben dieser anregenden Wirkung kann Nikotin aber auch beruhigend wirken. Diese beiden pharamakologischen Wirkungen, die scheinbar widersprüchlich sind, werden deshalb nach ihrem Erstbeschreiber auch Nesbittsches Paradoxon genannt (Troschke, 1987, S. 30).

Durch das Rauchen einer Zigarette kann man sich auch für die erbrachten Leistungen selbst belohnen und wird damit unabhängig von der Anerkennung anderer bzw. braucht nicht lange darauf zu warten. Die Begriffe ‚Pausenzigarette‘ oder ‚Zigarettenpause‘ drücken das eindeutig aus. Insbesondere diejenigen, die von anderen nur selten Bestätigung erhalten, können mit dem Rauchen sich selbst etwas Gutes tun. (Troschke, 1987, S. 57)

Als dritte wesentliche Funktion lässt sich die Reduzierung emotionaler Spannungen - und der damit verbundenen körperlichen Verspannungen – auch im Zusammenhang mit sozialen Konflikten benennen. (Troschke, 1987, S. 58)

Besonders in schwierigen Lebensphasen bei sog. "Life events" (d.h. lebensverändernden Ereignissen) greift der Raucher auf das ihm bekannte Bewältigungsmittel Zigarette zurück und nutzt dieses zur emotionalen Entspannung. (Troschke, 1987, S. 62)

4.2 Alternativen zum Rauchen

Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, die weiter oben beschriebenen Effekte zu erzeugen: durch den Genuss von Alkohol, Medikamenten, Essen von Süßigkeiten (Vgl. auch Schoberberger & Kunze, 1999, S. 45f.) sowie durch Sport. Diese Alternativen haben aber jeweils Nachteile. Alkohol ist nicht überall konsumierbar und die Wirkungen halten für längere Zeit an. Beim Genuss von Süßigkeiten liegen die Gesundheitsrisiken vor allem in der Gefahr von Übergewicht. Diese Variante kommt jedoch dem Rauchen einer Zigarette von der Anwendbarkeit her am nächsten und wird lt. Troschke vor allem von Frauen ähnlich eingesetzt. Ausdauersportarten wie Joggen und Radfahren erfordern sehr viel mehr Zeit und sind nur unter bestimmten Bedingungen anwendbar (Vgl. Troschke, 1987, S. 66).

Das Rauchen einer Zigarette hat lt. Troschke (1987, S. 66) folgende vorteilhafte Merkmale hinsichtlich seiner Anwendbarkeit:

- Es verbraucht wenig Zeit (ca. 5 – 7 Minuten für eine Zigarette).
- Es bedarf keiner besonderen Hilfsmittel.
- Es ist prinzipiell fast überall möglich, wobei dieser Vorteil zunehmend durch Beschränkungen zunichte gemacht wird.
- Es ist unabhängig von anderen Menschen durchführbar.
- Die Wirkung stellt sich sehr rasch ein – Nikotin erreicht beim Rauchen in 7 Sekunden das Gehirn, also schneller als bei intravenöser Injektion (Schoberberger & Kunze, 1999, S. 26), ist nicht zu stark bzw. gut dosierbar und dauert nur kurze Zeit.

Der Vorteil des niedrigen Preises ist gegenüber 1987 vor allem aufgrund steuerlicher Maßnahmen geringer geworden (dzt. ca. 25 €-Cent pro Zigarette, das entspricht ca. 50 Pfennig. Troschke (1987, S. 66) nennt noch 18 Pfennig als Preis für eine Zigarette).

4.3 Soziale Funktionen des Rauchens

Kolte (2006, S. 67) bzw. Hess et.al. (2004, S. 82ff.) beschreiben folgende Motiv- und Funktionskomplexe des Rauchens:

1. Selbstdarstellung

Durch das Rauchen hat man sehr viele Möglichkeiten zur Selbstdarstellung. Beispielsweise können die Zigarettenmarke oder bestimmte Gesten dazu dienen, die Vorstellung des Rauchers von sich selbst oder eine Stimmungslage ausdrücken.

2. Soziale Anerkennung

Raucher sind zwar einer immer stärker werdenden sozialen Ablehnung ausgesetzt, aber diese kann den Zusammenhalt der Raucher untereinander stärken. Gemeinsames Rauchen kann ein verbindendes Erlebnis sein.

3. Rauchen als Kommunikationsmittel

Troschke (1987, S. 76) beschreibt folgende Interaktionsmöglichkeiten, die mit Hilfe von Zigaretten zustande kommen können:

- Man kann sie zur Kontaktaufnahme einsetzen, etwa durch die Bitte um Feuer, eine Zigarette, einen Aschenbecher, aus der sich oft weiterführende Kommunikation ergibt.
- Man kann sie zum Ausdruck von Sympathie gegenüber anderen einsetzen, etwa durch das Angebot oder auch durch das Teilen einer Zigarette.
- Man kann damit seiner Aggression Ausdruck verleihen, indem man z.B. andere absichtlich durch seinen Rauch belästigt.
- Man kann Rücksichtnahme zeigen, indem man freundlich um Erlaubnis fragt oder indem man den Rauch in eine andere Richtung bläst.

Mit dem Rauchen hat man also sowohl die Möglichkeit, den Wunsch nach Nähe und Zugehörigkeit als auch nach Distanz auszudrücken.

4. Zeitstrukturierung

Die „Zigarettenlänge“ ist eine von Rauchern häufig gebrauchte Zeiteinheit für Pausen geworden. Außerdem kann man mit dem Rauchen Wartezeiten leichter überbrücken.

5. Belastungsbewältigung bzw. emotionale Stabilisierung

Rauchen ist eine häufige Reaktion auf psychosozialen Stress und negative Emotionen.

6. Genuss

Rauchen kann Genuss bereiten, wenn es bewusst ausgeübt und wahrgenommen wird oder wenn in bestimmten Situationen, z.B. nach einem guten Essen, geraucht wird.

4.4 Gruppendruck

Gruppendruck zählt zu den häufigsten und gebräuchlichsten Erklärungen dafür, warum Jugendliche rauchen(Dür, Aichholzer, & Friedhuber, 2003, S. 6 u. 13). Aus diesem Grund möchte ich mich an dieser Stelle kurz damit befassen.

Unter Gruppdendruck wird üblicherweise ein impliziter Zwang zur Konformität verstanden, der von einer Gruppe von Gleichaltrigen ausgeht und auf das einzelne Gruppenmitglied einwirkt.

Dür et.al. (2003, S. 6) bezeichnen das Konzept des Gruppendrucks als soziologisch sehr voraussetzungsreich, weil es von einer starken Strukturiertheit und Regelgebundenheit der jugendlichen Peergroups ausgeht. Außerdem setzt es das „Bild eines form- und verführbaren, schwachen, inkompetenten und nicht wirklich selbstbewussten Jugendlichen“ voraus, „der der Welt und ihren Einflüssen nahezu hilflos ausgeliefert ist“ (Dür, Aichholzer, & Friedhuber, 2003, S. 24).

Auch aus meiner Sicht hat Gruppendruck als Erklärungsparadigma einige gravierende Nachteile: sie machen die Mikroebene also die Interaktionen gewissermaßen zu einer „Black Box“ und verschleiern dadurch, dass es sich gerade hier oft auszahlen würde, genauer nachzufragen.

Was passiert also in so einer Gruppe, wenn „Gruppendruck“ bzw. „Konformitätsdruck“ stattfinden? Wie genau wird er reproduziert und aus welchen Gründen? Wem nützt er? Wird er wirklich ausgeübt oder nur von den „Opfern“ gefühlt? Oder dient er überhaupt nur zur Rechtfertigung? Unter welchen Umständen wird ihm nachgegeben und unter welchen eher nicht? Warum bleibt man in einer Gruppe, in der man zu etwas genötigt wird, was man eigentlich nicht will bzw. warum sucht man sich eine solche Gruppe aus? Wie weit geht die Konformität überhaupt? Bei welchen Gruppenmerkmalen sind Abweichungen erlaubt, bei welchen erwünscht, bei welchen toleriert bei welchen verboten?

Viele Fragen, die besonders im Alltagsverständnis häufig durch dieses eine Wort, das scheinbar vieles erklärt, unterdrückt werden. Deshalb wird Gruppendruck auch oft von den Rauchern selbst als Legitimationsfigur für ihr Rauchen verwendet. Es dient – ähnlich wie Abhängigkeit – als bequeme Rechtfertigung. Man kann „halt“ einfach nicht anders.

Im Folgenden möchte ich kurz eine möglicherweise typische Situation beschreiben und analysieren, in der einige Mitglieder einer Peergruppe das erste Mal eine Zigarette rauchen. Bei dieser Analyse möchte ich versuchen, über das Paradigma des Gruppendrucks hinauszugehen und die Verbreitung der Zigarette auf der Interaktionsebene nachvollziehen.

Es handelt sich bei der Situation um eine Erzählung von Romana (siehe Kapitel5.6), bei der sie sich einen Tag nachdem sie ihre erste Zigarette geraucht hat mit fünf Freundinnen zum Fortgehen trifft.

In dieser Gruppe, war das Verhältnis der Raucherinnen zu Nichtraucherinnen bis dahin 3:3. Somit ist zu diesem Zeitpunkt die Regel, dass Mitglieder der Gruppe rauchen dürfen bereits etabliert. Die drei Nichtraucherinnen tolerieren offensichtlich das Verhalten der drei Raucherinnen, obwohl zumindest bei Romana die Regeln der Mutter (und damit der Familie als „Bezugsgruppe“ (Gukenbiehl, 1999, S. 113ff.)) dagegen sprechen.

Von den fünf Freundinnen mit denen sie sich an diesem Tag getroffen hat, hatten zwei so wie Romana ihre eigenen Zigaretten mit, eine war überzeugte Nichtraucherin, eine hat gelegentlich geraucht, aber nie eigene Zigaretten mit und eine hat noch nie geraucht (Romana, Q9:33, 1/A82).

Eine der beiden Nichtraucherinnen hat dann an diesem Tag ebenfalls zu rauchen begonnen, nachdem Romana ihr eine Zigarette angeboten hat:

jo also ane woar dabei die hot a no ned graucht, die hot gsogt jo, i probiers halt a amal und die ondre. die schnorrt / sowieso immer ((lacht)) [hmm, okay] jo ((lacht)) (Romana, 1/A93, Q9:66)

Bisher war das Verhältnis Raucherinnen zu Nichtraucherinnen innerhalb der Gruppe wie gesagt ausgeglichen, aber jetzt steht die überzeugte Nichtraucherin mit ihrer Haltung plötzlich alleine da und muss auch schon Konsequenzen tragen:

R: jo wir homs (eh so) gwusst das de ganz gegns Rauchn is und, de frog ma a goar ned [hmm]

I: aber wenn ihr rauchts, ah sogt sie nix [na] des is wurscht

R: sie sogt nur rachts ma ned ins Gsicht oder so oder ((lacht leicht)) [hmm] oder geh-, ja, oder gehts aweng weg oder so, aber sunst ned [ah okay] (Romana, 1/A87, Q9:5)

Die Freundinnen packen also alle ihre Zigaretten aus, denen die selbst keine haben werden welche angeboten, nur die eine Freundin wird „goar ned“, also überhaupt nicht gefragt. Wenn das Anbieten und die Annahme von Zigaretten auch eine Form der Bekundung von Sympathie ist, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass dieses Mädchen sich plötzlich ein wenig aus der Gruppe ausgeschlossen gefühlt hat und dafür spricht auch ihre Reaktion.

Sie fordert Rücksichtnahme ein und damit eine Möglichkeit der Kommunikation, mit der Raucher Sympathie auszudrücken in der Lage sind (siehe Kapitel4.3).

Andererseits kommuniziert sie selbst damit, dass sie das Rauchen zumindest vorgeblich stört und dass sie den jetzt entstandenen Unterschied noch weiter betont, indem sie die Distanz zwischen sich und der Gruppe auch räumlich vergrößert und diese Raumveränderung noch dazu von den anderen fordert anstatt selbst ein wenig weiter wegzugehen. Ihr Umgang mit der Situation ist also ambivalent: sie fordert zur physischen Distanz auf, ohne diese Distanz selbst herstellen zu wollen.

Sie sieht sich folglich als nicht verantwortlich dafür, dass hier eine Distanz herzustellen ist. Also rechnet sie vermutlich die Schuld dafür den anderen zu, wobei sie selbst auch darunter zu leiden hat. Dass sie in dieser Konstellation noch eine Aufforderung zur Vergrößerung des eigenen Leidens an ihre Freundinnen richtet, könnte dazu verleiten, ihre Handlung als Trotzreaktion zu interpretieren.

Es gibt aber noch eine weitere Funktion ihrer Aufforderung: sie versucht die Regel zu etablieren, dass die Raucherinnen in dieser Gruppe auf die einzige verbliebene Nichtraucherin Rücksicht nehmen sollen. Dabei testet sie gleichzeitig ihren sozialen Status innerhalb der Gruppe ab: kann sie auch als Nichtraucherin weiterhin Mitglied dieser Gruppe sein und wird sie trotzdem noch ernst genommen, obwohl sie sich plötzlich und ohne ihr aktives Zutun in der Rolle der Abweichenden wiederfindet?

Ohne Blick auf die Interaktionsebene könnte die Versuchung bestehen, die soeben beschriebene Verbreitung des Rauchens in der Peergruppe von Romana mit Gruppendruck zu „erklären“. Tatsächlich zeigt sich aber, dass hier überhaupt niemand dazu gedrängt oder überredet wurde, zu rauchen. Im Gegenteil: am ehesten geht Druck – wenn überhaupt – von der überzeugten Nichtraucherin in der Gruppe aus.

4.5 Initiation

Initiation (abgeleitet von lat. „initium“ = Beginn, Eintritt) bezeichnet ursprünglich einen Statusübergang oder eine rituelle Aufnahme in eine Gemeinschaft, die für ein Kollektiv oder ein Individuum erfolgen kann.

Arnold van Gennep hat in seinem klassischen Buch über Initiationsriten eine dreiphasige Struktur von Initiationsritualen aufgrund der in der jeweiligen Phase hauptsächlich vorgenommenen Art von Riten angenommen (Gennep, 1999, S. 21):

1. Die Ablösungsphase, die durch Trennungsriten bestimmt ist.
2. Die Zwischenphase, in der Schwellen- und Übergangsriten überwiegen.
3. Die Integrationsphase, die durch Angliederungsriten gekennzeichnet ist.

Initiationsriten benutzen also die Metapher von Tod und Wiedergeburt, um einen Statusübergang zu kennzeichnen. In der Ablösungsphase wird die alte Position in der Gesellschaft abgelegt. Der Initiand wird von seiner alten sozialen Umgebung isoliert und muss oft gefährliche oder schmerzhafte Rituale über sich ergehen lassen. Nach dieser Zeit wird eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft in einer neuen sozialen Position vorgenommen.

In Sinne der Metapher von Tod und Wiedergeburt können auch schwere Krankheiten, Lebenskrisen oder Depressionen als Initiationen gedeutet werden, die denjenigen, der sie bewältigt, gestärkt und mit neuem Vertrauen in seine Fähigkeiten versieht (Vgl. Mala, 2004, S. 13; Steinberger, 1999).

Die Gründe, warum Initiationsrituale nötig sind, bestehen hauptsächlich im Widerspruch zwischen sozialer Ordnung und der Dynamik einer sich verändernden Gesellschaft, in der Grenzüberschreitungen diese soziale Ordnung immer wieder gefährden. Die Ritualisierung der Grenzüberschreitungen soll den Veränderungen einen kontrollierenden Rahmen geben, um die statische Ordnung zu unterstützen und für alle Mitglieder zu reproduzieren und damit verbindlich zu machen (Gennep, 1999, S. 15; Steinberger, 1999, S. 193).

Die Statusübergänge werden darüber hinaus mittels der Initiationsriten für alle Mitglieder eine Gesellschaft sichtbar markiert. Dadurch wird aus der Unsicherheit bezüglich des Status des Initianden eine für alle Mitglieder bindende Eindeutigkeit. Zudem kann der Initiand mit den Anforderungen des neuen Status vertraut gemacht werden und dadurch die an ihn gerichteten Erwartungen leichter erfüllen. Initiationsriten dienen also auch dazu, dem Individuum bei seiner Statusveränderung beizustehen.

4.5.1 Moderne Statuspassagen

Claude Lévi-Strauss unterscheidet zwischen „heißen“, d.h. sich schnell verändernden bzw. dynamischen und „kalten“, d.h. statischen bzw. zyklische Kulturen. Moderne Gesellschaften sind „heiß“, weil zwischen zwei Generationen wenig Kontinuität besteht. Archaische Gesellschaften mit ihren Struktur bewahrenden Traditionen hingegen gelten als „kalt“ (Mala, 2004, S. 28).

Die Weitergabe von Wissen und Traditionen erfolgt in „kalten“ Gesellschaften auf performativem Weg, während die Transmission in „heißen“ Gesellschaften vornehmlich über speichernde, nicht-sprachliche Medien erfolgt.

Eine performative Transmission setzt eine enge Lehrer-Schüler-Beziehung voraus, während eine fixierte, schriftliche Transmission in einem weitgehend depersonalisierten Lernprozess resultiert. Das Lernen wird also über Bücher autonom gesteuert und die Initiation gleicht eher einer Selbstinitiation (Vgl. Mala, 2004, S. 28f.).

Friebertshäuser (1992, S. 36ff.) beschreibt Statuspassagen in modernen Gesellschaften ebenfalls als individualisiert. Die Individuen haben dabei weitgehende Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten betreffend Zeitpunkt, Art und Form der Bewältigung der Statuspassagen und können manche sogar überhaupt vermeiden. Moderne Gesellschaften stellen demzufolge eine Anforderung zu Selbstinitiation.

Eine Eigenleistung der Individuen bei der Bewältigung von Statuspassagen ist nötig, weil nicht mehr in vollem Umfang auf Vorgeprägtes zurückgegriffen werden kann und deshalb Ziel und Ablauf mitbestimmt werden müssen. Im Rahmen der Selbstinitiation sind die Kontrolle und die Organisation der Initiation weniger stark institutionalisiert und werden daher zunehmend von selbstorganisierten Gruppen übernommen (Vgl. Mala, 2004, S. 31; Dür, Aichholzer, & Friedhuber, 2003, S. 21).

Aus einem Mangel an organisierten Riten bei der Initiation ergeben sich Formen von jugendlicher Selbstorganisation in Cliquen, Subkulturen, etc. Der führt zu einem Bedeutungsverlust der Erwachsenen bei der Initiation der Jugendlichen und in Folge auch zu weniger Anschlussfähigkeit der Jugendlichen an bestehende Traditionen und kulturelle Werte und damit zu einem Mangel an Orientierungsmöglichkeiten.

Zu einer ähnlichen Diagnose kommen auch Dür et.al. (2003, S. 20): In der modernen Gesellschaft ist unklar geworden, welche Eigenschaften genau einen Erwachsenen ausmachen. Es fehlen die fertigen Entwürfe und daher hängt es mehr denn je vom Selbstbewusstsein und der Kreativität der Jugendlichen ab, was sie aus ihren Möglichkeiten machen.

Auf der anderen Seite kann das Jugendlich-sein über bestimmte ritualisierte Praktiken performativ innerhalb der Subkulturen geformt und gefestigt werden: „Wenn schon nicht erwachsen werden, dann eben das Jugendlich-sein formen und festigen“ (Mala, 2004, S. 32) Die Jugendphase läuft also Gefahr, in einer eigenständigen Jugendinitiation eher prolongiert zu werden, anstatt sie ins Erwachsenenleben überzuführen (ebd.).

4.5.2 Initiationsmuster

Erwachsene sind im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen unter anderem durch die größere gesellschaftliche Verantwortung gekennzeichnet, die sie zu tragen haben.

Zu manchen Zeiten und vor allem in früheren Gesellschaften hat das vor allem für männlichen Mitglieder einer Gesellschaft bedeutet, dass man in gefährlichen Situationen bestehen konnte und so einen Beitrag für die eigene Gesellschaft leisten zu können. Diese möglichen Beiträge waren also oft mit Gefahren für das Individuum verbunden. Man musste demnach möglichst ruhig und kontrolliert (heute würde man vielleicht sagen: „cool“) der Gefahr ins Auge sehen können statt beispielsweise in Panik zu verfallen, um als Erwachsen zu gelten. Mit anderen Worten: man musste lebensgefährliche Risiken eingehen können.

In der modernen Gesellschaft ist der Status der Erwachsenen weniger eindeutig an bestimmte Eigenschaften gebunden, da sich die von Erwachsenen vorgelebten Rollenbilder und Möglichkeiten vervielfacht haben. Dadurch entsteht bei manchen Jugendlichen, wie bereits ausgeführt, eine gewisse Orientierungslosigkeit darüber, wie man die Fähigkeit zur Selbstverantwortung am besten unter Beweis stellen kann.

Eine Möglichkeit dazu scheint nach wie vor die zu sein, dass man sich selbst in Gefahr begibt und aus dieser Gefahr möglichst unbeschadet hervorgeht. Das würde einen Beitrag zur Erklärung leisten, warum manche Jugendliche beispielsweise schnell Auto fahren, sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, sich freiwillig zum Militärdienst melden und warum sie ihre Gesundheit durch das Rauchen von Zigaretten gefährden.

Wenn Jugendliche ihre Initiation hauptsächlich durch das eingehen von Risiken zu gestalten versuchen, dann könnte man das unter diesem Blickwinkel als „archaische Initiation“ bezeichnen.

Eine andere Möglichkeit, die Fähigkeit zur Selbstverantwortung zu zeigen, wäre, möglichst alle Gefahren zu vermeiden und möglichst wenige Risiken einzugehen. Durch diese Vermeidung würde der Jugendliche ebenfalls zeigen, dass ihm „nichts passieren kann“. Und zwar nicht, weil er jede gefährliche Situation heil übersteht (was tatsächlich oft genug nicht der Fall ist), sondern weil er sich gar nicht in gefährliche Situationen begibt. Das könnte man als „aufgeklärte Initiation“ bezeichnen.

Eine interessante Frage wäre, warum der letztere Typ von Initiation aus Sicht von manchen Jugendlichen keine wählbare Option zu sein scheint.

Im Kern könnte es dabei um das Thema Verantwortung und die möglichen Beiträge zur Gesellschaft gehen, sowie um die damit eng verbundene Frage der Belohnung durch die Gesellschaft mittels knapper (nicht nur materieller) Ressourcen.

Das „archaische“ Initiationsmuster könnte als Versuch interpretiert werden, einen Anspruch auf Belohnung und damit gleichzeitig auf eine verantwortlichere Position in der Gesellschaft durch den Verweis auf die Bereitschaft zu begründen, sich für die Gesellschaft in Gefahr zu begeben.

Im Fall des „aufgeklärten“ Initiationsmusters wäre eine mögliche Interpretation, dass der Initiand sich bessere Chancen auf die Durchsetzung seiner Ansprüche ausrechnet, wenn er versucht, seinen Beitrag zur Gesellschaft langfristig anzulegen und sein eigenes Leben dementsprechend so wenig wie möglich gefährdet.

5 Fallgeschichten

In diesem Kapitel geht es um die Darstellung der einzelnen Fallgeschichten. Dabei wurden ausschließlich jene Ereignisse aus den Interviews berücksichtigt, bei denen im Verlauf der Analyse ein Zusammenhang mit dem Rauchen und seiner Entwicklung als wahrscheinlich angenommen worden ist.

Die Fallgeschichten sind in zwei Spalten dargestellt. In der linken Spalte wird die chronologische Abfolge aufgrund der in den Interviews genannten Ereignisse wiedergegeben. Erlebens- und Präsentationsebene sind dabei nicht getrennt.

In der rechten Spalte wird die Analyse der Fallgeschichte wiedergegeben. Der primäre Fokus der Analyse liegt auf den Veränderungen der Haltung bzw. Einstellung zum Rauchen („attitude“) als auch der Erfahrungen mit dem Rauchen („experience“) (Vgl. Becker, 1966, S. 43).

Zusätzlich wird in der rechten Spalte die Zuordnung des jeweiligen Ereignisses zu einer bestimmten Stufe der Raucherkarriere getroffen. Diese Karriere-Stufen wurden von mir aufgrund der in diesem Kapitel vorgestellten Fälle erstellt und werden in Kapitel6im Detail beschrieben.

Zur Illustration der Analyse habe ich an einigen Stellen Zitate von meinen Interviewpartnern angeführt. Diese Zitate sind grau hinterlegt, um sie vom deskriptiven und analytischen Text abzuheben. Die Transkriptionszeichen, die in diesen Zitaten verwendet werden, sind in Kapitel8.4erläutert.

Die Fallgeschichten wurden selbstverständlich anonymisiert, d.h. alle Namen, Orte und sonstigen Merkmale, die eine Erkennung der Interviewperson ermöglichen könnten, wurden verändert. Die genaue Vorgangsweise bei der Anonymisierung ist in Kapitel1.2.2dargestellt.

5.1 Fallgeschichte von Andreas

Im Fall von Andreas fällt es mir schwer, aus dem Interview eine genaue Rekonstruktion seiner „Raucher-Geschichte“ zu erstellen, weil ich nur wenige Erzählungen und Zeitangaben von ihm erfragt habe und die Ereignisse teilweise ohne Bezug aufeinander mehrfach im Interview vorkommen. Außerdem gibt es ein paar Widersprüche zwischen den vorhandenen Zeitangaben (siehe Kapitel5.1.2). Trotzdem versuche ich hier eine ungefähre Rekonstruktion der Fallgeschichte.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Sein Interesse beim Probieren gilt also scheinbar nicht den Zigaretten, die er als Sache selbst immer wieder vergisst und die insofern für ihn nicht wichtig zu sein scheinen. Dasselbe zeigt sich übrigens auch am Tag nach diesem Versuch, wo Andreas und seine Freunde die „Maisfahnderl“ rauchen (mehr dazu weiter unten). Es scheint ihm also vielmehr darum zu gehen, dass seine Freunde gemeinsam etwas tun, was er nicht kennt und dass er auf diese Weise aus der Gruppe ausgeschlossen ist:

Ja, also ich war amal zelten und da hat sie da mei Freind der is a 14 mei anderer Freund is a 14 die ham Zigaretten mitghabt i hab net gwusst was des is, hams ma halt gebn (Andreas, 1/A6, Q7:3)

Andreas kann sich zu diesem Zeitpunkt trotz seiner früheren Versuche überhaupt nicht mehr an Zigaretten erinnern und weiß folglich auch nicht, was die beiden Freunde beim Zelten da machen und womit sie da hantieren.

Die Konsequenz daraus, dass er nicht weiß was Zigaretten sind, ist nicht, dass er mehr darüber erfährt und sich dann vielleicht zum Mitrauchen entscheidet. Stattdessen bekommt er die Zigaretten und raucht diese scheinbar ohne weitere Nachfrage.

Dass er überhaupt nicht nachfragt und auch später noch nicht darüber Bescheid weiß, „was das ist“ deutet für mich darauf hin, dass ihn die Zigaretten selbst eigentlich nicht interessieren. Er sagt, dass er erst durch die Aufklärung im Schulunterricht der 3. Klasse Unterstufe mehr über Zigaretten erfährt. Es scheint ihm bei seinen ersten Versuchen also um die Teilnahme und die Zugehörigkeit zur Gruppe zu gehen.

Möglicherweise hat dieses „Vergessen“ auch die Funktion, sich trotz der negativen früheren Erfahrungen noch einmal erlauben zu können, die Zigaretten zu probieren.

Jedenfalls schmecken ihm die Zigaretten diesmal sofort (1/26, 1/261) und er raucht (ohne zu inhalieren) deshalb gleich einige nacheinander. Durch diese starke Dosis wird ihm aber schließlich übel und er erbricht (1/44).

Hier zeigt sich darüber hinaus, dass Andreas noch kaum Erfahrung im Umgang mit Tabak hat und deshalb zur Übertreibung neigt, weil er die Substanz nicht richtig dosieren bzw. nicht kontrolliert rauchen kann. Auch die von ihm wahrgenommenen Wirkungen der Zigarette bestätigen das Bild von einem unerfahrenen Raucher: er nimmt nur den Geschmack wahr und die negativen Wirkungen auf seinen Körper, der noch keine Toleranz für Nikotin entwickelt hat[9].

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Das Rauchen dieser „Maisfahnderl“ ist in seiner Entstehungsgeschichte zunächst erklärungsbedürftig – Andreas beschreibt folgendermaßen, wie es dazu kam:

von die hoartn Zapfn stengan ja vorn solche Herzaln ausse [welche Zapfn] ah vo di:e, wie nennt ma des, vo die Maiszapfn halt [ ah, Mais, Maiskolben] da stengan ja vorn des, kolben, da stengan ja vorn des, stengan ja vorn de Sochn aussa [ah ja ja ja] de homma mal gracht [und die habts ah] ja und dann hots (uns so drückt) [und wie seids auf des komman] jo ((lacht)) [ja wie, na aber wie is euch des eingfalln] ja mir ham da mal wie ma klua worn, des woar a so mit zwölf Joahr beim zeltn untn (...) woar halt amal langweilig und da samma halt obegangan, ham uns untn immer vasteckt, hom untn imma a Gaudi ghobt, (hams umgschlogn) hamma immer so a, a Schlocht gmocht, und dann hamma si denkt, dann hamma uns amal denkt, des kennt ma ja a rachn [´hm´], hamma a Zeitungspapier gnomman, dann hamma / (des) halt gracht ((lacht leicht)). dann hamma aber Durchfall ghobt, jeda vo uns (Andreas, 1/554)

Sie haben sich also gedacht, dass sie das rauchen könnten. Aufgrund dieser Formulierung von Andreas und weil das Rauchen für ihn beim Hinuntergehen zum Maisfeld zunächst gar kein Thema gewesen zu sein scheint, kann man vermuten, dass die Idee nicht von ihm gekommen ist.

Warum sie die „Maisfahnderl“ an Stelle von Zigaretten geraucht haben begründet Andreas folgendermaßen:

des woar eigentlich (1) am nächstn Tog wia i die erste Zigarettn gracht ham, hamma oft ((= „dann“)) gsogt, homs ka Göld mehr ghobt, das ma welche kafn ham kennan, sans auf die Idee komman das ma des rachn kenntn ((...)) da woar ma zu dritt und dann hot si holt, hamma uns holt denkt, des kennt ma mochn [hmm] ja und dann hamma des so gmocht (Andreas, 1/567)

Er wechselt hier mehrmals zwischen ich, wir und sie, was wie schon in der oben zitierten Passage Unklarheit hauptsächlich darüber schafft, wer genau die Idee dazu hatte, die „Maisfahnderl“ zu rauchen. Was könnte Andreas davon haben, diesen Umstand zu verschleiern – vorausgesetzt er kennt den Hergang noch?

Relativ eindeutig ist die Frage der Verantwortung beim Kauf der Zigaretten: Andreas fühlt sich hier unzuständig. Die anderen beiden erfahreneren Raucher hatten kein Geld mehr.

Eine Deutung wäre, dass er als Einziger der drei sehr wohl Geld gehabt hätte, dies aber verheimlicht hat und auf diese Weise indirekt an der Entstehung dieser „Idee“ beteiligt war.

Es könnte auch so gewesen sein, dass die Idee – so wie er sagt – von einem der beiden Freunde kam und dass der Satz „hamma uns holt denkt, des kennt ma mochn“ bedeutet, dass sie dann alle mit dieser Idee einverstanden waren.

Eine dritte Variante wäre, dass er hier seine Rolle als „Mitläufer“ bezüglich des Rauchens verändern wollte und sich in seiner Selbstpräsentation mehr Einfluss auf die Gruppe verleihen wollte als er tatsächlich hatte. Dagegen spricht allerdings, dass seine anderen Erzählungen über Situationen wo er geraucht hat, ihn immer als unwissend oder durch die anderen beeinflusst – jedenfalls aber nie in der Rolle des „Anstifters“ – darstellen.

Interessant ist in Zusammenhang mit den „Maisfahnderl“ noch zu erwähnen, dass Andreas‘ Großonkel in seiner Jugend einmal dasselbe gemacht hat. Andreas hat das aber zu dem damaligen Zeitpunkt noch nicht gewusst (1/586).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Reihenfolge dieser beiden Aufklärungen durch den Besitzer des Campingplatzes und durch die Mutter ist nicht ganz klar (siehe dazu die Kapitel5.1.1und5.1.2). Jedenfalls behauptet Andreas in beiden Fällen trotz Aufklärung bei zumindest der anderen Gelegenheit und trotz wiederholten eigenen Gebrauchs der Substanz zu dieser Zeit noch immer nicht gewusst zu haben, was „das“ (also die Zigarette) ist. Beispielhaft sei eine dieser Darstellungen hier angeführt:

i hob des oft ((dann)) zerscht ned gwusst, und i hob ma denkt jo, sowas weißes mit an. mit irgendwas dran, wos kennt das sein, dann hamsas anzundn, und es raucht, i hob ma do nix einbüldt darauf, [hmm] die Mama hots ma gsogt wos des is (Andreas 1/258)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ja jo, da woar ma halt in Freibad, [hmm] und i wollt eigentlich ned rachn i hab des scho wieder fast vergessn ghabt, des woar vor zwoa Joahr, und da sans holt olle gsessn, dann hab i ma denkt, was tuan denn de scho wieder i hab des vui de-, voll vergessn, des ane Mal wo de Mama des gsagt hat. da sans halt olle sans olle glegn. i hab da no nia eigene Zigarettn ghobt, de ham immer eanara Packl ghobt, da samma halt amal nebenanada glegn, die hamma volle immer ins Gsicht blosn. mitn Rach, und da, [hmm] bin i dann aufn Gusto kemman und dann hams ma immer mehr gebn (Andreas, 1/142, 1/A44, Q7:26)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ja und dann ebn im Freibad da woar ma oft immer zsamman, dann hamma meistens pafft, (deswegn so) paffen is no schädlicher wie Lungenzug, ja und dann hab i des halt glernt, n Lungenzug. i hob zwar lang braucht aber dann hab in kennan (Andreas, 1/164, 1/A51, Q7:28)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

5.1.1 Anmerkungen zur Analyse

Andreas Geschichte ist von vielen Widersprüchen und Ambivalenzen gekennzeichnet (siehe dazu auch das folgende Kapitel5.1.2) und auch die Zuordnung von Phasen aufgrund meines Phasenmodells ist bei ihm nicht immer eindeutig möglich.

Zunächst ist nicht erkennbar, wann bei ihm ein Interesse am Rauchen entstanden ist und ob das überhaupt vor der diesbezüglichen Aufklärung in der Schule der Fall war. Für einen so späten Zeitpunkt spricht, dass Andreas davor immer wieder vergessen hat, was Zigaretten sind – und zwar so nachhaltig, dass das nach eigenen Angaben auch den Namen und damit die Möglichkeit zur Benennung mit eingeschlossen war. Dieser Umstand zeugt nicht gerade von großem Interesse am Rauchen bzw. an Zigaretten.

Ein anderes Argument für geringes Interesse am Tabak selbst ist auch die Beliebigkeit hinsichtlich der gerauchten Substanzen. Sind keine Zigaretten da, tun es die „Maisfahnderl“ auch. Hier kann also maximal ein Interesse am habituellen Rauchen abgeleitet werden.

Weiters setzt sich bei Andreas nie eine eindeutige Haltung dazu durch, ob er das Rauchen jetzt als „Gewinn“ oder „Gefahr“ sieht. Es gibt bei ihm Hinweise für beide Sichtweisen, die aber allesamt wenig ausgeprägt sind und kaum handlungsbestimmend werden.

Wahrscheinlich ist dieser Fall so zu interpretieren wie Andreas‘ Raucherkarriere es nahelegt – er schwankt in seiner Beurteilung des Rauchens ziemlich orientierungslos zwischen den beiden Polen hin und her, ohne dass er bisher zu einem klaren (Zwischen)Ergebnis gekommen wäre.

Ebenso wenig eindeutig ist, wie weit Rauchen in seinem sozialen Umfeld von ihm als „Normalzustand“ wahrgenommen werden kann. Es gibt sowohl Raucher wie seine Nachbarin und sein unmittelbarer Freundeskreis als auch sehr viele Nichtraucher, angefangen bei seiner Familie bis hin zum allergrößten Teil seiner Mitschüler. Auch hier ist das Bild mehrdeutig und möglicherweise trägt das zu seiner ambivalenten Haltung ebenfalls bei.

5.1.2 Widersprüche in der Fallgeschichte von Andreas

Im Interview von Andreas gibt es zahlreiche Widersprüche, die eine genaue Rekonstruktion der Fallgeschichte verhindern.

Vor allem geht es bei diesen Widersprüchen um die Zeit zwischen 2003, wo Andreas zum ersten Mal geraucht hat und 2005, wo Andreas „fix“ zu rauchen begonnen hat. Die Ereignisse in dieser Zeit sind schematisch inAbbildung 2dargestellt.

InAbbildung 2steht ein Rechteck für ein Ereignis. Ein Pfeil bedeutet, dass diese Ereignisse entweder explizit oder aus dem Erzählkontext in die Reihenfolge gebracht wurden, in die die Richtung des Pfeiles zeigt. Die zeitliche Verortung der Ereignisse ergibt sich entweder aus absoluten Bezügen aus dem Interview (die entsprechenden Verweise auf die Zeile im Interview sind durch die Zahlen angegeben) oder aufgrund der Reihenfolge, die sich aus den Pfeilen ergibt.

[...]


[1] Kleinke (1978, S. 55) beschreibt ein Experiment an dem sich u.a. der Einfluss bestimmter Erwartungen auf die Deutung der Wahrnehmung von Abhängigkeit zeigt. In dem Experiment sollten zwei Gruppen von Rauchern für einen Tag auf die Zigarette verzichten. Beide Gruppen bekamen eine Placebo-Pille. Den Personen in der Versuchsgruppe wurde gesagt, dass das Placebo genau jene Symptome auslösen würde, die durch den Verzicht auf das Rauchen zustande kommen (z.B. Unruhe, erhöhter Appetit, etc.). In der Kontrollgruppe wurde dem Placebo kein bestimmter Effekt zugeschrieben. Personen aus der Versuchsgruppe hatten nun tatsächlich weniger Schwierigkeiten an diesem Tag auf die Zigaretten zu verzichten und verspürten weniger Verlangen danach als die Personen aus der Kontrollgruppe. Eine alternative Erklärung für die unangenehmen Symptome, die durch den Verzicht auf die Zigarette entstehen, erleichtert also den Verzicht, während das Abhängigkeits-Paradigma die Schwierigkeiten bei der Abstinenz der Beeinflussung durch den Raucher entzieht und damit wohl eher verstärkt.

[2] Die Sterberate bezeichnet die Anzahl der Toten pro 1.000 Einwohner pro Jahr.

[3] Darin enthalten sind u.a. alle Tode in Folge von Unfällen inkl. Verkehrsunfällen, Selbstmorde und alle gewaltsamen Tode.

[4] Die Berechnung erfolgte unter der Annahme, dass gegenwärtig 30% der Bevölkerung Raucher sind und dass das gesamte Überschussrisiko dem Rauchen anzulasten ist (zur Problematik dieser Annahme sie Kapitel3.1.1).

[5] Quelle: Statistik Austria, URL: http://www.statistik-austria.at/web_de/static/bevoelkerung_zu_jahresbeginn_seit_2002_nach_fuenfjaehrigen_altersgruppen_u_023468.xls [20.2.2008], Daten für 2002

[6] Quelle: WHO Report on Global Tobacco Epidemic, 2008, S.274-275, Daten für 2008. Es wird hier aufgrund mangelnder Verfügbarkeit genauer Daten angenommen, dass der Raucheranteil in den Bevölkerungsgruppen über und unter 35 Jahre gleich hoch ist.

[7] (Peto, Lopez, Boreham, & Thun, 2006, S. 64-65), Daten für 2000

[8] Standardisierte Sterblichkeitsrate pro 100.000 und Jahr (Vgl. öSTAT, 1998, S. 197)

[9] Dass Andreas überhaupt in der Lage ist, gleich am Anfang so viele Zigaretten auf einmal zu rauchen, ist nebenbei bemerkt eine Folge der modernen Ultraleichtzigaretten, deren Konsum aufgrund ihres geringen Nikotingehaltes auch bei Anfängern nur dann zu einer Nikotinvergiftung führen kann, wenn sie so wie von Andreas in sehr großer Zahl geraucht werden. Durch diese leichten Zigaretten wird der Einstieg für Jugendliche also wesentlich erleichtert (Vgl. Opitz, 2000, S. 54). Darüber hinaus führen Zigaretten mit niedrigerem Nikotin-Gehalt dazu, dass viele Raucher mehr Zigaretten rauchen, um die gewohnte Nikotin-Dosis zu erhalten (Gigerenzer, 2005, S. 317).

Ende der Leseprobe aus 148 Seiten

Details

Titel
Die soziale Logik des Rauchens
Hochschule
Universität Wien  (Soziologie)
Note
1
Autor
Jahr
2008
Seiten
148
Katalognummer
V92604
ISBN (eBook)
9783638062152
ISBN (Buch)
9783640099221
Dateigröße
1199 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Logik, Rauchens
Arbeit zitieren
Mag. Alexander Remesch (Autor:in), 2008, Die soziale Logik des Rauchens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92604

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