Lukrez über "clinamen" und Willensfreiheit


Essay, 2020

8 Seiten, Note: --


Leseprobe


Lukrez über clinamen und Willensfreiheit

Martin Scheidegger

Einleitung

Im Folgenden soll das Verhältnis von clinamen und Willensfreiheit in Lukrez’ De rerum natura erörtert werden, wobei der Ansatz verfolgt wird, Lukrez’ Position im begrifflichen Rahmen der aktuellen Willensfreiheitsdebatte zu verorten. Das erfordert zunächst, dass das clinamen in die Reihe der Bewegungsursachen bei Lukrez eingeordnet wird und danach unter Zuhilfenahme bestimmter begrifflicher Unterscheidungen, die in der aktuellen Literatur zur Willensfreiheit eingesetzt werden - positive und negative Freiheit, Willens- und Handlungsfreiheit, Determinismus und Indeterminismus, Kompatibilismus und Inkompatibilismus -, Lukrez’ Position klarer herauszuarbeiten und von anderen theoretischen Optionen abzugrenzen. Des Weiteren wird die Relevanz der Möglichkeit und Wirklichkeit von Willensfreiheit für die epikureische Ethik beleuchtet. Denn die naturphilosophisch-metaphysischen Überlegungen sollen als Grundlage für Lukrez’ Ziele in der praktischen Philosophie erwiesen werden, nämlich die Selbstbeherrschung und Ermächtigung des Geistes im Verhältnis zur Welt und was daraus für unser gesellschaftliches Handeln folgt. Jedoch ist zu fragen, wie kompatibel in diesem Fall die theoretische und die praktische Philosophie der Epikureer miteinander sind und von welcher Perspektive aus Lukrez bzw. Epikur (primär) denken, d.h., ob es einen Primat der Physik oder einen der Ethik gibt.

Die Ursachen der Bewegung

Lukrez schildert seine Theorie der Willensfreiheit im Rahmen eines umfassenderen Kapitels zur Kinetik in Buch II, das in der Übersetzung von Klaus Binder mit „Bewegung der Urelemente“ betitelt ist (DRN 2.62-2.332). Die Bewegung der Urelemente ist der Grund für das Entstehen, die Vielfalt und das Vergehen der aus ihnen zusammengesetzten Dinge (vgl. DRN 2.62-2.63). So erklärt Lukrez Wachstum und Altern entsprechend dadurch, dass Urelemente zu Körpern hinzukommen bzw. sich von diesen lösen, was jeweils Bewegungsvorgänge voraussetzt (vgl. DRN 2.69-2.74). Ohne die Bewegung der Urelemente gibt es auch keine Bewegung der aus ihnen zusammengesetzten Körper. (Das hat Lukrez zu Recht gegen Demokrit eingewandt, da es zumindest in einem globalen Bezugssystem gesehen falsch wäre, die Urelemente als unbewegte Teile bewegter Körper anzusehen.) Ein Grund für die Bewegung der Urelemente kann ihre Schwere sein (vgl. DRN 2.84), als innere Kraft, durch die sich die Urelemente von selbst bewegen, wovon für Lukrez wohl kein Urelement ausgeschlossen ist. Die Bewegung geht dabei in gerader Linie „nach unten“, wobei fragwürdig ist, welchen Sinn die Richtungen „oben“ und „unten“ in einem unendlichen Universum haben sollen. Hier geht Lukrez wohl eher von der sinnlichen Wahrnehmung des Erdenbewohners aus. Ein weiterer Grund der Bewegung kann der (zufällig erfolgende) Stoß (vgl. 2.85) durch ein anderes Teilchen sein, was also eine äußere Kraft darstellt, sofern ein Teilchen nicht durch sich selbst, sondern durch ein anderes bewegt wird.

Die Bewegung der Urelemente ist Lukrez zufolge unaufhörlich und das wird durch das clinamen gewährleistet, denn selbst, wenn der Schwere eines Teilchens permanent entgegengewirkt und ein Stoß ausbleiben würde, gibt es immer noch die zufällige, spontane Abweichung. Die grundsätzliche Bewegtheit aller Teilchen bleibt erhalten, nur ihre Bewegungsrichtung ändert sich (daher mag es mitunter problematisch sein, das clinamen wie Schwere und Stoß als ,Bewegungsursache‘ zu klassifizieren). Eine Bedingung für diese unendliche Bewegung der Urelemente ist die räumliche Unendlichkeit des Universums und damit auch die Unendlichkeit der Leere (als materiefreiem Raum zwischen den Teilchen), die die Bewegung mit ihrer Widerstandslosigkeit möglich macht. Zudem ist wichtig, dass es im Universum keinen tiefsten Punkt (oder tiefere Regionen) gibt (2.91-2.92), wie Lukrez schreibt, also kein unabhängig von den Körpern bestehendes Gefälle, das bestimmte Regionen im Universum als höher oder tiefer auszeichnen würde (damit ist nicht „oben“ und „unten“ gemeint), aufgrund dessen die Urelemente sich wegen ihrer Schwere sammeln könnten (bzw. müssten) und so ihre Bewegung einstellen würden.

Je nach Gestalt der Urelemente (welche wiederum von den minima abhängig ist (vgl. DRN 1.599-1.634), aus denen die unzerstörbaren Atome zusammengesetzt sind) prallen, Lukrez zufolge, die Urelemente im Falle eines Stoßes unterschiedlich stark (und damit unterschiedlich weit) voneinander ab (man kann aber annehmen, dass Lukrez auch davon ausging, dass nicht nur die Gestalt, sondern auch die Geschwindigkeit bzw. Beschleunigung der zusammenprallenden Elemente für die Stoßeffekte von Relevanz sind). Die Verbindung, unterschiedliche Dichte und Festigkeit der aus Urelementen zusammengesetzten Stoffe und Körper (z.B. Eisen, Felsen, Luft) erklärt sich aus den Differenzen dieser von den Urelementtypen abhängigen Abpralldistanzen (vgl. DRN 2.100-2.104). Damit Teilchen eine Verbindung eingehen können, müssen sie, wie Lukrez behauptet, eine ähnliche Bewegungsform (Geschwindigkeit, Stoßverhalten) aufweisen. Andernfalls fliegen sie frei umher (vgl. 2.109-2.111). Die Bewegung eines Körpers kann umso schneller sein,je weniger dicht das Medium ist, durch das er sich bewegt (der Idealfall wäre der leere Raum), da Stöße mit anderen Teilchen einen Körper bremsen oder seine Bewegungsrichtung verändern können. Zur Bewegung durch Schwere und Stoß kommt noch die zufällige Abweichung der Teilchen von ihrer Bahn, genannt clinamen (vgl. DRN 2.216-2.293). (Hier könnte man sich fragen, ob diese Abweichung als Änderung der Bewegungsrichtung schon das Vorhandensein der Schwere als Bewegungsursache voraussetzt bzw. davon unabhängig ist.) Die Zufälligkeit der Abweichung bezieht sich sowohl auf deren räumlichen als auch deren zeitlichen Aspekt. Lukrez beschreibt diese Abweichung aber als minimal. In der Unendlichkeit des Universums reicht eine minimale Abweichung von einer geraden Bahn aus, um so verschiedene Partikel aufeinandertreffen zu lassen, die dann durch Stöße weitere Bewegungen nach sich ziehen und zur Formung komplexerer Körper führen. (Man könnte also sagen, dass es eine Kette von Bedingungsverhältnissen zwischen den drei Bewegungsursachen gibt: Schwere bedingt clinamen, welches Stöße bedingt.) Andernfalls würden die Urelemente einzeln und ohne Interaktion bloß ewig gerade „nach unten“ fallen (vgl. DRN 2.221-2.222). Daher schreibt Binder in seinem Kommentar auch zu Recht: Der Zufall des clinamen „sprengt die Einheit der Natur nicht, er ermöglicht diese erst“ (274n215). An dieser Stelle scheint Lukrez eher vom Ende her zu Denken und das clinamen als notwendige Bedingung der Möglichkeit komplexer Körper vorauszusetzen (das gleicht der Struktur nach einem transzendentalen Argument auf naturphilosophischem Gebiet). Wird denn überhaupt eine davon unabhängige Herleitung des clinamen gegeben? Das clinamen erscheint als unerklärter Erklärer etwas willkürlich, mysteriös oder vielleicht sogar unnötig (auch wenn Erklärungen irgendwo an ein Ende kommen müssen, sollen sie nicht zirkulär und unendlich sein), da man die Stöße der Partikel auch anders erklären könnte, indem man z.B. die Annahme verwirft, dass sich alle Teilchen durch ihre Schwere in dieselbe Richtung bewegen würden (z.B. auch, weil sich ihre Massen gegenseitig anziehen). Ich denke, dass die Sinne Lukrez in diesem Fall nicht zu einer guten Analogie oder Verallgemeinerung verleitet haben. Aber das lässt sich in der Rückschau vor dem Hintergrund des heutigen physikalischen Wissens leicht sagen.

So wie Lukrez die Zufälligkeit des clinamen beschreibt, scheint mir deutlich zu sein, dass er sie als ontologische und nicht bloß epistemische versteht, es also nicht so ist, dass uns endlichen Erkenntnissubjekten gewisse Bewegungen lediglich als zufällig erscheinen, sondern dass es tatsächliche subjektunabhängige Zufälligkeiten in der Welt gibt.

Lukrez’ weitere, negative Begründung des clinamen ist meines Erachtens sehr problematisch. Er sieht es nämlich als methodologisch gerechtfertigt an, aus der Abwesenheit gegenläufiger Evidenz auf die Existenz des clinamen zu schließen: „Dass ein Ding jedoch nie von seiner geraden Bahn um Weniges abweichen könne, wer hätte dasje beobachtet?“ (DRN 2.249-2.250) Absurd ist hier (in dieser Übersetzung) die Konstruktion „nie ... könne .. .je“, da „nie“ja eine Ewigkeit bedeuten würde, die endliche Subjekte prinzipiell nicht erfahren können. Das „könne“ spricht zudem eine Potenzialität an, die als nicht aktualisierte auch nicht wahrnehmbar ist. Das „je“ suggeriert zeitlich begrenzte Wahrnehmungsakte, was grundsätzlich nicht mit einer unendlichen Zeitspanne zusammenpasst. Außerdem könnte und müsste man wohl noch viele weitere Dinge als existent annehmen, wenn man strikt Lukrez’ Methode folgen würde. Darin zeigt sich auch, dass die Abwesenheit von Evidenz mit Unterbestimmtheit einhergeht. Da die prinzipielle Falsifizierbarkeit von Theorien ein häufig angeführtes Kriterium für deren Wissenschaftlichkeit ist (wie es u.a. Karl Popper behauptet), wäre im Falle der Nichtwahrnehmbarkeit des clinamen Lukrez’ Hypothese methodologisch als fragwürdig einzustufen. Andererseits spricht Lukrez davon, dass das clinamen nur ein „fast Unmerkliches“ (DRN 2.244) sei, was man so deuten könnte, dass es, entsprechende Instrumente vorausgesetzt, doch möglich wäre, es wahrzunehmen.

Die Willensfreiheit

Wenn man alle Vorgänge in der Welt als determiniert ansehen würde, würde es wohl nicht viel bringen, eine Ethik aufzustellen, die den Menschen sagt, was sie wollen und tun sollten, da dafür eine Wahl und Autonomie vorausgesetzt wird, die Willens- und eventuell auch Handlungsfreiheit erfordert. Andernfalls müsste man den Entwurf der Ethik und auch Lukrez’ gesamtes Werk selbst als Produkt determinierter Kausalketten begreifen, Strafe wäre ohne die Verantwortung, die Willens- und Handlungsfreiheit implizieren, auch nicht sinnvolljedoch im Falle der Wahrheit des Determinismus nicht vermeidbar.

Die Richtung der Begründung, die Lukrez in Buch II vorbringt, ist aber nicht der Schluss vom clinamen auf die Willensfreiheit, sondern für ihn ist zunächst primär die weitere Stützung der clinamen-ThQSQ zentral, weshalb er vielmehr vom höherstufigen Phänomen anscheinend freier Handlungen zurückschließt auf die notwendige Existenz des clinamen. Er war also noch nicht fertig mit seinem Beweisgang, was das so gerichtete argumentative Vorgehen erklärt. Genauer gesagt geht dem eine reductio ad absurdum voran, ein in De rerum natura beliebtes Mittel, mithilfe dessen Lukrez seine philosophischen Gegner diskreditiert, indem er ihre Position einnimmt - hier den Determinismus -, um sie kurz darauf durch Verweis auf simple Alltagserfahrungen zu widerlegen - hier das Gefühl oder gar stärker das für Lukrez offenkundige Faktum der Freiheit des Willens. Lukrez arbeitet damit, dass den Menschen angesichts ihrer Lebensrealität für gewöhnlich die Freiheit ihres Willens plausibler erscheint als die Existenz eines clinamen, weshalb er auch Letzteres durch Erstere rechtfertigt.

Andersherum will Lukrez aber auch zeigen, wie Binder zu Recht anmerkt, dass wir „moralisch handeln [können], weil es der Natur nach möglich ist“ (276n255). Denn darum geht es Lukrez wie zuvor Epikur: zu zeigen, was in der Natur wirklich und möglich ist und welche normativen Vorgaben für unser Denken und Handeln dem am besten entsprechen. Wie Lukrez unablässig betont, sind Aberglaube bzw. Religion und die Überzeugungssysteme sowie Praktiken, die sie konstituieren, mit einer richtigen Auffassung der Natur unvereinbar. Falsche Götterbilder und vermeintliches (durch sie bestimmtes) Schicksal (als Form von Determinismus) fallen darunter. Mit dem clinamen wird das Gesetz des Schicksals, aber nicht das der Natur gebrochen. Binder schreibt: „Epikurs und Lukrez’ Ziel war die Widerlegung des demokritischen Determinismus und dessen Wiederkehr in der Stoa“ (274n219). „Sie wollten nur, dass die Menschen ihr Leben nach dem einrichten, was in der Natur wirklich und möglich ist. Und sie wollten wissen, ob und wie das wiederum möglich ist.“ (275n219) Naturerkenntnis ist dabei für Lukrez immer auch Selbsterkenntnis und umgekehrt.

Der Wille ist bei Lukrez leiblich lokal situiert (in der Brust als Sitz des Geistes) und physisch aktiv. Er ist der Ursprung jeder freien Handlung und gibt den Anstoß für die Bewegung der Körperteile (vgl. DRN 2.266-2.271). Die Ausübung des freien Willens ist mit Lust verknüpft und somit mit dem Ziel der epikureischen Philosophie. Denn nur durch einen freien Willen vermag es der Mensch seine Lust (Abwesenheit von Schmerzen und anderen negativen Wirkungen auf die Seele) zu optimieren. Ohne die Voraussetzung dieser Fähigkeit wäre die epikureische Moral sinnlos.

Um Lukrez’ Beitrag systematisch in der Willensfreiheitsdebatte verorten zu können, ist es ratsam, zunächst einige Grundbegrifflichkeiten zu klären, die man dann für die Bewertung seines Ansatzes heranziehen kann. Eine erste grobe Einteilung von Freiheiten, die zur Orientierung hilfreich sein mag, ist die, der zufolge man frei zu etwas (z.B. zu reisen) und frei von etwas (z.B. Strafen) sein kann. Entsprechend wird dies allgemein positive bzw. negative Freiheit bezeichnet (vgl. Keil 2017, 1). Spezifischere Freiheitsarten buchstabieren dies unterschiedlich aus. So beabsichtigt Lukrez, dass wir frei vow Todes- und Götterfurcht werden und setzt für den Weg dorthin voraus, dass wir frei sind, zu denken, unseren Willen zu bilden und zu handeln. Für die Frage nach der Willens- und Handlungsfreiheit ist aber nicht nur eine positive Beschreibung der Freiheit relevant, sondern auch die negative der Abwesenheit des inneren und äußeren Zwangs, wie wir bei Lukrez sehen (vgl. DRN 2.272-2.276). Unter Handlungsfreiheit ist dabei die Freiheit zu verstehen, „das zu tun oder zu lassen, was man will“ (Keil 2017, 1). Dieses Konzept kann man auch so deuten, dass für Handlungsfreiheit keine Willensfreiheit nötig ist, also die Freiheit „seinen Willen zu bilden, frei zu wählen oder frei zu entscheiden“ (Keil 2017, 2), sondern nur die Abwesenheit von Zwängen, die die Manifestation des Willens in Handlungen verhindern würden. Wie man sieht, ist der Wille aber den Handlungen (die ferner begrifflich oftmals von bloßem Verhalten unterschieden werden) vorgeordnet, weshalb das Problem der Willensfreiheit als fundamental für die Freiheit von Personen anzusehen ist und daher auch im Mittelpunkt dieser Untersuchung zu Lukrez steht. (Lukrez hat diesen Punkt selbst eingesehen.)

Äußerer Zwang tangiert primär die Handlungsfreiheit, nicht die Willensfreiheit: „Willensfreiheit [ist] mit einem großen Maß an politischer Unfreiheit und äußeren Zwängen verträglich“ (Keil 2017, 4). Das könnte auch eine Lehre sein, die man aus dem abschließenden Pest-Kapitel von De rerum natura ziehen könnte. Schließlich ist die kontemplative Einstellung, die durch die epikureische Naturerkenntnis eingeübt wird, eine, die auch die Freiheit des Willens stärken soll. Denn die internalisierten Zwänge (z.B. durch Religion und sozialen Druck verursacht) sind es, die uns hindern, unseren Willen frei und angemessen zu bilden. Darin liegt die Wurzel allen Übels, die Lukrez anpackt.

Zwar stellen innere Zwänge eine Gefahr für die Willensfreiheit dar, aber Lukrez behandelt diese nicht explizit im Kapitel über die Bewegung der Urelemente. Vielmehr geht es ihm um die zweite große Gefahr für die Willensfreiheit, die eine metaphysische und nicht eine psychologische ist: Es ist der Determinismus, der alternative Willensbildungsprozesse ausschließt, da diesem zufolge alles vonjeher unabänderlich vorherbestimmt ist. Die Position, der zufolge Determinismus und Willensfreiheit unvereinbar (also inkompatibel) sind, nennt sich Inkompatibilismus. Die Gegenposition wäre entsprechend der Kompatibilismus, der erstaunlich stark in der heutigen akademischen Philosophie vertreten ist, obwohl er den meisten Laien kontraintuitiv erscheint. Lukrez’ Ansatz ist dem Inkompatibilismus zuzuordnen, und ich denke, dass die Einführung des clinamen gerade dem Zweck dient, zu einer solchen inkompatibilistischen Position zu gelangen, da er die Willensfreiheit als empirisches Faktum als gesetzt ansieht und es ihm klar zu sein scheint, dass dies nicht mit dem Determinismus zu vereinbaren ist. Daher kommt die Invention und Intervention des clinamen ins Spiel, um einerseits durch die Bewegungsursachen Schwere und Stoß die Regelmäßigkeit in der Natur zu erfassen und andererseits einen kleinen Spielraum für das freie Verhalten der Subjekte gegenüber der Welt und ihren eigenen inneren Zuständen zu gewähren. Eine kompatibilistische Position (in der Philosophiegeschichte u.a. vertreten von Hobbes und Locke), die den Determinismus implizieren würde, kommt für Lukrez daher nicht infrage (und auch erst recht nicht die Variante des Inkompatibilismus, die die Willensfreiheit ausschließt und allein den Determinismus für wahr hält). Isoliert von der Frage nach (und Voraussetzung) der Willensfreiheit wird bei Lukrez nicht gegen den Determinismus argumentiert. Das schwächt seine Position etwas, aber man könnte dieses Ausbleiben einer gründlicheren Auseinandersetzung auf die zu seiner Zeit fehlenden naturwissenschaftlichen Kenntnisse zurückführen, die heutzutage eine genauere Aufklärung über die Problematik der (eingeschränkten) Gültigkeit von ,Naturgesetzen‘ erlaubt (vgl. Cartwright 1983); denn eine Metaphysik, die der Physik widerspricht, ist schwer zu rechtfertigen (andersherum kann man von der Physik aber keine Verifikation der Metaphysik erwarten (zum Problem der empirischen Unterbestimmtheit vgl. Keil 2017, 10)). In der neueren Willensfreiheitsdebatte gibt es auch eine Position, die gegenüber der Frage nach der Wahrheit des Determinismus indifferent ist (z.B. begründet durch epistemische Grenzen, die die Klärung der Frage unmöglich machen), für die Verantwortlichkeit aber auch unabhängig davon gegeben ist. Dieser Ansatz kann als agnostischer Kompatibilismus bezeichnet werden (vgl. Keil 2017, 8). Lukrez will in diesem Fall diese Offenheit oder Unklarheit aber unter keinen Umständen so stehen lassen (in anderen, weniger fundamentalen Bereichen wie etwa der Astronomie erlaubt er es hingegen), auch wenn die Abweichung durch das clinamen empirisch nicht erfassbar sein sollte; der zu zahlende Preis wäre für ihn zu groß. Die Falschheit des Determinismus muss für Lukrez erwiesen werden, denn dies ist die Basis für die freie Bildung der Weitsicht (bzw. gewünschte Umbildung nach epikureischem Vorbild) und das daran ausgerichtete Handeln, die durch die Lektüre von De rerum natura befördert werden sollen. Ein umfassenderer Agnostizismus, der sowohl die Frage nach der Wahrheit des Determinismus als auch nach der der Willensfreiheit einschlösse, ist dementsprechend für den Epikureer auch aus dem Spiel.

Was bleibt, ist eine Form von indeterministischem Inkompatibilismus, den man Lukrez’ Ansatz zuschreiben könnte. Jedoch führt die Charakteristik des clinamen dazu, dass hier weiter differenziert werden muss. Denn die Zufälligkeit., die für Lukrez die Willensfreiheit ermöglicht, ist ein Spezifikum, das diese Form von indeterministischem Inkompatibilismus von der viel geläufigeren des sogenannten Libertarismus (den in Deutschland heutzutage u.a. Geert Keil vertritt) abhebt, welcher wohl eher unserer vorphilosophischen Alltagsauffassung von Freiheit entspricht. Einerseits versucht Lukrez mit seiner Verteidigung der Willensfreiheit einem immanenten Denken entlang dieser Alltagserfahrung Rechnung zu tragen, aber andererseits macht er den Zufall durch dessen für die Willensfreiheit konstitutive Rolle zu stark, wodurch er wiederum vom Common Sense abrückt, der gerade nicht den unbeherrschbaren Zufall, sondern die bewusste Kontrolle als Kernelement der Willensfreiheit betont (was nicht heißen soll, dass sich gewisse Zufälligkeiten und Willensfreiheit generell ausschließen würden). Ich würde Lukrez’ Position abschließend und um es auf den Punkt zu bringen daher als aleatorisch­indeterministischen Inkompatibilismus bezeichnen.

Fazit

Wie wir gesehen haben, ist Lukrez’ Begründung des freien Willens durch das clinamen (bzw. umgekehrt) in De rerum natura 2.251-2.293 wichtig (wenn auch kurz), aber auch sehr problematisch. Zwar scheint es mir auch aus heutiger Sicht plausibel, wie Lukrez einen inkompatibilistischen und indeterministischen Ansatz in der Willensfreiheitsdebatte zu vertreten, aber seine Begründung der Willensfreiheit durch den Zufall (in Form von nicht weiter erklärbaren Bewegungsänderungen) scheint mir grundlegend verfehlt zu sein, da dieser ebenso wie die notwendig vorherbestimmten Kausalketten des Determinismus keine Freiheit im Sinne autonomer Kontrolle ermöglicht. Zwar beschreibt Lukrez die Phänomenologie der Willensfreiheit sehr anschaulich, das Ankämpfen gegen Impulse und die Fähigkeit des So-oder­anders-Könnens (vgl. Keil 2017, 9), aber all das erscheint vor dem Hintergrund der atomistischen Lehre mit den drei Bewegungsursachen Schwere, Stoß und clinamen als eine Illusion, ein bloßes Freiheitsge/wAZ und eben das reicht für wahre Freiheit und Verantwortlichkeit meiner Ansicht nach nicht aus. Letztlich zeigt sich darin eine Inkohärenz im Verhältnis von epikureischer Physik und Ethik, die jeweils für sich genommen fruchtbar, aber im Grunde genommen nicht miteinander vereinbar sind. Zwar könnte man sagen, dass es bei Lukrez einen Primat der Ethik gibt, insofern für ihn die epikureische Physik Mittel zum Zweck der rechten Lebensführung ist, aber andererseits gewinnt die Physik in De rerum natura eine solche Eigenständigkeit, dass man innerhalb dieses Werks eher von Perspektivenwechseln sprechen müsste. Das clinamen sollte Lukrez als das die Willensfreiheit begründende Brückenelement zwischen Physik und Ethik dienen, was jedoch bereits seinen Zeitgenossen problematisch erschien, und aus heutiger Sicht - mit erweiterten begrifflichen und argumentativen Mitteln - wird noch klarer, warum und inwiefern diese Kritik berechtigt ist.

Literaturverzeichnis

Cartwright, Nancy: How the Laws ofPhysicsLie. Oxford: Oxford University Press, 1983. Keil, Geert: Willensfreiheit. 3. Auflage. Berlin: De Gruyter, 2017.

Lukrez: Über die Natur der Dinge, übersetzt von Klaus Binder. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 2017.

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Ende der Leseprobe aus 8 Seiten

Details

Titel
Lukrez über "clinamen" und Willensfreiheit
Note
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Autor
Jahr
2020
Seiten
8
Katalognummer
V924845
ISBN (eBook)
9783346251220
Sprache
Deutsch
Schlagworte
lukrez, neigungen, willensfreiheit
Arbeit zitieren
Martin Scheidegger (Autor:in), 2020, Lukrez über "clinamen" und Willensfreiheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/924845

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