ADHS und soziales Umfeld - Eine Exploration


Diplomarbeit, 2007

126 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
2.1 Definition und Geschichte
2.2 Diagnostische Kriterien
2.2.1 Differentialdiagnose
2.2.2 Klassifikation nach ICD-10
2.2.3 Klassifikation nach DSM-IV
2.2.4 Diagnostische Leitlinien
2.2.5 Komorbidität
2.3 Beschreibung des Störungsbilds
2.3.1 Prävalenz
2.3.2 Verlauf
2.4 Ätiologie
2.4.1 Genetische Faktoren
2.4.2 Neurologische Faktoren
2.4.2.1 Kritik am genetisch-neurologischen Modell
2.4.3 Umweltfaktoren
2.4.3.1 Psychosoziale Faktoren
2.4.3.2 Kritik an den psychosozialen Modellen
2.4.4 Zusammenfassung
2.5 Interventionen
2.5.1 Kindzentrierte Verfahren
2.5.1.1 Pharmakotherapie
2.5.1.2 Verhaltenstherapie
2.5.1.3 Entspannungsverfahren
2.5.2 Familien- und Schulzentrierte Verfahren
2.5.3 Multimodale Therapie
2.5.4 Zusammenfassung

3. Aufmerksamkeit
3.1 Definition
3.2 Aufmerksamkeitstheorien
3.2.1 Filtermodelle
3.2.2 Computeranalogien
3.2.3 Kritik an der traditionellen Modellen
3.2.4 Neuropsychologische Modelle
3.3 Aufmerksamkeitstheorien bei Kindern
3.4 Aufmerksamkeitsdiagnostik
3.4.1 Klassische Tests
3.4.2 Der TEA-Ch

4. Erziehungsstile
4.1 Definition
4.2 Stand der Forschung
4.3 Methoden zur Erfassung von Erziehungsstilen
4.3.1 Das FDTS

5. ADHS und Erziehungsverhalten
5.1 Vorliegende Befunde
5.2 Ein Arbeitsmodell

6. Fragestellung und Operationalisierung
6.1 Operationalisierung
6.2 Verwendete Instrumente

7. Hypothesen

8. Untersuchungsablauf

9. Stichprobenbeschreibung

10. Ergebnisse der Studie
10.1 Deskriptive Auswertung
10.2 Auswertung der Hypothesen

11. Diskussion
11.1 Allgemeine Diskussion
11.2 Hypothesenbezogene Diskussion
11.3 Zusammenfassende Diskussion und Ausblick

12. Zusammenfassung

13. Abbildungsverzeichnis

14. Tabellenverzeichnis

15. Literaturverzeichnis

16. Anhang

1. Einleitung

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist zusammen mit aggressiven Verhaltensstörungen die häufigste psychische Störung im Kindes- und Jugendalter. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat diese Störung viel öffentliches (und Forschungs-) Interesse erfahren. Im Zentrum dieses Interesses standen Fragen wie z.B. diejenige nach der Verursachung der Störung oder nach den Möglichkeiten der verschiedenen Therapieformen.

Der Theorieteil der vorliegenden Arbeit stellt die bisherigen Ergebnisse der Forschung zu diesem Thema vor. Das besondere Augenmerk liegt dabei auf Faktoren des sozialen Umfelds. Welche Rolle spielt dieses Umfeld bei der Verursachung und Aufrechterhaltung der hyperkinetischen Störung? Dieser Frage soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden.

Der empirische Teil der Studie untersucht ganz konkret den Zusammenhang zwischen elterlichem Erziehungsverhalten und Aufmerksamkeitsdefiziten bei Kindern. Die dabei verwendeten Begrifflichkeiten und Messinstrumente werden in den vorher-gehenden Kapiteln vorgestellt werden.

Um den Übergang vom theoretischen zum empirischen Teil zu erleichtern, ist ein Kapitel eingefügt, welches die bisherigen Erkenntnnisse zu ADHS und sozialem Umfeld nochmals zusammen-fasst und ein Modell vorstellt, in dessen Rahmen die zu erwartenden empirischen Ergebnisse eingeordnet werden können. Da die zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorliegenden Ergebnisse zu einer umfassenden Modellbildung nicht ausreichen, ist der vorgestellte Ansatz eher als Arbeitsmodell aufzufassen.

Anschließend werden die Ergebnisse der Studie vorgestellt und diskutiert.

Im weiteren Text wird der Begriff Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gebraucht. In der Literatur sind verschiedene Begriffe im Umlauf, der Verfasser folgt mit seiner Entscheidung der Vorgabe von Barkley (1998). Die historische Entstehung des Begriffs „ADHS“ wird in Kapitel 2 hergeleitet.

2. Die Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitäts-störung (ADHS)

Im nachfolgenden Abschnitt wird das Störungsbild ADHS genauer beschrieben. Dies beinhaltet eine kurze Übersicht über die Geschichte der Störung, ihrer diagnostischen Erfassung und bisherige Ansätze und Erklärungsmodelle. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die verschiedenen theoretischen Positionen zur Erklärung der Störung gelegt. Anschließend werden die verschiedenen Interventionsmöglich-keiten dargestellt.

2.1 Definition und Geschichte

Die Kernsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-störung heißen Ablenkbarkeit, Impulsivität und motorische Überaktivität. Es handelt sich um eine Störung mit unterkontrolliertem Verhalten (Davison & Neale, 1998); sie wird, neben aggressiven und dissozialen Verhaltensauffälligkeiten, zu den externalisierenden Verhaltensstörungen gezählt (Döpfner, 1998).

Bereits 1845 beschrieb der Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffmann die Figur des „Zappelphillip“ in einem bekannten Kinderbuch, die typische ADHS-Symptome wie Unruhe und Zappeligkeit aufweist.

Erstmalig in einer wissenschaftlichen Publikation erwähnt wird die Symptomatik von George Still im Jahre 1902. Er beschreibt dort aufsässige Kinder (größtenteils Jungen) mit einem „Defekt der moralischen Kontrolle“. Er beschreibt Symptome, die den heutigen Diagnosekriterien schon sehr ähnlich sind. Dazu zählen erhöhte Emotionalität, mangelnde Aufmerksamkeit und Überaktivität. Er nimmt neurologische Ursachen an und vermutet einen vererbten Anteil (Barkley, 1998).

In den 1920ern trat in Nordamerika eine Encephalitis Epidemie auf. Bei Kindern, die diese entzündliche Gehirnerkrankung überlebt hatten, traten Symptome auf, die man heute als ADHS-Symptome beschreiben würde. In den 30er und 40er Jahren konzentrierte sich daher die Forschung im Zusammenhang mit Verhaltensauffällig-keiten bei Kindern auf Verletzungen am Gehirn. In dieser Zeit wurde der Begriff „Minimal brain dysfunction“ (MBD) geprägt (Barkley, 1998).

Ende der 30er Jahre werden erstmals erfolgreich Stimulantien zur Behandlung verhaltensauffälliger Kinder eingesetzt (Bradley, 1937, zit. nach Trott, 1993).

Etwa zur selben Zeit entstanden in den Vereinigten Staaten sogenannte „child guidance centers“, die sich als Dienstleistungs-zentren im Bereich Jugend- und Familienhilfe verstanden. Diese Zentren arbeiteten psychoanalytisch, interpretierten die Auffällig-keiten dieser Kinder als Ausdruck unbewußter unbewältigter Konflikte der Eltern und vermutete die Ursachen in der frühen Mutter-Kind Beziehung (Hinshaw, 1994). Sie behandelten mit Spiel- und Familientherapie. Hinshaw bemerkt dazu: „Es ist in vielerlei Hinsicht kaum möglich, sich zwei unterschiedlichere theoretische Modelle auszudenken, als das organische versus das psycho-dynamische um die zugrundeliegenden Mechanismen des Aufmerk-samkeitsdefizits und der Hyperaktivität zu erklären.“ (Hinshaw 1994, S.10, Übersetzung durch den Verfasser).

In den 50er und 60er Jahren tauchte der Begriff „Hyperkinetische Störung“ auf. Laufer (1957, zit. nach Barkley, 1998) vermutete die Ursache in einem Defizit des Zentralnervensystems. Seiner Theorie zufolge filtern die thalamitischen Gehirnregionen zu wenig Sti-mulation heraus, so daß das Gehirn von Eindrücken überschwemmt wird. Betroffenen Kindern wurden spezielle, reiz- und ablenkungs-arme Klassenzimmer zur Verfügung gestellt.

Das Konzept des MBD (minimal brain dysfunction) wurde in den 60er Jahren zunehmend kritisiert. Beklagt wurden die mangelnde Validität und die undurchschaubare Anzahl der Symptome, die unter diesem Begriff subsumiert wurden.

Chess (1960, zit. nach Barkley, 1998) prägte den Begriff des „hyperactive child syndrome“ und betonte die Bedeutung beobacht-barer und beschreibbarer Merkmale bei der Diagnostik der Störung. 1968 führte das DSM-II (APA, 1968) den Begriff „Hyperkinetische Reaktion der Kindheit“ ein.

In den 70er Jahren wurde der Fokus auf zerebrale Mechanismen als Ursache von ADHS gelegt. Gleichzeitig kamen Theorien auf, die die Ursachen eher in Umwelteinflüssen vermuten (z.B. Feingold, 1975; Bettelheim, 1973).

Block (1977) beklagte die zunehmende Beschleunigung westlicher Gesellschaften und macht diese für das vermehrte Aufreten von ADHS verantwortlich. Empirische Belege blieben aus.

Douglas (1980, zit.n. Barkley, 1998)) rückte die Aufmerksamkeits-problematik stärker in den Blickpunkt. Das DSM-III (APA, 1980) führt die Störung erstmals unter der Bezeichnung „attention deficit disorder“ (ADD) und unterscheidet ADHS mit und ohne Hyperaktivität. Diese Unterscheidung wird im DSM-III-R (APA, 1987) wieder aufgehoben, allerdings im DSM-IV (APA, 1994) wieder eingeführt (siehe Kap. 2.2).

1990 gelingt Zametkin der Nachweis eines reduzierten Hirnstoff-wechsels bei Erwachsenen mit ADHS (vgl. Davison & Neale, 1998). Besonders die frontalen Regionen des Kortex scheinen davon betroffen zu sein.

Der aktuelle Stand der Forschung wird in Kap. 2.4 dargestellt.

2.2 Diagnostische Kriterien nach ICD-10 und DSM-IV

In Deutschland ist sowohl die Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 (WHO, 1992) als auch das Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen (DSM-IV, APA, 1994) gebräuchlich. Da sie sich in einigen Details unterscheiden, werden sie beide vorgestellt.

2.2.1 Differentialdiagnose

Um eine ADHS-Diagnose nach ICD-10 oder DSM-IV zu stellen, muß zuerst ausgeschlossen werden, daß die Symptome nicht eine andere, plausiblere Ursache haben. Dazu zählen:

- tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84)
- Angststörungen (F41.x, F93.0)
- Affektive Störungen (manisch oder depressiv) (F30-39)

2.2.2 Klassifikation nach ICD-10

Im ICD-10 sind die Hyperkinetischen Störungen (F90) unter Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend (F9) klassifiziert. Es werden vier Arten der Hyperkinetischen Störungen unterschieden:

- einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)
- Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1)
- Sonstige hyperkinetische Störungen (F90.8)
- Nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störung (F90.9)

Die Kategorie F90.1 (ADHS mit Hyperaktivität und Störung des Sozialverhaltens) trägt der Tatsache Rechnung, daß hyperaktive Symptome oft zusammen mit dissozialen Verhaltensweisen auftreten (vgl. Davison & Neale, 1998). Sie wird diagnostiziert, wenn sowohl die Symptome einer ADHS als auch die einer Störung des Sozialverhaltens (F.91.x) auftreten.

2.2.3 Klassifikation nach DSM-IV

Das Diagnostische und Statistische Manual für psychische Störungen (DSM-IV, APA 1994) wurde in Amerika entwickelt und ist auch in Europa gebräuchlich. Die Klassifikationen und Schwerpunkte unterscheiden sich leicht von denen des ICD-10.

Als Kategorien werden genannt:

- Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung Mischtypus
- Vorwiegend unaufmerksamer Typus
- Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typus

Der Mischtypus entspricht Kategorie F90.0 des ICD-10. Zusätzlich wird zwischen vorwiegend unaufmerksam (ADS) und vorwiegend hyperaktiv (ADHS) unterschieden.

Der unaufmerksame Typus wird häufig als Tagträumer charakterisiert. Es wird vermutet, daß dieser Typus bei Mädchen häufiger auftritt als der vorwiegend hyperaktive Typus (vgl. Lensch, 2000).

2.2.4 Diagnostische Leitlinien

Um eine ADHS diagnostizieren zu können, müssen bestimmte klar definierte Richtlinien beachtet werden. Das DSM-IV gibt folgende vor:

- Die Störung muss schon sechs Monate bestehen.
- Die Störung muss sich bereits früh gezeigt haben (vor dem siebten Lebensjahr)
- Die Symptome müssen für Kinder dieses Alters ungewöhnlich sein
- Es muss klare Anzeichen für eine Funktionsbeeinträchtigung geben
- die Störung muss in mindestens zwei Settings auftreten (z.B. Schule und Zuhause)

Sowohl im ICD-10 als auch im DSM-IV gibt es zusätzlich Symptomlisten für Aufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, von denen jeweils eine bestimmte Anzahl Items zutreffen müssen, um eine Diagnose nach einer der genannten Kategorien stellen zu können.

2.2.5 Komorbidität

Kinder die eine ADHS Diagnose erhalten, zeigen in vielen Fällen noch weitere Verhaltensauffälligkeiten.

Die häufigste komorbide Störung ist die Störung des Sozialverhaltens (F91.x). Laut Schätzungen wird bei 30 – 90% aller ADHS-Kinder zusätzlich diese Störung diagnostiziert (Hinshaw, 1987, zit. nach Davison & Neale, 1998). Die Ähnlichkeit von ungehemmtem und dissozialem Verhalten könnte hier eine Rolle spielen.

Etwa ein Drittel aller ADHS-Kinder leiden unter Angststörungen (F93.x, F41.x).

Auch Schlafstörungen (F51.x) treten bei ca. 30% der Fälle auf.

Rund ein Viertel (ca. 25%) haben zusätzlich zu ADHS eine umschrie-bene Lernstörung wie etwa eine Lese/Rechtschreib- oder Rechen-störung (F81.x).

Weitere 10-15% leiden an Ticstörungen (F95.x) (Alle Angaben nach Phelan, 2000).

Überdurchschnittlich viele ADHS-Kinder leiden unter Allergien. Beinahe 50% haben eine Nahrungsmittelallergie (Döpfner, 1998).

Einige Studien fanden Hinweise auf einen verminderten Intelligenzquotienten bei ADHS Kindern. Die Größenordnung liegt bei 7 bis 15 Punkten. Ob diese Diskrepanz durch die verminderte Aufmerksamkeitsfähigkeit in der Testsituation verursacht wird, ist unklar (Döpfner, 1998).

2.3 Beschreibung des Störungsbilds

Die Kardinalsymptome von ADHS sind, wie bereits genannt, Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität und Impulsivität.

Viele Kinder zeigen noch weitere Symptome, die meist mit den genannten Eigenschaften zusammenhängen. Dazu gehört relative Ungeduld und die Unfähigkeit, etwas subjektiv wichtiges aufzuschieben. Häufig wird eine geringe Frustrationstoleranz beobachtet.

Viele ADHS-Kinder haben Schwierigkeiten im alltäglichen Umgang mit anderen. Besonders der Kontakt mit Gleichaltrigen („peer relations“) gestaltet sich oft schwierig, da subtile soziale Signale übersehen werden, sie die Absichten ihrer Mitschüler mißverstehen und generell aggressiv und ungestüm agieren (Davison & Neale, 1998). Der Umgang mit älteren oder jüngeren Kindern klappt oft besser.

Hyperkinetische Kinder haben Schwierigkeiten, ihr Sozialverhalten den situativen Anforderungen und Rollenerwartungen anzupassen. Sie tendieren dazu, dominante Rollen beizubehalten, obwohl eine Anpassung angebracht wäre (Hinshaw, 1994). Daher ist es nicht verwunderlich, daß sie von Gleichaltrigen oft abgelehnt und gemieden werden. Viele zeigen mangelndes Selbstvertrauen und emotionale Auffälligkeiten (Döpfner, 1998).

Zu diesen gehören emotionale Übererregtheit, besonders Begeisterung (Clownereien) und Ärger/ Wut. Allerdings ist auch die ängstliche Seite der Kinder oftmals stärker ausgeprägt.

Darüberhinaus zeigen sie häufig eine gewisse Unorganisiertheit, die sich z.B. im Umgang mit ihren Schulsachen äußert (Phelan, 2000). Viele Lehrer und Eltern berichten auch über ein schlechtes Schriftbild hyperkinetischer Kinder (Neuhaus, 1999).

2.3.1 Prävalenz

Die Schätzungen der Prävalenz reichen von 1-20%. Legt man strengere diagnostische Kriterien an, verringert sich dieser Anteil. Üblicherweise wird die Prävalenz mit 3-5% angegeben. (Phelan, 2000; Davison & Neale, 1998). Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen schwankt von 3:1 bis 9:1 (Döpfner, 1998). Man vermutet, daß Mädchen häufiger dem unaufmerksamen Typus angehören und deshalb leichter übersehen werden.

2.3.2 Verlauf

Erste Anzeichen für ADHS können nicht selten bereits im Säuglingsalter festgestellt werden. Indizien für eine ADHS sind beispielsweise Unruhe, erhöhte Reizbarkeit und geringes Schmusebedürfnis. Allerdings ist die Abgrenzung zu normalen Entwicklungsrückständen in diesem Alter sehr schwierig.

Im Vorschulalter fallen hyperkinetische Kinder durch motorische Unruhe und extreme Umtriebigkeit auf. Stürze und Unfälle sind häufig. Diese Symptome erweisen sich oft als sehr stabil bis ins Schulalter hinein.

Bei Schuleintritt erreichen die Schwierigkeiten oftmals ihren Höhepunkt. Die Hauptsymptome sind kurze Aufmerksamkeitsspanne, oppositionelles Verhalten in Familie und Schule sowie motorische Überaktivität. In diesem Alter treten häufig auch die Schwierigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen auf.

Etwa 30-70% aller diagnostizierten Kinder zeigen auch als Jugend-liche noch Verhaltensauffälligkeiten (Döpfner, 1998). Dazu gehören Aufmerksamkeitsprobleme, Impulsivität und unterdurchschnittliche Schulleistungen.

Diese Schwierigkeiten können sich bis ins Erwachsenenalter hinein fortsetzen. Erwachsene mit ADHS die bereits als Kinder diagnostiziert wurden zeigen oftmals eine ungünstige Entwicklung. Besonders die soziale Einbindung, das psychische Wohlbefinden und der Beschäftigungsstatus scheinen Problemfelder darzustellen.

Diese Entwicklung gilt glücklicherweise nicht für alle betroffenen Kinder. Längsschnittstudien konnten Risikofaktoren identifizieren, die den Verlauf ungünstig beeinflussen können. Zu diesen Risikofaktoren gehören eine vergleichsweise geringe Intelligenz, aggressives und oppositionelles Verhalten bereits als Kind, schlechte Beziehungen zu Gleichaltrigen, emotionale Instabilität sowie das Ausmaß der psychischen Störungen der Eltern (Döpfner, 1998).

Die Möglichkeiten zur Intervention werden in Kapitel 2.5 besprochen.

2.4 Ätiologie

Bislang konnte noch kein zentraler Faktor nachgewiesen werden, der für die Genese der Störung verantwortlich ist. Man geht zum gegenwärtigen Zeitpunkt von einem multifaktoriellen Geschehen aus (Döpfner, 1998). Eine wichtige Rolle spielen genetische und neurologische, sowie psychosoziale Merkmale. Diese Bereiche werden nachfolgend beschrieben und der Stand der Forschung dargestellt.

2.4.1. Genetische Faktoren:

Familienstudien zeigen, daß ADHS bei Familienangehörigen betroffener Kinder gehäuft auftritt. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Geschwister ebenfalls betroffen ist, beträgt 30%. Kinder von Eltern mit ADHS haben eine 50 %ige Wahrscheinlichkeit die Störung von ihren Eltern zu erben (Barkley,1998). Das verursachende Gen ist nicht bekannt, wahrscheinlich ist es eine komplexe genetische Störung, die ADHS-Symptome hervorbringt. (Phelan 2000).

Vergleiche der Chromosome beroffener Familien mit denen gesunder Familien zeigen, daß wahrscheinlich Gene involviert sind, die mit der Funktion des Neurotransmitters Dopamin zu tun haben (Phelan, 2000).

In Familien mit ADHS kommen überdurchschnittlich häufig Depressionen, Suchtverhalten und Störungen des Sozialverhaltens vor. (Barkley, 1998). Da ADHS und Störungen des Sozialverhaltens eine hohe Komorbiditätsrate haben, ist die Kausalität dieses Zusam-menhangs jedoch unklar.

Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen, daß genetische Faktoren bei der Genese von ADHS etwa 80% ausmachen (Barkley, 1998).

2.4.2. Neurologische Faktoren

Die Funktionsstörungen von hyperkinetischen Kindern lassen sich auch in der Gehirnstruktur nachweisen. Charakteristisch für ADHS ist die eingeschränkte Funktionsfähigkeit bestimmter Hirnareale.

Patienten mit frühen, z.B. perinatalen Gehirntraumata oder Läsionen im Frontallappen zeigen ähnliche Symptome wie ADHS Patienten (vgl. Barkley, 1998). Dies ist ein starker Hinweis darauf, daß der frontale Kortex in die ADHS-Problematik involviert ist.

Ein wichtige Rolle spielt dabei das „präfrontale Gehirn“, das mit Verhaltenskontrolle (vor allem Hemmung und Planung) in Verbindung gebracht wird. Der orbitofrontale Kortex wird assoziiert mit sozialer Intelligenz, Impulskontrolle und Aufmerksamkeit. Er spielt eine Rolle bei der räumlich-visuellen Planung und hilft, wichtige Reize von unwichtigen zu unterscheiden. (Maté, 1999).

PET Scans zeigen einen verminderten Blutzufluß zu den präfrontalen Regionen. Auch scheint das Frontalhirn bei ADHS-Patienten kleiner als normal zu sein (Phelan, 2000).

Weiterhin gibt es Hinweise auf eine Imbalance im Neurotrans-mitterhaushalt hyperkinetischer Kinder. So werden z.B. Abweich-ungen im Dopaminspiegel beobachtet. Die meisten wirksamen Medi-kamente setzen hier an und erhöhen die Konzentration des Neuro-transmitters Dopamin. (Phelan, 2000).

EEG-Ableitungen zeigen erhöhte Aktivität des ADHS-Gehirns im Bereich der langsamen Beta- und Thetawellen. (Barkley, 1998).

Insgesamt gibt es abnorme Abweichungen in der Entwicklung des frontal-striatalen Systems (Barkley, 1998). Da Gehirnentwicklung allgemein genetisch gesteuert ist, läßt sich dies als weiteren Hinweis auf die genetische Verursachung von ADHS deuten.

Zum frontal-striatalen System gehören der orbitofrontale Kortex, das Striatum, der Nucleus Caudatus und der Globus Pallidus (Teile der Basalganglien). Das frontal-striatale System ist befaßt mit dem Verarbeiten, Regulieren und Ausdrücken emotionaler Inhalte. Das Frontalhirn ermöglicht, diese Inhalte auf rationale, überlegte Weise zu verarbeiten. Ist diese Funktion gestört, ergeben sich impulsive, hoch emotionale Reaktionen wie sie bei ADHS zu beobachten sind (Maté, 1999).

2.4.2.1 Kritik am genetisch-biologischen Ansatz

Es gibt klare Anzeichen für den genetischen Beitrag zum Auftreten von ADHS. Trotzdem werden manche Teilaspekte von einigen Forschern diskutiert.

Maté (1999) argumentiert, daß die synaptischen Verschaltungsmöglichkeiten im menschlichen Gehirn viel zu zahlreich sind, um vollständig genetisch determiniert zu sein. Genetische Faktoren allein können die komplexen psychologischen und neurologischen Probleme von ADHS-Kinder nicht hinreichend erklären. Schließlich findet ein Großteil des Gehirnwachstums außerhalb des Mutterleibs statt.

In den frühen Jahren wird das Gehirn des Kleinkindes demnach entscheidend von der Umwelt mitgeprägt (vgl. Hüther, 2006).

2.4.3 Umweltfaktoren

In den 70er Jahren entstanden Theorien, die Umweltfaktoren als in Frage kommende Ursachen von ADHS untersuchten. Dabei kann man unterscheiden zwischen Ansätzen, die die Ursache in externen Faktoren wie Umweltgiften (z.B. Blei) oder Nahrungsmittelzusätzen (beschrieben von Feingold, 1975) suchten und Ansätzen, die die Ursache innerhalb der Familie und der sie umgebenden Kultur ausmachten. Da erstere Ansätze nach aktuellem Forschungsstand vergleichsweise wenig Relevanz besitzen (vgl. Barkley, 1998) und meist nur für kleine Subgruppen gelten, werden im folgenden Abschnitt die psychosozialen Faktoren, die eine Familie prägen, und ihre Rolle bei der Entstehung von ADHS besprochen.

2.4.3.1 Psychosoziale Faktoren

Psychoanalytiker entwickelten bereits in den vierziger Jahren Theorien zur psychosozialen Verursachung von ADHS (vgl. Hinshaw, 1994). Sie behandelten Kinder und Eltern und versuchten unterschwellige familiäre Konflikte aufzudecken um eine Besserung herbeizuführen. Dabei stand häufig die Mutter im Zentrum der therapeutischen Bemühungen.

Bettelheim (1973) modifizierte die klassische psychoanalytische Sicht und erweiterte sie um ein Diathese-Stress-Modell. (vgl. Ross & Ross, 1976). Demnach bringen manche Kinder eine Prädisposition für ADHS mit, die ausgelöst werden kann, wenn sie belastende Erfahrungen machen.

Diese unidirektionale Sichtweise Bettelheims wurde kritisiert. In der Tat belegen Studien, daß negatives mütterliches Verhalten sofort zurückgeht, wenn sich die Symptome der Kinder bessern (z.B. durch eine Pharmakotherapie). Dies weist eher darauf hin, daß das Verhalten der Mutter eine Reaktion auf die Probleme des Kindes darstellt und nicht umgekehrt (Ross & Ross, 1976; Barkley, 1998).

Block (1977) weist darauf hin, daß bisherige Ansätze zur Erforschung von ADHS die möglichen Auswirkungen kultureller Faktoren übersehen haben. In Anbetracht des beträchtlichen kulturellen Wandels im 20. Jahrhundert sieht er es als durchaus plausibel an, daß Wirkfaktoren in diesem Bereich gefunden werden könnten. Er plädiert für eine interdisziplinäre Forschung, um seine Hypothesen zu verifizieren.

Jacobvitz & Sroufe (1987) konnten in einer Längsschnittstudie nachweisen, daß frühes, überstimulierendes Elternverhalten ein Prädiktor für hyperkinetische Symptome der Kinder im Alter von dreieinhalb Jahren sein kann. In ihrer Stichprobe waren viele Hochrisikofamilien und junge allein erziehende Mütter vertreten.

Carlson, Jacobvitz & Sroufe (1995) fanden, daß psychosoziale Faktoren wie Beziehungsstatus der Mutter bei Geburt des Kindes, soziale Einbindung der Eltern sowie überstimulierendes Verhalten einen zwar nur mittelgroßen, aber dennoch signifikanten Beitrag zur Vorhersage von hyperkinetischen Symptomen der Kinder im Vorschulalter leisteten. Diese Faktoren erwiesen sich als besserer Prädiktor als rein endogene (genetische) Faktoren. Auch in dieser Studie waren Familien mit schwachem sozioökonomischen Hintergrund stark vertreten.

Silverman & Ragusa (1992) gingen der Frage nach, ob kontrollierendes Mutterverhalten einen Einfluß auf die Selbstregulationsfähigkeiten des Kindes hat. Sie konnten zeigen, daß mütterliche Interaktionen und Erziehungseinstellungen zum Zeitpunkt der Geburt die Selbstregulation des Kindes im Alter von zwei Jahren vorhersagen können. Erziehungsparameter der Mutter, z.B. emotionale Wärme oder Verärgerung, waren brauchbare Prädiktoren für die Selbstregulation des Kindes im Alter von vier Jahren, selbst wenn das Verhalten des Kindes statistisch kontrolliert wurde.

Ihre Stichprobe enthielt Familien aus allen Schichten. Ein Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und ADHS wurde nicht gefunden.

In neuester Zeit bemüht sich die psychoanalytische Schule, Beiträge zur Erforschung von ADHS zu liefern. Die „Frankfurter Präventions-studie“ untersucht die Wirkung von Frühintervention auf die Entwicklung von hyperkinetischen Symptomen bei Vorschulkindern (Leutzinger-Bohleber et al., 2006). Die Ergebnisse stehen noch aus.

Maté (1999) vertritt ein modifiziertes Diathese-Stress-Modell. Er anerkennt die entscheidende Rolle der Vererbung bei der Entstehung von ADHS. Nach seiner Auffassung wird aber vor allem eine Hypersensibilität gegenüber der emotionalen Umwelt vererbt. Die Symptome der Kinder sind demnach ein Versuch, die Balance in der Familie wiederherzustellen. Diese leicht verkürzt dargestellte systemische Sichtweise wird z.B. von Kienle (1992) kritisch diskutiert. Empirische Belege liegen nicht vor.

Zusammenfassend kann man sagen, daß die Belege für eine primär psychosoziale Verursachung von ADHS nicht gegeben sind. Allenfalls kann dies für kleine Subgruppen zutreffen. Hinshaw (1994, S.11): „Es ist gut möglich, daß verschiedene ätiologische Pfade zu ähnlichen phänotypischen Manifestationen bei Subgruppen von Kindern führen können; dies wäre ein Beispiel für das Konzept der Äqui-finalität .“ (Übersetzung durch den Verfasser).

2.4.3.2 Kritik am psychosozialen Ansatz

Die These der psychosoziale Verursachung erfreut sich periodisch wiederkehrender Beliebtheit. Sie wird oft in Verbindung zum beschleunigten kulturellen Wandel gebracht. Die aktuelle Version dieser Thesen ist häufig populistisch formuliert und nur selten empirisch prüfbar (z.B. DeGrandpre, 2002).

Vielen Eltern scheinen psychosoziale Erklärungen für ADHS unmittelbar einzuleuchten. Nur so ist zu erklären, daß sich diese Überzeugung trotz schwacher empirischer Befunde hartnäckig halten kann (vgl. Wender, 2000; Paternite & Loney, 1980)

Wender (2000) beklagt, daß viele Eltern von Lehrern, Sozialarbeitern und Psychologen direkt oder indirekt in ihrer Überzeugung, ADHS sei psychosozial verursacht, bestärkt werden. Daraus resultieren entweder Schuld- und Insuffizienzgefühle bei den Eltern oder das Problem wird insgesamt geleugnet. Beide Reaktionen sind keine gute Basis für eine konstruktive Lösung.

Zwillingsstudien zeigen, daß elterlichem Erziehungsverhalten eine Wirkgröße von 0-6% zuzuordnen ist. Der Einfluß von ungünstigem mütterlichen Verhalten wird auf maximal 10% geschätzt (Barkley, 1998). Barkley weist darauf hin, daß diese Faktoren ihrerseits genetisch determiniert sein könnten.

2.4.4 Zusammenfassung

Die genaue Ursache von ADHS ist unklar. Wahrscheinlich sind mehrere Faktoren bei der Genese der Störung beteiligt (vgl. Döpfner, 1998). Dabei spielen genetische und neurologische Faktoren eine wichtige Rolle, wie Zwillingsstudien und bildgebende Verfahren zeigen.

Es gab schon früh Vermutungen, daß psychosoziale Faktoren auch einen Einfluß ausüben (Psychoanalyse, z.B. Bettelheim, 1973). Es zeigte sich aber, daß diese Positionen den Fakten angepasst werden mussten. Empirische Belege für die entscheidende Rolle des sozialen Umfelds als Prädiktor für die Schwere der Störung liegen für Subgruppen vor (Jacovitz & Sroufe, 1987; Carlson, Jacovitz & Sroufe, 1995; Silverman & Ragusa, 1992). Ihr kausaler Einfluß auf die Genese von ADHS kann nicht als gesichert gelten und betrifft sicherlich nicht alle Familien mit hyperkinetischen Kindern (vgl. Barkley, 1998).

Forschung im Bereich des sozialen Umfelds von ADHS-Kindern kann jedoch wichtige Impulse für Beratung und Therapie geben (vgl. Hinshaw, 1994).

2.5 Intervention

Es existieren verschiedene Möglichkeiten, Kindern und Erwachsenen mit ADHS im alltäglichen Umgang mit der Störung zu helfen. Die bekannteste davon ist die Stimulantienbehandlung. Diese und andere Verfahren werden in folgenden Kapitel in einem Überblick vorgestellt. Dabei wird zwischen Verfahren, die das Kind betreffen und Verfahren die das soziale Umfeld betreffen unterschieden. Abschließend werden die Möglichkeiten und Grenzen multimodaler Verfahren erörtert.

2.5.1. Kindzentrierte Verfahren

Zu diesen Behandlungsformen gehört die Pharmakotherapie und verschiedene kognitiv-behavioristische Methoden. Als Vertreter der letzteren werden die Selbstinstruktionstrainings besprochen.

2.5.1.1. Pharmakotherapie

Es gibt deutliche Belege für die schnelle und oft dramatische Wirksamkeit von Psychostimulantien. Diese Medikamente enthalten meist Methylphenidat und werden unter verschiedenen Handelsnamen verschrieben (z.B. Ritalin®, Medikinet®, Concerta®).

70% aller ADHS-Kinder sprechen darauf an (Döpfner, 1998).

Psychostimulantien verringern die Kernsymptome der ADHS deutlich: die Kinder sind weniger impulsiv, weniger unruhig und können sich besser konzentrieren. Darüberhinaus verringert sich ihr aggressives Verhalten, sie sind besser ansprechbar, stören weniger im Unterricht und kooperieren besser (Phelan, 2000).

Bei 5% der Fälle treten Nebenwirkungen auf. Diese sind meist nur leicht, und verschwinden schnell wieder, wenn das Medikament abgesetzt wird. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Appetitlosigkeit, Einschlafprobleme, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, erhöhte Irritierbarkeit und Müdigkeit. (vgl. Phelan, 2000). Trotzdem zählen Psychostimulantien mit zu den sichersten und besterforschtesten Medikamenten (Wender, 2000).

Dennoch können Stimulantien nicht alle Probleme hyperkinetischer Kinder lösen. So werden die Schulleistungen etwa durch das Medikament nicht verbessert. Stimulantien ermöglichen zwar ein besseres Funktionieren im Unterricht, sind aber noch kein Garant für bessere Noten.

Weiterhin sind bei mittlerer Dosierung noch immer Unterschiede im Vergleich zu normal funktionierenden Kindern festzustellen. Höhere Dosierung verstärkt zwar die Wirkung des Medikaments, aber auch die Nebenwirkungen.

Desweiteren können die positiven Effekte der Pharmakotherapie oft nach deren Beendigung nicht aufrechterhalten werden. Die notwendige Dauer einer Behandlung mit Medikamenten ist unklar. Viele Kinder werden daher langfristig medikalisiert. Die Wirksamkeit einer Langzeitbehandlung ist nicht eindeutig erwiesen (Döpfner, 1998).

2.5.1.2. Verhaltenstherapie

Behavioristische Theorien sehen die Ursache unangepassten Verhaltens in ungünstigen sozialen Verstärkungsmustern. Durch Veränderung dieser Muster soll das Problemverhalten reduziert und sollen konstruktivere Alternativen etabliert werden.

Ein gebräuchliches Verfahren aus dem verhaltenstherapeutischen Kontext sind sogenante Selbstinstruktionstrainings. Ziel dieser Trainings ist es, dem Kind zu ermöglichen, seine Verhaltenssteuerung zu verbessern. Das Kind lernt am Modell des Therapeuten, laut zu denken und nacheinander verschiedene Schritte durchzugehen, bevor es handelt. Zu diesen Teilschritten gehören Fragen wie „Was ist das Problem?“, „Was ist zu tun?“, „Wie gehe ich vor?“ oder „Was tue ich als nächstes?“.

Lauth und Schlottke (1993) legen das im deutschen Sprachraum umfassendste Training vor, das auf dem Selbstinstruktionsansatz aufbaut.

Die klinische Wirksamkeit dieser Methode konnte noch nicht überzeugend belegt werden (Döpfner, 1998).

2.5.1.3 Entspannungsverfahren

Verschiedene alternative Behandlungsmethoden haben sich als sinnvolle Ergänzung erwiesen. Dazu gehören Entspannungsverfahren wie etwa Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung und Biofeedback (Saile, 1996, zit. n. Heubrock & Petermann, 2001).

2.5.2 Familien- und Schulzentrierte Verfahren

Aufklärung und Beratung

Die Leitlininen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie (DGKJP, 2003) sehen vor, ein Aufklärungs- und Beratungsgespräch mit den Eltern, den Lehrern und dem Kind zu führen. Ziel dieses Gesprächs ist es, sachliche Information zum Thema ADHS zu vermitteln und Mißverständnisse aufzuklären. Zusätzlich wird Eltern die Möglichkeit gegeben, Ratschläge zum pädagogischen Umgang mit Problemsituationen zu erhalten.

In diesem Zusammenhang schlägt Wender (2000) vor, Familienregeln klar, konsistent, explizit und vorhersagbar zu gestalten.

Maté (1999) hingegen rät zu einer liebevollen, bedingungslos akzep-tierenden Haltung gegenüber hyperaktiven Kindern.

Diese beiden Standpunkte stehen exemplarisch für die Spannweite der pädagogischen Positionen und sollen die Herausforderung verdeutlichen, die hyperkinetische Kinder für Eltern und Erzieher darstellen.

Elterntrainings

Ziel der meist kognitiv-behavioristisch orientierten Programme ist die Befähigung von Eltern und Lehrern, auf das Verhalten des Kindes angemessener zu reagieren und die Konsequenzen zu steuern. Dies kann helfen, festgefahrene Kommunikationsmuster zu durchbrechen und durch angemessenere zu ersetzen.

Dabei spielen Verstärkerpläne eine wichtige Rolle. Das Kind erhält für angemessenes Verhalten Tokens (z.B. Dinosaurier-Aufkleber), die es für kleine Belohnungen eintauschen kann. Auch milde Formen von Bestrafung, wie etwa kurze Time-Out Phasen, sind häufig Teil des Programms.

Ein im deutschen Sprachraum gebräuchliches Elterntrainings-programm heißt „Wackelpeter und Trotzkopf“ und wurde von Döpfner, Schürmann & Lehmkuhl (2000) entworfen.

Die Wirksamkeit der Elterntrainings bei Familien mit hyperkinetischen Kindern ist gut belegt. Die Konflikte verringern sich und das Störverhalten nimmt ab. Die Wirksamkeit erreicht jedoch nicht die Effekte der Pharmakotherapie. Auch beschränken sich die Effekte meist auf das Verhalten in der Familie. (Döpfner, 1998)

Interventionen in der Schule

In der Schule erweisen sich sogenannte Response-Cost Verfahren als hilfreich. Dabei handelt es sich um abgewandelte Token-Systeme: wenn das Kind Fehlverhalten zeigt, werden bereits erhaltene Verstärker wieder entzogen. Das Kind erhält so eine unmittelbarere Rückmeldung über sein Verhalten als bei herkömmlichen Verstärkerplänen. Die Schulleistung verbessert sich und das Störverhalten nimmt ab. Die Wirksamkeit erreicht jedoch nicht die Effekte der Pharmakotherapie. Die Effekte beschränken sich meist auf die Situation in der Schule (Döpfner, 1998).

2.5.3 Multimodale Therapie

Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (2003) sehen für ADHS eine Multimodale Behandlung als Standardverfahren vor.

Unter multimodaler Behandlung versteht man eine Kombination von Pharmakotherapie und verhaltenstherapeutischen Ansätzen wie sie bereits dargestellt wurden. Man erhofft sich, daß die positiven Wirkungen der einzelnen Behandlungsformen sich ergänzen und einander verstärken.

Tatsächlich gibt es Belege für eine geringfügig höhere Wirksamkeit multimodaler Ansätze gegenüber ausschließlicher Pharmakotherapie (Döpfner, 1998).

Vor allem die Langzeitwirksamkeit scheint besser zu sein als bei alleiniger Gabe von Stimulantien. Kinder, die zusätzlich verhaltenstherapeutisch behandelt wurden, zeigen in der Adoleszenz weniger asoziales Verhalten und weniger Leistungsdefizite (Döpfner, 1998).

2.5.4 Zusammenfassung

Die schnelle und dramatische Wirksamkeit der Pharmakotherapie wird von keiner verhaltenstherapeutischen Methode erreicht. Besonders bei akuten Familienkonflikten oder drohender Nicht-versetzung des Kindes ist die Stimulantienbehandlung die Methode der Wahl.

Allerdings können Medikamente den Verlauf der Störung nur unwesentlich beeinflussen. Um sekundäre Neurotisierungen wie Angst, Depression oder geringes Selbstwertgefühl zu mindern, empfiehlt sich zusätzliche psychologische Beratung. Elterntrainigs können helfen, den Teufelskreis negativer Eltern-Kind Interaktionen zu durchbrechen.

Multimodale Verfahren können die Prognose für ADHS-Kinder entscheidend verbessern helfen. (Döpfner, 1998)

Trotzdem gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt Zeit keine Therapie die ADHS nachhaltig und zuverlässig heilen kann.

3. Aufmerksamkeit

Es existieren verschiedene Methoden zur Erfassung von Aufmerksamkeit. Diese werden in Kapitel 3.3 besprochen und ein modernes testdiagnostisches Verfahren (der TEA-Ch) vorgestellt.

Zunächst aber ist es notwendig, Aufmerksamkeit zu definieren und die psychologischen Modelle, die zur Entwicklung heutiger Testverfahren führten, darzustellen.

3.1 Definition von Aufmerksamkeit

Eine klassische Definition der Aufmerksamkeit stammt von William James aus dem Jahre 1890 und lautet wie folgt:

„Jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist. Es ist die klare und lebhafte Inbesitznahme des Verstandes von einem Objekt oder Gedanken aus einer Menge gleichzeitig möglicher Objekte oder Gedanken. Ausrichtung und Konzentration des Bewußtseins sind ihr Wesen. Es beinhaltet die Abwendung von einer Sache, um sich effektiv mit einer anderen auseinanderzusetzen.“ (zit. nach Heubrock & Petermann, 2001).

Diese Definition umfasst schon viele Aspekte moderner Aufmerksamkeitstheorien. James lässt ahnen, daß Aufmerksamkeit aus verschiedenen Prozessen und Funktionen besteht und die „Objekte und Gedanken“ beziehen sich klar auf äußere und innere Reize. Die Zielgerichtetheit und die Möglichkeit, sich zu- oder abzuwenden impliziert bereits eine Art von „Filter“-funktion.

Eine ähnliche Definition stammt von Lauth (2006): „Aufmerksamkeit dient dazu, einen relevanten Ausschnitt von Umweltreizen aufzunehmen und gezielt, rasch sowie efffektiv zu verarbeiten bzw. darauf zu reagieren.“

3.2 Aufmerksamkeitstheorien

Seit den 50er Jahren werden wissenschaftliche Modelle der Aufmerksamkeit entwickelt und Forschungen dazu betrieben.

Unter den traditionellen Aufmerksamkeitstheorien war lange Zeit das Konzept einer begrenzten Kapazität vorherrschend. Die daraus entstandenen theoretischen Vorstellungen werden nachfolgend kurz dargestellt.

Auch die neueren neuropsychologischen Modelle werden dabei berücksichtigt.

3.1.1 Filtermodelle

Broadbent (1958) entwickelte eine Theorie, die von der Filterfunktion der Aufmerksamkeit ausgeht. Er verglich das zentrale Nervensystem des Menschen mit einem Kommunikationskanal mit begrenzter Kapazität. Die von außen kommenden Reize werden vom sensorischen System zunächst vollständig verarbeitet und in den Kurzzeit-gedächtnisspeicher weitergeleitet. Von hier gelangen die Reiz-informationen in den selektiven Filter, der die relevanten Reize identifiziert und nur diese zur weiteren Verarbeitung durch den Wahrnehmungsapparat zulässt. Diese Theorie wurde als „frühe Selektion“ bezeichnet.

Weitere Forschung zeigte jedoch, daß auch irrelevante Reize in der weiteren Verarbeitung eine Rolle spielen können. Treisman (1964, zit.n. Heubrock & Petermann, 2001) modifizierte das ursprüngliche Filtermodell und schlug einen Filter vor, der nicht vollkommen undurchdringlich sein, sondern eine abschwächende Pufferfunktion haben sollte. Dieser Filter würde bedeutsame Reize bevorzugt bearbeiten und sich auf einer höheren hierarchischen Ebene der Verarbeitung befinden. Diese Auffassung wurde als „späte Selektion“ bezeichnet.

Moray (1970, zit.n. Heubrock & Petermann, 2001) versuchte zwischen diesen Positionen zu vermitteln. Sein Filtermodell verfügt über zwei Informationskanäle, die zwar nicht gleichzeitig arbeiten, aber doch schnell gewechselt werden können.

[...]

Ende der Leseprobe aus 126 Seiten

Details

Titel
ADHS und soziales Umfeld - Eine Exploration
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Zentrum für empirische pädagogische Forschung - ZEPF)
Note
2,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
126
Katalognummer
V92444
ISBN (eBook)
9783638052740
ISBN (Buch)
9783638945417
Dateigröße
1253 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ADHS, Umfeld, Eine, Exploration, Thema ADHS
Arbeit zitieren
Christophe Witz (Autor:in), 2007, ADHS und soziales Umfeld - Eine Exploration, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92444

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