Die Darstellung von Flucht im Bilderbuch der Gegenwart


Masterarbeit, 2018

73 Seiten, Note: 1,0

Kim Franzke (Autor:in)


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Das Bilderbuch in der Literaturwissenschaft: Ein Forschungsüberblick
2.1 Das Bilderbuch als literarisch-ästhetischer Gegenstand
2.2 Narrative Möglichkeiten des Bilderbuchs
2.3 Das „problemorientierte“, „anspruchsvolle“ und „fragwürdige“ Bilderbuch
2.4 „Taboo topics in picturebooks“: Umgang mit tabuisierten Themen im Bilderbuch

3. Fluchtdarstellungen im Bilderbuch der Gegenwart
3.1 Wie wird über Flucht erzählt? Bild, Text und ihre Interdependenzen
3.2 Topographien einer Flucht: Das Meer als zentrales Motiv der Fluchtdarstellungen
3.2.1 Die Grenze als Element des Märchens in The Journey
3.3 „Last year, our lives changed forever“: Die Darstellung von Krieg, Gewalt und Trauma
3.4 Zwischen Aufbrechen und Ankommen: Darstellung des Eigenen und des Fremden
3.5 Erzählen als Mittel der Rettung?

4. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Noch nie war die Anzahl der Menschen, die sich auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung befinden, so hoch wie in den letzten Jahren: Ende 2016 waren es weltweit offiziell etwa 65,6 Millionen, im Jahr zuvor circa 65,3 Millionen (UNO-Flüchtlingshilfe). Das Thema ist allgegenwärtig und wird auch in der Literatur immer wieder aufgegriffen. Im November 2001 schrieb die taz noch, „[d]ie Kluft der sozialen Realität des Kindes und des Bilderbuches wird vermutlich größer werden“ (Motakef 1). Auf den Tag genau fünfzehn Jahre später veröffentlicht die FAZ einen Artikel über Neuerscheinungen zum Thema Flucht im Kinder- und Jugendbuch und schreibt: „Jetzt scheint es, als ob es eine neue Welle von Büchern mit Haltung gibt. Mit Geschichten über Flucht, Krieg, Fremdsein, und zwar im Heute angesiedelt“ (Haeming 1). Die Literaturwissenschaftlerin Hajnalka Nagy stellt im Februar 2017 fest: „Dominierte[n] in den 1990er und den 2000er Jahren das Thema des Zusammenlebens in einer mehrkulturellen Gesellschaft [...], so konzentrieren sich aktuellere Texte auf konkrete Fluchterfahrungen“ (Nagy 5).

Besonders in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) hat sich das Thema Flucht zu einem Trend entwickelt und ist sehr präsent: Drei der sechs für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2017 nominierten Bilderbücher setzen sich mit dem Thema auseinander, eines wurde schließlich ausgezeichnet.1 Die KJL zeigt sich dabei „pathetisch und empathisch“: Sie soll nicht den rechtlichen Status einer Figur hinterfragen, sondern von Gründen und Bewegungen der Flüchtenden, den damit verbundenen Schwierigkeiten und der Not erzählen (Lettner 3).

Bereits in der deutschen Nachkriegszeit wurde die Kinderliteratur zur „Rettungsliteratur“ (O’Sullivan 33). Wie Emer O’Sullivan darstellt, setzt dieses Phänomen jedoch nicht erst zu diesem Zeitpunkt ein und endet dort auch keineswegs (O’Sullivan 34). So will auch die aktuelle KJL als „Verständigungshilfe“ zwischen Betroffenen und Nicht­Betroffenen dienen (Nagy 4). Die Bandbreite aktueller Veröffentlichungen reicht von Graphic Novel über Schulgeschichten, autobiografische oder dokumentarische Erzählungen bis hin zum Bilderbuch (Nagy 4).

Im Bilderbuch trifft der Leser auf zwei narrative Stimmen: eine, die erzählt, und eine, die zeigt. Text und Bild, Literatur und Kunst, bieten sich dem Leser meist auf einen Blick dar.2 Diese beiden Erzählstimmen können sich dabei ergänzen, aber auch widersprechen oder auf Diskrepanzen im Text hinweisen. Daraus ergeben sich interessante Erzählstrukturen, die so nur im Bilderbuch zu finden sind: „[B]y their very nature picturebooks are controversial because they challenge expectations about intermediality, format, directionality and textual boundaries“ (Arizpe, zitiert nach Evans: xvii). Der Leser muss Bild und Text verbinden, hinterfragen und reflektieren. Auf diese Weise werden vor allem in Bilderbüchern über Flucht auch Zuschreibungsprozesse sicht- und hinterfragbar; westeuropäische Denkmuster können irritiert und umgekehrt werden (Nagy 7). Die vorliegende Arbeit zeigt auf, wie die narrative Form des Bilderbuchs in Bezug auf ein kompliziertes Thema wie Flucht eingesetzt wird und dieses Thema kritisch umsetzt. Wie arbeiten Autor und Illustrator mit den Bild-Text-Interdependenzen und welche narrative Struktur bzw. Wirkweise ergibt sich daraus? Kann eine Konfrontation mit Grenzüberschreitungen und bisherigen Zuschreibungsmustern ermöglicht werden?3 Werden Irritationen, Nonkonformität oder auch Fremdheit konstatiert und wenn ja, wie?

Diese Fragestellungen werden im Folgenden exemplarisch anhand von drei Bilderbüchern, welche innerhalb der letzten zehn Jahre erschienen sind, untersucht. Den Untersuchungsgegenstand bilden: Home and Away von dem Autor-Illustrator-Duo John Marsden und Matt Ottley (2008), The Journey von Francesca Sanna (2016), sowie der Titel Flucht von Autor Niki Glattauer und Illustratorin Verena Hochleitner (2016). Home and Away geht dem aktuellen Fluchtdiskurs voraus, wohingegen Sannas The Journey und Glattauers und Hochleitners Flucht Teil davon sind. Diese Auswahl wurde aufgrund des komparatistischen Forschungsansatzes der vorliegenden Arbeit getroffen. Sie gibt Einblick in den internationalen Umgang mit der Fluchtthematik. Die ausgewählten Titel stammen aus zwei unterschiedlichen Sprachräumen - Englisch und Deutsch -, sowie von europäischen als auch außereuropäischen Autoren und Illustratoren. Durch den Vergleich der drei Titel kann ein Fluchtdiskurs im Bilderbuch thematisiert und seine Entwicklungsmöglichkeiten können aufgezeigt werden. Hierbei kann natürlich aufgrund der vielzähligen aktuellen und noch folgenden Veröffentlichungen kein abschließendes Urteil gefällt, jedoch ein Ausblick gegeben werden.

Das Bilderbuch wurde als Medium zur Analyse für die vorliegende Arbeit ausgewählt, da es, anders als rein textuelle Formen, durch die Verbindung von Bild und Text und die daraus entstehenden Interdependenzen eine sehr komplexe Form der Darstellung ermöglicht (Nagy 6). Bezüglich des Mediums Bilderbuch besteht bislang eine große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, was es für eine literaturwissenschaftliche Analyse besonders interessant macht. Als Rezeptionsmedium ist es in pädagogischen Einrichtungen bereits etabliert, nahm in der literaturwissenschaftlichen Forschung jedoch lange eine marginale Rolle ein, obwohl die Literaturwissenschaft durchaus die größte Nähe zum Bilderbuch aufweist (Thiele 2007a: 8ff.). Nach Jens Thiele ist diese Forschungslücke in der Dominanz der Bilder begründet, die das Bilderbuch immer noch zu einem „Sonderfall“ innerhalb der Literaturwissenschaften macht (Thiele 2007a: 13f.). Thieles Aussage ist mittlerweile überholt, doch seine Ausführungen zum Bilderbuch bilden weiterhin die Grundlage für die Bilderbuchforschung und sind deshalb ebenfalls Grundlage für die vorliegende Arbeit. Seine Anthologie Das Bilderbuch thematisiert das Medium bereits vor zehn Jahren als Gegenstand der Literaturwissenschaft, spricht Problematiken an, zeigt Analysetechniken und Perspektiven auf und unternimmt den Versuch einer Theoriebildung.

Tatsächlich gab es im deutschsprachigen Raum lange nur wenige Veröffentlichungen zum Bilderbuch.4 Erst innerhalb der letzten fünf Jahre etabliert es sich neben Comic und Graphic Novel langsam im wissenschaftlichen Kontext. Im englischsprachigen Raum ist das Bilderbuch hingegen schon länger Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaften. Hier gibt es eine deutlich größere Anzahl von Publikationen zum Thema. Bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren publizierten unter anderem Barbara Bader und Perry Nodelmann zum Medium Bilderbuch.5 Aus den Veröffentlichungen der letzten Jahre hervorzuheben sind Maria Nikolajeva und Carole Scott, die in How Picturebooks Work einen narratologischen Ansatz verfolgen. Dieser wird für die vorliegende Arbeit herangezogen, um die komparatistische Betrachtungsweise zu gewährleisten und einen umfassenderen Forschungsüberblick zu geben.

Der theoretische Teil dieser Arbeit gibt zunächst einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Bilderbuch in der Literaturwissenschaft. In einem weiteren Schritt wird das Bilderbuch als literarisch-ästhetischer Gegenstand charakterisiert und die narrativen Möglichkeiten des Mediums werden aufgezeigt. Daran anknüpfend wird das Thema des „problemorientierten“ Bilderbuchs skizziert. Unter diesem Gesichtspunkt werden weiterhin die Aspekte der Mehrfachadressierung im Bilderbuch und des Umgangs mit sogenannten „Tabuthemen“ untersucht. Denn für die Darstellung eines Themas wie Flucht ist es nach Janet Evans notwendig, dass die Bilderbücher eine Adressierung sowohl an erwachsene als auch an kindliche Leser vorweisen (Evans 15). Das Ziel sei nicht die „kindgerechte Darstellung“, sondern überhaupt die Darstellung solch komplexer und unangenehmer Themen (Nagy 9).

Für die Analyse der Bilderbücher werden Bild und Text auf Charakteristika untersucht, die sie einerseits trennen, andererseits verbinden, da sie „eigenständige ästhetische Kategorien mit je spezifischen Strukturen sind“ (Thiele 2000: 37). Daher werden die ausgewählten Titel innerhalb der Analyse zunächst auf ihre textuellen und bildlichen Strukturen hin untersucht, bevor deren Interdependenzen herausgearbeitet werden können. Es wird aufgezeigt, wie der Text und das Bild bzw. die Bilder zusammenwirken und welche Rolle der Einsatz unterschiedlicher Perspektiven und Kontraste spielt.

In Bezug auf die narrativen Strukturen des Bilderbuchs wird im Analyseteil die Topographie der einzelnen Fluchtwege ausgewertet, wobei das Meer im Fokus der Untersuchung steht. Welche Symbolkraft haben bestimmte Räume wie das Meer und der Wald; welche Rolle spielen Grenzen und ihre Überwindung? Welche Bedeutung kommt dem Ausgangsort der Flucht und dem Ankunftsort der Flüchtenden zu bzw. gibt es überhaupt eine Ankunft am Ende des Buches? Wie wird der Fluchtgrund, also der Krieg, dargestellt? Weiterhin soll genauer auf die Darstellung des Eigenen und des Fremden eingegangen werden. Abschließend wird geklärt, welche Rolle Erinnerung und Erzählen in den einzelnen Titeln spielen. Kann das Erzählen sogar als ein Mittel der Rettung gesehen werden? Die Betrachtung all dieser erzähltechnischen Aspekte führt zu einer umfassenden Beantwortung der oben genannten Fragestellungen.

2. Das Bilderbuch in der Literaturwissenschaft: Ein Forschungsüberblick

Im Folgenden soll ein Überblick über die aktuelle Forschungslage zum Bilderbuch gegeben und ein Schwerpunkt auf die Betrachtung des Bilderbuchs als literarisch-ästhetischer Gegenstand gelegt werden. Hierfür wird im Besonderen Jens Thieles Grundlagenwerk zum Bilderbuch6 als Basis dienen. Weitere aktuellere deutschsprachige Publikationen zum Bilderbuch werden herangezogen. Zusätzlich finden englischsprachige Publikationen zum Thema Beachtung, um den Überblick komparatistisch zu gestalten. Hierbei wird insbesondere auf die Arbeit von Maria Nikolajeva und Carole Scott zurückgegriffen, da sie im Rahmen der Bilderbuchforschung als Grundlagenwerk gilt. Nach dieser Einordnung des Bilderbuchs in einen literaturwissenschaftlichen Forschungskontext werden die Besonderheiten seiner aus Bild und Text bestehenden narrativen Form skizziert. Diese bilden die Basis für die folgende Analyse. Für diesen Abschnitt wird das Analysemodell von Michael Staiger (2014) zugrunde gelegt. Anschließend wird eine Definition des „problemorientierten“ Bilderbuchs ausgearbeitet, um die ausgewählten Titel auch unter diesem Gesichtspunkt betrachten zu können.

2.1 Das Bilderbuch als literarisch-ästhetischer Gegenstand

Laut Eva-Maria Dichtl fehlt es auch heute noch „an einer umfassenden Entstehungsgeschichte des Bilderbuchs, die alle Erzählebenen [...] berücksichtigt“ (Dichtl 36). Es lägen unterschiedliche Ansätze einer Theoriebildung vor und das Bilderbuch ließe sich mehrfach definieren (Dichtl 56). Festzustellen sei, dass das Medium stets von „Kunstströmungen“ und durch „gesellschaftliche Vorstellungen von Kind und Kindheit“ geprägt werde (Dichtl 36).

Ansätze zu einer theoretischen Bestimmung des Bilderbuchs gibt es im deutschsprachigen Raum mittlerweile aus literaturdidaktischer, semiotischer, erzähldramaturgischer sowie kunstästhetischer Perspektive.7 Neuentwicklungen im Bilderbuch machen Forschungsbeiträge seit den 1990er Jahren aus, Forschungsgegenstand an wissenschaftlichen Institutionen ist das Medium jedoch erst seit den 2000er Jahren.8 Mittlerweile weisen auch interdisziplinär ausgerichtete wissenschaftliche Tagungen zum Medium auf die wachsende Bedeutung des Bilderbuchs als Forschungsgegenstand hin.9

Der Medienwissenschaftler Jens Thiele verfolgt in seinen Publikationen zum Bilderbuch seit den 2000er Jahren einen interdisziplinären Forschungsansatz, der sowohl literatur- und kunstwissenschaftliche, als auch entwicklungspsychologische sowie didaktische Ansätze einbezieht.10 Thiele begreift das Medium „als ein komplexes ästhetisches, kommunikatives und soziales Phänomen“ (Thiele 2007a: 11). Dem Film ähnlich, stelle es „ein hoch komplexes ästhetisches Gebilde aus unterschiedlichen Schichten dar, die es in ihren Wechselbeziehungen wahrzunehmen gilt“ (Thiele 2000: 13). Die Wechselwirkungen ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Bild und Sprache (Film) bzw. Bild und Text (Buch).

Mareile Oetken untersucht in ihrer Dissertation von 2008 die Entwicklungen, die sich im Bilderbuch der 1990er Jahre abzeichnen.11 Sie weist auf eine Vielfalt des bildlichen und textuellen Erzählens im Bilderbuch bezüglich Technik, Ästhetik und Thematik hin (Oetken 2008: 246f.). Häufig zu finden seien Comicelemente und Bestandteile von Karikatur und Cartoon. Dies sei durch eine Veränderung der Sehgewohnheiten durch den Einfluss vor allem visueller Medien begründet und führe zum Einfließen von filmischer Bildsprache, perspektivischen Verschiebungen, seriellen Reihungen und dem Einsatz von atmosphärischem Farblicht (Oetken 2008: 247). Kinderfiguren würden selbstbewusst und differenziert dargestellt (Oetken 2008: 248). Insgesamt kommt Oetken zu dem Schluss, dass sich die Bilderbuchästhetik „in den 1990er Jahren in einer Vielfalt dar[stellt], die [...] keine andere Epoche der Bilderbuchliteraturgeschichte aufweisen kann“ (Oetken 2008: 316). Gattungen vermischten sich, es komme zu Genreüberschneidungen, thematischen Enttabuisierungen und einer Öffnung der Adressatengruppe (Oetken 2008: 246ff.). Die „thematischen Enttabuisierungen“ scheinen im Bilderbuch der 1990er Jahre jedoch laut Oetkens Interviewergebnissen mit Illustratoren und Illustratorinnen noch nicht auf eine „Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen“ abzuzielen, wie es mittlerweile häufig der Fall ist (Oetken 2008: 247).

Reinbert Tabbert fasst diese Öffnung des Mediums hin zu neuen thematischen und ästhetischen Formen unter dem Begriff der Postmoderne zusammen und stellt das Bilderbuch in Beziehung zur fantastischen Literatur. In Werken der fantastischen Literatur sei der Illusionscharakter des Dargestellten für den Leser stets sichtbar, da die zwei dargestellten Welten (Tabbert bezeichnet sie als „primär“ und „sekundär“) immer im Bereich der Fiktion angeordnet seien (Tabbert 111). Im postmodernen Bilderbuch gebe es auch zwei Welten, doch hier sei es kennzeichnend, dem Rezipienten den „Illusionscharakter bewusst zu machen“ (Tabbert 111). Dargestellte Realität und „imaginierte Welt“ können sich so auf einer Ebene befinden (Tabbert 118). Ein wichtiges Merkmal sei „Pluralität12 “ (Welsch, zitiert nach Tabbert: 112). Tendenzen der Pluralisierung sieht Tabbert in der Vielfalt der Erscheinungsformen des zeitgenössischen Bilderbuchs, in dessen „multiplen Identitätsentwürfen“ und intertextuellen Hinweisen (Tabbert, zitiert nach Dichtl: 34).

Michael Staiger definiert postmoderne Bilderbücher als sich durch Grenzüberschreitungen auszeichnend; sie enthalten Grenzüberschreitungen in Form von Selbstreferenzialität, Metafiktionalität und Intertextualität; ebenfalls weise ein spielerischer Charakter auf Postmodernität hin (Staiger 2013: 69). Für Claudia Blei-Hoch sind neben der Beschäftigung mit bild- und sprachästhetischer Darstellung von Sachverhalten und einem komplexen und differenzierten Umgang mit Bild und Text vor allem Offenheit und Mehrdeutigkeit weitere Merkmale für das Erzählen im postmodernen Bilderbuch (Blei-Hoch 2007: 16f.). Durch das Ermöglichen von „komplexe[n] ästhetische[n] und literarische[n] Erfahrungen“ können postmoderne Bilderbücher „erweiterte Sozialisationsfunktionen“ anbieten (Kurwinkel 60f.). Ob es sich bei den für diese Arbeit ausgewählten Titeln um als postmodern einzuordnende Bilderbücher handelt, wird noch zu eruieren sein.

Dagmar Grenz schreibt zur Frage nach dem Verhältnis von Kinder- und Erwachsenenliteratur und bewertet diese aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, welche Literaturdidaktik erst einmal nicht einschließe:

Kinderliteratur als Teilgebiet der Gesamtliteratur kann ebenso wie Erwachsenenliteratur angemessen nur untersucht werden, wenn sie wie diese auch unter literaturwissenschaftlichem Aspekt betrachtet wird (Grenz 1990: 7).

Die Annäherung von Bilderbuchforschung und allgemeiner Literaturwissenschaft sei noch einmal komplizierter aufgrund des dem Bilderbuch eigenen Spanungsverhältnisses von Bild und Text (Thiele 2007a: 13f.). Ein möglicher Anreiz für eine solche Annäherung scheint die Übertragung von Literaturklassikern zu sein, die gerade in den letzten Jahren stark zugenommen hat (Thiele 2007a: 14).

Thiele sieht das zeitgenössische Bilderbuch im Jahr 2000 geprägt von „ästhetischen Entgrenzungen“ und plädiert für die Auflösung von Genre- und Gattungsgrenzen, eine Öffnung der Adressatengruppe und einen experimentellen Umgang mit Erzählungs- und Gestaltungsformen (Thiele 2000: 203). Eine Auffassung des Bilderbuchs als „literarische Untergattung mit unterschiedlichen Genres“ ist jedoch problematisch, da ein einzelnes Bilderbuch häufig mehrere Genres beinhaltet, wodurch eine solche Kategorisierung deutlich zu eng gefasst ist (Dichtl 19).

Ulf Abraham und Julia Knopf verorten das Bilderbuch in der „literarisch-medialen Kultur der Gegenwart“ und weisen mittels einer tabellarischen Übersicht auf seine vielfältigen Erscheinungsformen13 hin (Abraham/Knopf 2ff.). Ihrer Auffassung nach kann das Bilderbuch „nicht eine literarische Gattung neben anderen sein“, da es einerseits die drei großen Gattungen der Literatur - Epik, Dramatik, Lyrik - beinhalten könne, andererseits stets auch der Kunst verbunden sei, da es zwar ohne Text, jedoch nicht ohne Bilder denkbar sei (Abraham/Knopf 3). Im Bilderbuch sei jeder denkbare Kunststil zu finden, trotzdem stellt das Bilderbuch für die Autoren zweifelsfrei „Literatur“ dar (Abraham/Knopf 3). Auch Michael Staiger weist auf das Bilderbuch als „Medium der Kinderliteratur“ hin, welches kein spezifisches Genre darstelle; es vermittle viel eher Texte unterschiedlicher Gattungen und Genres (Staiger 2014: 12).

David Lewis definiert das Bilderbuch als ein literarisches Werk, denn seine Bestandteile Bild und Text sind „bound within covers, are arranged sequentially, together comprise a text that is frequently, though not always, narrative in kind, and which is intended to be read“ (Lewis 102, Kursivsetzung im Text). Auch Tobias Kurwinkel ordnet das fiktionale Bilderbuch explizit als narrativen Text ein, da ein Text „[i]n seiner weitesten, semiotischen Bestimmung“ auch Bilder umfassen kann (Kurwinkel 47). Nach Abraham und Knopf sollten Bilderbücher unterteilt werden nach Wirklichkeitsreferenz, also realistisch oder fantastisch14, nach dem Verhältnis zu anderen Texten, also intermedial und intertextuell, sowie nach der narrativen Verknüpfung, also danach, ob in Bildfolgen oder in Einzelbildern erzählt wird (Abraham/Knopf 4f.). Sie begreifen Bilderbücher als „hybride Narrationen“ (Abraham/Knopf IX). Auf diese Bedeutung der Wechselbeziehung von Text und Bild als konstituierendes Merkmal für das Bilderbuch ist immer wieder hingewiesen worden.15 Im Bilderbuch werden zwei narrative Formen miteinander verbunden, eine visuelle und eine verbale. Das Bilderbuch kann also als „primär narratives Medium“ verstanden werden, welches im Regelfall fiktionale Stoffe wiedergibt. In dieser Definition als narratives Medium ist auch die Bildebene des Bilderbuchs mit einbezogen, doch die „erzählerischen Bild-Text-Interdependenzen“ stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, was sich mit dem Ansatz dieser Arbeit deckt (Thiele 2000: 36).

Laut Thiele ist das Bilderbuch an erster Stelle an kindliche Rezipienten adressiert, was an seinem Text- und Bildumfang deutlich wird.16 Auch diese Auffassung ist in Bezug auf das zeitgenössische Bilderbuch fragwürdig, da auch Bilderbücher immer häufiger der All-Age- Literatur zugeordnet werden können oder sich sogar ausschließlich an erwachsene Leser richten, was in Kapitel 2.3 noch genauer erläutert wird. Thiele stellt fest, dass sich auf der Textebene meist eine sehr kurze Erzählung finde, wohingegen die Bildebene nicht in lang oder kurz kategorisiert werden könne, da die Anzahl der Bilder solche Aussagen nicht zuließe (Thiele 2000: 36). Oft wurde dabei dem Bild eine Dominanz gegenüber dem Text zugewiesen17, die Thiele jedoch ablehnt, „um eine prinzipielle Offenheit zwischen Bild und Text zu wahren“ (Thiele 2000: 36). Doch wird heute tatsächlich immer visueller erzählt, da Bilddarstellungen in der aktuellen Gesellschaft eine starke Bedeutung zufällt.18

Iris Kruse und Andrea Sabisch weisen auf einen erkenntnistheoretischen Wandel hin, der dem zeitgenössischen Bilderbuch zugrunde liege und es so „fragwürdig“ mache. Eine Veränderung, die durch den „iconic turn“, die verstärkte Hinwendung zum Bild als bedeutendem wissenschaftlichen Gegenstand, eingeleitet wurde und nun dazu führe, dass der Text nicht länger über das Bild dominiere, sondern in Abhängigkeit vom ihm stehe (Kruse/Sabisch 8).19 Zeitgenössische Bilderbücher verfügten über eine hohe „gestalterische Innovationskraft“, die „hohe Anforderungen an Analyse, Rezeption und Vermittlung von Bild­Sprach-Konstellationen“ stelle (Kruse/Sabisch 8). Blei-Hoch schreibt zeitgenössischen Bilderbüchern ebenfalls eine höhere Visualität zu, es erfolge „eine Verlagerung des Erzählens auf die Bildebene“ (Blei-Hoch 2007: 16). Bilder können demnach Auslöser für das Erzählen sein, sich einer bestimmten Erzählform entgegenstellen, den Text erweitern, ergänzen oder begleiten (Blei-Hoch 2007: 16).

Zusammenfassend wird deutlich, dass das Bilderbuch ein äußerst vielfältiges, schwer einzugrenzendes Medium darstellt. Besonders aktuelle Publikationen zeichnen sich durch eine Dominanz der Bilder aus. Durch die Verbindung von Text und Bild entstehen eine Vielzahl von erzähltechnischen Vorgehensweisen. Im Folgenden soll daher darauf eingegangen werden, wie im Bilderbuch erzählt werden kann. Welche narrativen Möglichkeiten hat es als Medium, in dem sowohl Text als auch Bild als narrative Elemente zum Einsatz kommen?

2.2 Narrative Möglichkeiten des Bilderbuchs

Jens Thiele definiert: „Erzählschemata im Bilderbuch zu benennen, heißt, ihre Elemente und Teileinheiten sowohl im Bild wie im Text herauszuarbeiten und damit eine Besonderheit im Erzählen sichtbar zu machen“ (Thiele 2000: 41). Um dieses Vorgehen genauer nachvollziehen und im Analyseteil dieser Arbeit anwenden zu können, wird in diesem Unterkapitel zunächst auf das Analysemodell von Michael Staiger zurückgegriffen, dessen nähere Betrachtung und Erprobung sich anbietet. Staiger plädiert in seinem Aufsatz Zur Komplexität des Erzählens im Bilderbuch: Narratologische Desiderate und Ansatzpunkte für eine „(Weiter-) Entwicklung von narratologischen Kategorien“, welche den Besonderheiten des Bilderbuchs gerecht werden (Staiger 2013: 67). Mit den „narratologischen Kategorien“ sind hier die Einordnungen gemeint, die Nikolajeva und Scott in How Picturebooks Work vorgenommen haben. Auch Kruse und Sabisch halten die narratologischen Kategorisierungen von Nikolajeva und Scott, aber auch die von Thiele, für ergänzungsbedürftig und nicht komplex genug (Kruse/Sabisch 15).

Thiele sowie Nikolajeva und Scott begreifen Bild- und Textinhalt zum einen als nebeneinander bzw. gemeinsam erzählend. Thiele sieht dies als lineare Erzählstruktur und benennt diese Form des Erzählens als „parallelisierend“ (Thiele 2000: 75), bei Nikolajeva und Scott wird sie als „symmetry“ bezeichnet (Nikolajeva/Scott 12). Zum anderen können Bild und Text eben nicht als gemeinsame Einheit wirken, sondern in kontrapunktischer Spannung zueinanderstehen (vlg. Thiele 2000: 75; Staiger 2013: 20). Nikolajeva und Scott wiederum ordnen dem Text eines Bilderbuchs die Erzählstimme zu, den Bildern den „point of view“ (Nikolajeva/Scott 117). Diese Auffassung erscheint aber mittlerweile als überholt. Besonders zeitgenössische Bilderbücher experimentieren mit der Distanz zwischen Bild und Text, mit Leerstellen oder der Blick- und Leserichtung (Kruse/Sabisch, 7). Auch Staiger ist der Meinung, dass diese Einteilung zu kurz greife; bei der Erzählinstanz in einem Bilderbuch sollte unterschieden werden zwischen einer „bildlichen Erzählinstanz“ und einer „verbalsprachlichen Erzählinstanz“, denen jedoch keine generellen und allgemeingültigen Funktionen zugeordnet werden können, wie es bei Nikolajeva und Scott der Fall ist (Staiger 2014: 16). Wird zum Beispiel im Text aus der Ich-Perspektive erzählt, also durch interne Fokalisierung, findet sich im Bild meist eine externe oder eine Nullfokalisierung.20

Für die Analyse der Bilder im Bilderbuch können Dramen- und Filmtheorien weitere ergiebige Impulse liefern (Thiele 2000: 48). Besonders die Montage im Film, aber auch filmische Darstellungen von Raum und Zeit bieten sich dafür an, denn Bilderbücher erzählen [...] in visuellen Raum- und Zeitsprüngen, im Wechsel der Orte und Tempi; sie verdichten, dehnen oder trennen zeitliche Prozesse; sie erschließen Handlungsräume und legen räumliche Spuren über Entfernungen (Thiele 2000: 48).

Bereits zwischen Bild und Text können sich in manchen Bilderbüchern Differenzen ergeben, wenn der Text den Leser zum Umblättern auffordert, während die Bilder zum Innehalten und ausgiebigen Betrachten anregen (Nikolajeva/Scott 160).

Bilderbücher geben Informationen an den Rezipienten weiter in „einer Kombination aus bildlichen und verbalen Codes, die in Abhängigkeit und Wechselwirkung zueinander stehen“ (Staiger 2014: 12, Kursivsetzung im Text). Somit begreift Staiger das Bilderbuch als „multimodalen Text“21, in dem zwei verschiedene Zeichensysteme verknüpft werden und durch ihre Wechselwirkung aufeinander auch Form und Funktion verändern (Staiger 2014: 12). Staiger teilt das Bilderbuch als Erzählmedium in fünf Dimensionen ein: Eine narrative Dimension, bei der er sich mit den Kategorien „histoire“ und „discours“ eindeutig auf Genette bezieht, welche für Bild und Text gelten; eine bildliche Dimension, welche alle Aspekte der visuellen Gestaltung mit einbezieht; eine verbale Dimension, die alle Parameter der sprachlichen Gestaltung umfasst; eine intermodale Dimension, die auf das wechselseitige Verhältnis von Bild und Schrifttext eingeht; sowie eine paratextuelle/ materielle Dimension, welche auf die Bestandteile des Bilderbuchs eingeht, die den eigentlichen Text umschließen. Da diese Dimensionen innerhalb eines Bilderbuchs untrennbar sind, sollten sie es auch für dessen Analyse sein (Staiger 2014: 13). Diese Auffassung soll auch für den Analyseteil der vorliegenden Arbeit gelten.

Der Leser eines Bilderbuchs „pendelt“ zwischen Bild und Text, eine genaue Leserichtung ist hier nicht vorgegeben (Staiger 2014: 13). Besonders wichtig ist es also, das Zusammenwirken von Bild und Schrifttext beim Aufbau einer erzählten Welt zu beschreiben (Staiger 2014: 15). Oetken schreibt: „Da Bild und Text nie deckungsgleich erzählen, bietet sich hier viel Spielraum für spannungsvolles Erzählen“ (Oetken 2014: 28). So können Bilderbücher mehrperspektivisch erzählen: In diesem Fall zeigen Bild und Text unterschiedliche Geschichten bzw. unterschiedliche Sichtweisen des Erzählten auf, woraus sich die kontrapunktische Spannung ergibt, auf die auch Thiele und Nikolajeva/Scott bereits hinweisen (Dichtl 21).

Bild und Text können jedoch auch abwechselnd die dominante Erzählebene einnehmen, indem monoszenische Bilder dem Handlungsverlauf vorausgreifen oder längere Textpassagen Informationen liefern, welche die Bilder ergänzen. Dadurch entsteht eine Ungleichzeitigkeit und eine Wechselwirkung beider Erzählebenen, in deren Spannungsverhältnis der Leser die Narration selbst konstruieren kann (Dichtl 21f.).

Weiterhin kann es eine Verschachtelung von Bildern geben oder über Seiten hinweg ohne Text in Bildfolgen erzählt werden, was den Leser zu selbstständiger Assoziationsbildung anregen kann. Es ergeben sich Leerstellen22 in der Narration, die der Leser mit Bedeutung füllen muss (Dichtl 63).

Auch die Typographie kann in einem Bilderbuch als Element zur Konstruktion von Sinn eingesetzt werden (Dichtl 22). Bilder hingegen lassen sich nicht lesen wie ein Text. Sie machen vielmehr visuell kodierte Angebote und fordern vom Betrachter eine aktive Auseinandersetzung (Uhlig, zitiert nach Dichtl: 63). Sie entziehen sich einer abschließenden Interpretation und können durch verschiedene Lesarten auch unterschiedlich interpretiert werden (Dichtl 59). Symbolsysteme für Interpretationsmöglichkeiten können dabei Bildinhalt, die sprachliche Aussage, Farben oder das Illustrationsverfahren bzw. der Strichduktus sein (Dichtl 22). Kirsten Winderlich vertritt sogar die Auffassung, dass Bilder „heute keine der Geschichte primär dienende Funktion“ haben (Winderlich 279). Sie bilden einen ästhetischen Erfahrungsraum im Spiel zwischen literarischen, bildlichen und medialen Elementen (Dichtl 23).

Im zeitgenössischen Bilderbuch erzählen also verschiedene Symbolsysteme in unterschiedlichen dramaturgischen Konzepten, wobei sie in ihrer Form quasi unbegrenzt sind (Dichtl 23). Thiele bezeichnet solche über bisher bekannte Normgrenzen des Bilderbuchs hinausgehende Titel als „ästhetische Entgrenzungen“23. Eva-Maria Dichtl wählt die Unterscheidung in „konventionell gestaltete“ und „ästhetisch komplexe“ Bilderbücher (Dichtl 37). Als konventionell gestaltete Bilderbücher versteht sie dabei „[wirklichkeitsnahe Darstellungen mit Verweisen auf das Kindchenschema24 “, „narrative Bildinhalte“, und „parallelisierende[s] Erzählen in eindeutigen Bild-Text-Bezügen“ (Dichtl 37). Die sprachliche Gestaltung ist hier von der Bildkomposition klar abgetrennt. Es liegt ein geschlossenes Erzählkonzept mit klassischer Dramaturgie vor und häufig agieren Tiere als Protagonisten (Dichtl 37). Ein ästhetisch komplexes Bilderbuch verfügt, ihrer Einordnung nach, über eine vielfältige Gestaltungs- und Erzählweise, Offenheit, Unabschließbarkeit und interpretatorische Freiräume (Dichtl 37). Bild und Text erzählen in diesen Bilderbüchern nie deckungsgleich (Dichtl 64). Auf diese Eingrenzung fußend stellt Dichtl die These auf, dass aktuelle Bilderbücher „zentrifugale Tendenzen zwischen konventionell klassischen und ästhetisch komplexen Bilderbüchern aufweisen“ (Dichtl 37). Es wird also in der vorliegenden Arbeit zu klären sein, ob und wie sich die zur Analyse ausgewählten Bilderbücher in diese Zuschreibungsmuster einordnen lassen.

2.3 Das „problemorientierte“, „anspruchsvolle“ und „fragwürdige“ Bilderbuch

Die drei für diese Arbeit ausgewählten Titel beschäftigen sich innerhalb eines Kontextes der Flucht mit im Bilderbuch lange tabuisierten Themen wie Tod und Gewalt. Dies charakterisiert sie nach Janet Evans‘ Auslegung als „controversial and challenging“, da sie einen kindlichen Leser stark fordern würden (Evans 4ff.). Evans stellt in ihrer Anthologie Challenging and Controversial Picturebooks die Frage, an wen sich solche Bilderbücher überhaupt richteten, die kontroverse Themen zum Gegenstand haben25 (Evans 4). Oft handle es sich bei diesen Bilderbüchern um sehr kunstvoll gestaltete, hochwertig ausgestattete Titel, die den Leser auch durch einen unerwarteten Illustrationsstil herausforderten (Evans 4). Zudem seien es meist die Erwachsenen, die solche anspruchsvollen und kontroversen Bilderbücher als nicht geeignet für Kinder ansehen würden, da sie selbst Schwierigkeiten hätten, mit dem Dargestellten umzugehen. Auf die kindlichen Leser müsse dies nicht einmal zutreffen, da sie auch im Alltag oft mit herausfordernden Erlebnissen, wie dem Tod eines Familienmitglieds, Scheidung oder Gewalt, konfrontiert würden (Evans 5). Es sei wichtig, solche Bilderbücher dem kindlichen Leser nicht vorzuenthalten, sondern vielmehr gemeinsam zu lesen und nach der Lektüre in einen gemeinsamen Dialog zwischen Kind und Erwachsenem zu treten (Evans 7).

Tanja Leuthe betitelt im Blog der Internationalen Jugendbibliothek einen Artikel mit „Lust auf Überwältigung“ und resümiert, dass „ästhetisch anspruchsvolle Bilderbücher“ und die Beschäftigung mit Tabuthemen für die Leseförderung sehr ertragreich sein können, da „Leidenschaft für das Lesen und die Literatur [...] auch durch eine Überwältigung wie durch die Schönheit und Andersartigkeit von Sprache und Bildern geweckt werden [kann]“ (Leuthe 1). Somit fällt Bilderbüchern, die sich mit dem Thema Flucht beschäftigen, im aktuellen Gesellschaftsdiskurs große Bedeutung zu: Viele Kinder werden heutzutage ein Kind in ihrer Kindergartengruppe oder Schulklasse haben, das seine Heimat aufgrund von Krieg und Verfolgung verlassen musste. Umso wichtiger scheint es, darüber zu lesen und mit den Erwachsenen im eigenen Umfeld in den Dialog zu treten, wie es auch Perry Nodelman und Mavis Reimer fordern (Nodelman/Reimer 102f.).

Der Begriff „Kinder- und Jugendliteratur“ beschreibt neben einer „Literatur für Kinder und Jugendliche“ auch „Literatur von Kindern und Jugendlichen“ (Kümmerling-Meibauer 2012: 9). Bettina Kümmerling-Meibauer definiert Kinder- und Jugendliteratur als Oberbegriff für die gesamte für noch nicht erwachsene Rezipienten bestimmte Produktion von (literarischen) Werken [...], die in der Regel von Erwachsenen verfasst werden und Kindern entweder mündlich vorgetragen oder vorgelesen oder von Kindern und Jugendlichen selbst gelesen werden. Ihr Spektrum umfasst alle Gattungen und fast alle Genres, die auch in der Literatur für Erwachsene anzutreffen sind (Kümmerling-Meibauer 2012: 9).

Demnach ist jede als „Kinderliteratur“ bezeichnete und explizit für die Zielgruppe der Kinder produzierte Literatur auch Literatur für Kinder. Das Bilderbuch sieht Kümmerling-Meibauer als „ein genuin kinderliterarisches Genre“, welches sie in Bezug zu Künstlerbuch und Graphic Novel stellt (Kümmerling-Meibauer 2012: 9). Dieser Auffassung lässt sich jedoch widersprechen, denn immer mehr Bilderbuchpublikationen lassen sich heutzutage der sogenannten „Crossover-“ oder „All Age Literatur“ zuordnen und weisen häufig eine Mehrfachadressierung auf.26 Sie rücken häufig zur ausschließlich eigenen Lektüre auch in den Interessenfokus von erwachsenen Lesern und richten sich nicht mehr nur an sehr junge Leser. In Crossover Picturebooks: A Genre for all Ages geht Sandra L. Beckett diesem Phänomen spezifisch für das Bilderbuch auf den Grund und zeigt auf, welche Publikationen vor allem auch an eine erwachsene Zielgruppe gerichtet sind.

Besonders in Skandinavien zeichnen sich Bilderbücher speziell für Erwachsene als ein neuer Trend ab, die einen kindlichen Adressaten von vornherein nicht mehr in ihre Konzeption mit einbeziehen (Evans 9). Âse Marie Ommundsen teilt solche anspruchsvollen Bilderbücher in drei Gruppen ein: Bilderbücher, die einen naiven, kindlichen Schreib- und Zeichenstil vorweisen, solche Bilderbücher, die komplexe Erzählstrukturen aufweisen, und Bilderbücher, die sich mit existenziellen Fragen beschäftigen oder sich mit schwierigen Themen wie Krieg oder Kindesmissbrauch auseinandersetzen (Ommundsen 2015: 73f.). Ein Buch kann jedoch Merkmale jeder Gruppe aufweisen und muss nicht in eine der drei eingeordnet werden.

Generell ist ein Bilderbuch nicht nur an einen kindlichen Adressaten gerichtet, da bei der Lektüre meist ein Erwachsener die Rolle des Vermittlers übernimmt. Ist der Erwachsene lediglich als Vermittler bzw. Mitleser tätig, kann jedoch noch nicht von einer mehrfachadressierten Kinderliteratur gesprochen werden (Ewers 57). Kinder- und Jugendliteratur kann erst dann als „mehrfach adressierte Literatur“ bezeichnet werden, wenn der Erwachsene nicht nur als Vermittler, sondern auch als Leser fungiert und als eigenständiger Adressat auf einer gesonderten Bedeutungsebene neben der des Kindes angesprochen wird (Ewers 58).

Da Bilderbücher traditionell als Familienbücher gelten, liegt eine Mehrfachadressierung nahe (Dichtl 39). Zeitgenössische Bilderbücher weisen auf eine „Vielfalt textimmanenter Adressatenentwürfe“ hin, die „entsprechend vielfältige Rezeptionsweisen und Rezeptionskontexte“ zulassen (Weinkauff 282). Diese Auffassung einer hohen Komplexität spiegelt sich in den meisten aktuellen Forschungsbeiträgen wider.27

Blei-Hoch macht deutlich, dass besonders die Offenheit und Mehrdeutigkeit von erzähldramaturgischen Ansätzen in zeitgenössischen Bilderbüchern ein Erlebnispotential ermöglichten, das Alters- und Bildungsgrenzen überschreite (Blei-Hoch 2007: 17). Bilderbücher, die auf allen Ebenen eine hohe Komplexität aufwiesen, stellten vermutlich eine weitaus größere Herausforderung für die erwachsenen Vermittler als für die kindliche Rezipientengruppe dar (Blei-Hoch 2007: 16). Auch Evans schließt eher an erwachsene Leser adressierte Bilderbücher nicht als Lektüre für Kinder aus. Bilderbücher, die sich mit solch komplexen Themen wie Gewalt, Tod und, wie in der vorliegenden Arbeit, mit Flucht auseinandersetzen, weisen so gut wie immer eine Mehrfachadressierung auf: „It is increasingly evident that these and many other such picturebooks are crossover picturebooks aimed at both children and adults“ (Evans 15). Sie deutet darauf hin, dass die schwierigen Themen, die diese Bücher behandeln, schon bei den Gebrüdern Grimm oder in der griechischen Mythologie auftraten und sogar abgebildet wurden28 (Evans 13). Es seien hauptsächlich die Illustrationen, nicht so sehr der Text, die ein Bilderbuch als ungeeignet für Kinder erscheinen lassen, z. B. durch eine explizite oder sehr düstere bildliche Darstellung (Evans 11f.). Dabei muss es sich nicht zwingend um angsteinflößende Illustrationen handeln, ein abstrakter Zeichenstil kann für den Leser ebenfalls eine Herausforderung darstellen (Evans 18f.). Unter Anleitung seien solche Titel durchaus für ältere Kinder zugänglich (Evans 14). Der Umgang mit Humor in einem Bilderbuch kann ein weiteres Unterscheidungskriterium zwischen kindlichem und Erwachsenem Rezipienten darstellen.

Bei einem mehrfach adressierten Bilderbuch gilt es also herauszufinden, an wen sich welche Botschaft richtet. Was sagen Bilder und Texte einem Kind, was dem Erwachsenen? Wird für Kinder erzählt, ist das „Moment des Ungewöhnlichen, Außeralltäglichen“ unabdingbar (Thiele 41). Das Kind nimmt das Buch während der Rezeption wesentlich performativer wahr als ein Erwachsener. Das Vorlesen ließe sich somit als theatrale Vorstellung verstehen. Auf textueller oder bildlicher Ebene können sich Hinweise finden, die nur dem erwachsenen Leser zugänglich sind. Das Zusammenwirken von Bild und Text offeriert dem Erwachsenen eine Botschaft, die dem Kind aufgrund geringeren Vorwissens oder einem noch nicht ausreichenden Verständnis im Umgang mit z. B. Ironie verborgen bleibt. Ein kindlicher Leser, auch wenn er schon selbst liest, verfügt vermutlich nicht über das Vorwissen zu den Themen Flucht und Vertreibung wie ein erwachsener Leser. Kinder lernen diese Konflikte also erst über das Buch kennen, die erwachsenen Rezipienten hingegen lesen eine weitere von vielen Verarbeitungen. Im folgenden Kapitel wird skizziert, welcher Tradition oben genannte, lange tabuisierte Themen im zeitgenössischen Bilderbuch unterliegen.

2.4 „Taboo topics in picturebooks“

Umgang mit tabuisierten Themen im Bilderbuch In ihrem Aufsatz über das Bilderbuch im neuen Jahrtausend schreibt Bettina Kümmerling- Meibauer: „Another significant aspect is the inclusion of taboo topics in picturebooks, such as war, death [...]“ (Kümmerling-Meibauer 2015: 250). Im zeitgenössischen Bilderbuch gibt es scheinbar keine Tabuthemen mehr. Veröffentlichungen zu Aspekten wie Pädophilie, Vergewaltigung, Krankheit, Tod (auch der Tod von Kindern), Folter, Krieg und Verfolgung tauchen vermehrt auf.29 Stoffe, die für sehr junge Kinder „als nicht oder schwer vermittelbar gelten“ (Thiele 2007b: 8). Wieso finden gerade in den letzten Jahren solche komplexen Sujets Eingang in das Bilderbuch? Bietet es eventuell, im Vergleich zu den audiovisuellen Medien, durch seine spezielle Konzeption eine geeignetere Darstellungsform dafür? Thiele weist in diesem Zusammenhang auf die „stehenden Bilder“, eine selbst zu bestimmende Blickdauer und das dialogische Bild-Text-Verhältnis hin (Thiele 2007b: 8). Mareile Oetken ist in Bezug auf Wolf Erlbruchs Bilderbuch Ente, Tod und Tulpe (2007) der Meinung, dass es durch eine sich in der „Künstlichkeit der Bildräume“ und einem szenischen Charakter ergebende „Abstraktion und Reduktion“ und der daraus entstehenden Distanz möglich wird, hier ganz selbstverständlich über das Sterben zu erzählen (Oetken 2014: 27). Sie stellt fest: „Im aktuellen Bilderbuch werden alle Möglichkeiten des Erzählens in Bild und Text ausgeschöpft, selbst Erzählstrategien und Themen des Adoleszenzromans haben inzwischen Einzug in das Bilderbuch gehalten“ (Oetken 2014: 24). Im Folgenden sollen deshalb Parallelen zwischen dem erzählenden Kinder- und Jugendbuch und dem Bilderbuch herausgestellt werden um aufzuzeigen, wie die narrativen Strukturen vor allem „problemorientierter“ Kinderromane auch auf das Erzählen in anspruchsvollen Bilderbüchern angewendet werden können.

Bereits im 19. Jahrhundert gab es einige wenige Bilderbuchtitel, die Themen wie Gewalt oder Ausgrenzung von Kindern behandelten. Die bis heute bekanntesten sind vermutlich Max und Moritz von Wilhelm Busch oder Der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann. Hier wurde die thematisierte Gewalt meist verdeckt oder fantastisch überhöht dargestellt (Schulz 56). Jedoch blieben solche Umsetzungen in der Unterzahl, da das Bilderbuch hauptsächlich als „Schutzraum“ für Kinder aufgefasst und dementsprechend gestaltet wurde (Schulz 56). Erst ab den 1970er Jahren wurde in der erzählenden Kinderliteratur vermehrt „die Krise eines Einzelnen in Bezug auf seine Umwelt oder die Innenwelt einer Person, v.a. des Kindes, in seiner Bedrohung und Gefährdung zum Gegenstand“ (Kaminski, zitiert nach Schulz: 56). Die Entstehung einer „problemorientierten“30 Kinderliteratur war eine Reaktion auf ein neues Kindheits- und Generationenkonzept, welches sich seit 1968 etablierte (Gansel 111). Eines ihrer Charakteristika ist die „Ent-Tabuisierung“ (Dahrendorf, zitiert nach Gansel: 111). Darunter fallen unter anderem Themen wie Krieg, Tod und Unterdrückung, aber auch Arbeitslosigkeit, Liebe, Sexualität, Behinderung oder Faschismus (Gansel 111). Die KJL weitete sich zu dieser Zeit stofflich und thematisch (Gansel 111). Es wurden vermehrt „normale“ Alltagswelten dargestellt und von einem gleichberechtigten Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern ausgegangen (Gansel 111). Der kindliche Rezipient soll einen kritischen Blick auf die Gesellschaft entwickeln und sie hinterfragen und durchschauen können (Gansel 112). „Problemorientierte“ Kinderromane behandeln oft ein „Du-Thema“, zeigen aber trotzdem das Innenleben des Protagonisten (Gansel 114). Häufig wird die Geschichte durch einen auktorialen Erzähler kontrolliert (Gansel 120). Es gibt im Gegensatz zur traditionellen Kinder- und Jugendliteratur keinen optimistischen Ausblick, sondern ein offenes Ende (Gansel 115). Für das Bilderbuch tritt dieser Wandel erst, wie in Kapitel 2.1 erwähnt, in den 1990er Jahren auf. Typisch für heutige „problemorientierte“ Bilderbücher ist laut Gudrun Schulz unter anderem „eine enge Verbindung zwischen Erzählgestus und künstlerischer Gestaltung der Problemdarstellung und dem Aufzeigen von Lösungsmöglichkeiten, die den Rezipienten direkt einbeziehen“ (Schulz 57). Besonders häufig würden „Menschenprobleme“ in „Tiergestalt“ erzählt werden (Schulz 58f.). Hier liegt natürlich die Fabel als Erzählform nahe, jedoch können Tiere zum Beispiel auch die Funktion des Erzählers einnehmen und zu einem „Aufklärer“ werden (Schulz 58f.). Dies ist der Fall in Glattauers und Hochleitners Bilderbuch Flucht, in dem die Katze E.T. zum Erzähler wird. Dieser Einsatz einer tierischen Erzählerfigur soll in Kapitel 3 genauer betrachtet werden.

Hans-Heino Ewers schreibt: „Die problemorientierte Jugendliteratur ist nicht nur thematisch oder pädagogisch ausgerichtet: Sie kann den Jugendlichen auch die Erfahrung von Grenzsituationen ermöglichen“ (Ewers, zitiert nach Grenz 2010: 9). Diese Auffassung lässt sich auch auf das Bilderbuch übertragen. Gerade durch die im zeitgenössischen Bilderbuch stattfindende Enttabuisierung und die Vielfalt der Gestaltungs- und Erscheinungsformen wird das Medium zum Konfrontationsmedium für den Rezipienten. Kruse und Sabisch schreiben hierzu:

Als Gegenstand, der zum Befragen einlädt und herausfordert, provoziert das zeitgenössische Bilderbuch [...] durchaus [...] Assoziationen, wie ,verdächtig‘ und ,zweifelhaft‘ oder gar ,dubios‘ und ,suspekt‘. Statt auf ein ,Wesen‘ des Bilderbuchs verweisen diese Zuschreibungen auf den gegenwärtig erfahrbaren Grad an Neuheit und damit einhergehender Verunsicherung, der nicht allein durch veränderte Bild-Sprache-Variationen erklärbar ist (Kruse/Sabisch 7).

Eine mögliche weitere Erklärung ließe sich in Bezug zum modernen Kinderroman und die dort festzustellende Veränderung in der Ausrichtung der Erzählung herstellen. Im modernen Kinderroman liegt der Wertungsstandort meist im kindlichen bzw. jugendlichen Protagonisten. Dieser Wertungsstandort wird in seiner Sicht nicht angefochten, auch wenn er aus Sicht der Erwachsenen oder der Gesellschaft als falsch erscheint (Gansel 107). Eine Folge dieser antiautoritären Darstellung ist, dass es auf der Darstellungsebene keine genauen Lösungsangebote mehr gibt. Dies wird häufig kritisiert, da solche Kinderliteratur nur noch schwer als Sozialisationsinstrument eingesetzt werden kann (Gansel 107). Der Begriff „moderner Kinderroman“ bezieht sich laut Carsten Gansel auf die veränderten Strukturen im Kinderroman, die sich auf den Ebenen von „histoire“ und „discourse“ vollzogen haben (Gansel 108). Er schreibt: „Wo (aktuelle) Wirklichkeitserkundung das Ziel ist, bekommt anstelle der pragmatischen Relation4, also der Beziehung Werk - Rezipient [...], die ,mimetische Relation4, also die Beziehung Werk - Realität größeres Gewicht“ (Gansel 108). Hieran ließe sich der Standpunkt von Evans und Nagy anschließen, demnach die Darstellung von komplexen Themen im Bilderbuch wie z. B. von Flucht eben nicht kindgerecht sein muss, sondern es eher von Bedeutung ist, solche Themen und damit auch solche Realitäten überhaupt darzustellen. Indem im Bilderbuch ein Bezug zu den Sorgen und Herausforderungen der kindlichen Leser hergestellt wird, kann es ihnen auch Lösungsansätze bieten (Evans 6).

Für das „anspruchsvolle Bilderbuch“ lassen sich neben den Bezügen zum „problemorientierten“ und modernen Kinder- und Jugendroman ebenfalls Parallelen zum psychologischen Kinderroman finden. Dieser ist seit 2000 immer häufiger in den Verlagsprogrammen zu finden (Gansel 124). Ihm zugrunde liegt die Erfassung vielfältiger aktueller Probleme wie Krieg, Migration, Asyl und Ausweisung, Fremdheit, Heimat und Heimatverlust oder Neuorientierung in einem fremden Land (Gansel 125). Eine Variante des modernen psychologischen Kinderromans, die auch in Fluchterzählungen im Bilderbuchformat wiederzufinden sind, ist der Tagebuchroman, welcher für die Kinder- und Jugendliteratur einen Zuwachs an Modernität darstellt: Hier begegnet der Leser der subjektiv begrenzten Sicht eines kindlichen Protagonisten, die nicht durch erwachsene Instanzen korrigiert wird, was ein Höchstmaß an Authentizität bietet (Gansel 125). Der Leser wird zu starker Identifikation angeregt. Gibt es im Text keinen Austauschpartner, muss der Leser die Leerstellen füllen (Gansel 126). Häufig werden in der Kinder- und Jugendliteratur auch Möglichkeiten der komischen Darstellung eingesetzt, wenn es darum geht, „existenzielle Krisensituationen“ darzustellen, wie zum Beispiel die Themen Sterben und Tod (Gansel 109).

Durch den Einsatz eines Ich-Erzählers verlagert sich der Schwerpunkt auf die Darstellung der Innenwelt des Protagonisten (Gansel 118). Die Verarbeitung der äußeren Wirklichkeit steht im Zentrum (Gansel 119). Es entsteht also ein weiterer Blickwinkel als im „problemorientierten“ Kinderroman, da der Ich-Erzähler selbst zu Wort kommt, in Form von Bewusstseinsbericht, erlebter Rede, innerem Monolog oder Bewusstseinsstrom. Es findet kein Eingreifen eines auktorialen Erzählers statt, was die Aufgabe eines festen Erzählerstandpunktes zur Folge hat (Gansel 119). Oft liegt auch ein Einsetzen des Textes in medias res vor (Gansel 122). Hierdurch wird der Schwierigkeitsgrad der Texte erhöht und Leerstellen und neuen Lesarten geöffnet, was die Texte auch für erwachsenes Lesepublikum attraktiv macht (Gansel 119). Dies würde auch das große Interesse erwachsener Rezipienten am zeitgenössischen Bilderbuch erklären.

3. Fluchtdarstellungen im Bilderbuch der Gegenwart

Wie wird nun das komplexe Thema Flucht in den drei ausgewählten Bilderbüchern umgesetzt? Die folgende Analyse konzentriert sich bei der Beantwortung dieser Frage auf die Erzählstruktur der Bilderbücher, ihre Bildsprache und die Interdependenzen zwischen Text und Bild. Stützen wird sich die Analyse, wie bereits erwähnt, auf die Ansätze von Thiele, Nikolajeva und Scott sowie auf das Analysemodell von Michael Staiger, um diesen strukturellen Ansatz auf seine Anwendbarkeit im Bilderbuch hin zu überprüfen.

In den drei ausgewählten Titeln sind es jeweils Kinder, die sich mit ihrer Familie auf die Flucht begeben. Die Konstellationen sind dabei unterschiedlich. In The Journey begibt sich eine Mutter nach dem Tod ihres Mannes mit den beiden Kindern auf den Weg in ein anderes Land. Den Illustrationen nach handelt es sich bei den Kindern um einen Jungen und ein Mädchen, sie sind wie ihre Mutter namenlos. In Flucht macht sich eine vierköpfige Familie, bestehend aus Vater, Mutter und den Kindern Daniel und Suzie, samt der Katze E.T. auf die gefährliche Reise über das Meer. Home and Away hingegen erzählt von der Flucht einer australischen Familie, die aus den Eltern, einer Großmutter, und den drei Kindern Toby (5), Claire (11) und der namenlosen Ich-Erzählerin (15) besteht. In diesem Fall werden nur die Kinder die Flucht überleben, jedoch nicht unbeschadet.

Hier werden bereits Aspekte deutlich, die sich durch alle drei Bilderbücher ziehen und daher im Analyseteil Beachtung finden sollen. Nach der Analyse der Erzählstruktur der einzelnen Titel soll auf die Topographie des jeweiligen Fluchtweges eingegangen werden, bei dem das Meer eine zentrale Rolle spielt. Alle drei Familien müssen mit einem Boot über das Wasser fliehen, um an ihr Ziel zu gelangen. Dabei ist die Gewichtung, die dieser Überfahrt zufällt, jeweils unterschiedlich. Weiterhin wurde bereits deutlich, dass auch der Umgang mit Gewalt, Tod und Verlust Teil der Bilderbücher ist. Hierauf soll in einem zweiten Kapitel genauer eingegangen werden. Mit dem Verlassen der Heimat geht auch die Vorstellung einer neuen Heimat im Zielland, einem angeblich schönen und sicheren Land, einher. Es soll daher näher betrachtet werden, was jeweils als das „Eigene“ bzw. das „Fremde“ angesehen wird. Hier wird ebenfalls die Bedeutung von Familie wichtig sein. Schließlich soll erörtert werden, ob das Erzählen in den Büchern den Figuren als ein Mittel zur Rettung dienen kann.

3.1 Wie wird über Flucht erzählt? Bild, Text und ihre Interdependenzen

Die Erzählperspektive ist laut Nikolajeva und Scott ein „extremely interesting dilemma in picturebooks, which once again has to do with the difference between visual and verbal communication“ (Nikolajeva/Scott 117). Sie stellen fest, dass immer mehr Bilderbücher eine intradiegetische und homodiegetische Fokalisierung vorweisen (Nikolajeva/Scott 119). Martinez schreibt, dass unter anderem in der Migrationsliteratur und im Generationenroman die Darstellung sozialer Gruppen häufig „entweder aus einer Innenperspektive oder aus der Distanz eines neutralen Erzählers“ erfolgt (Martinez 96). Dies trifft auch auf die drei für diese Arbeit ausgewählten Fluchtdarstellungen zu. In Francesca Sannas Bilderbuch The Journey begegnet der Leser zwar einem Ich-Erzähler, der eines der beiden in den Illustrationen dargestellten Kinder sein muss. Jedoch wird im Text nie deutlich, welches der Geschwister erzählt, was in diesem Fall eine Distanziertheit des Lesers zum Erzähler schafft. Auch wird das „Ich“ nur auf wenigen Seiten direkt erwähnt, hauptsächlich wird die Geschichte der Familie in der Wir-Form erzählt. Eine „Wir-Erzählung“ konstruiert die Erzählinstanz als Kollektiv, wodurch die Selbst-Narration einer Gruppe wiedergegeben werden kann (Martinez 96 f.). Das Wir-Gefühl sieht Martinez als „herausragendes gruppenkonstitutives Moment“ (Martinez 96). Trotzdem muss die Erzählung mit den Gedanken und Gefühlen eines Individuums verknüpft sein, damit sie glaubwürdig erscheint (Martinez 97). Diese Verknüpfung zeigt sich in Sannas Buch sehr deutlich. In The Journey geht es also um eine kollektive, in diesem Fall familiäre, Erinnerung an Flucht. Text und Bild liefern keine spezifische Verortung der Ereignisse, sie können jederzeit und an jedem Ort jeder Familie zustoßen bzw. zugestoßen sein. Erzählt wird in wenigen, kurzen Sätzen, manchmal nur ein Satz pro Seite. An diesen sehr knappen Textstellen wird die erzählte Zeit gerafft, die Eile des Aufbruchs der Familie deutlich. Erst, als sich die Flüchtlinge auf dem Boot befinden, scheint es wieder genug Sicherheit und Zeit zum Erzählen zu geben und die Texte auf den einzelnen Seiten werden länger.

In der Bilderzählung liegt eine Nullfokalisierung vor. Der Leser ist auf Augenhöhe mit dem Geschehen und weiß nicht mehr oder weniger als die Figuren der Geschichte. Ist das Bild in der Totalen dargestellt, kann er jedoch weiter sehen als die Figuren. Auffällig ist, dass die Figuren den Blick häufig nach oben richten. Dies vermittelt Hoffnung, vor allem, wenn sie in den Himmel schauen, was besonders am Ende des Buches der Fall ist. Dadurch gestaltet Sanna das offene Ende ihres Buches als ein hoffnungsvolles. Die Mutter hat ihr Ziel gemeinsam mit ihren beiden Kindern fast erreicht. An der Konstellation, welche den Fluchtweg begonnen hat, hat sich nichts geändert, im Gegensatz zu der Ankunftssituation in Home and Away und vermutlich auch in Flucht. Die abschließende Ausgestaltung des Endes von The Journey ist jedoch dem Leser überlassen. Während der Flucht ist der nach oben gerichtete Blick ein Zeichen der Angst und der Unterdrückung, was auch durch die Größenverhältnisse der Figuren auf diesen Seiten deutlich wird.31 Die flüchtende Familie ist im Vergleich zu Gepäckbergen, Vegetation und Widersachern winzig abgebildet. Schon auf dem Vorsatzpapier, welches in The Journey als Paratext fungiert, wird auf eine Fluchtsituation angespielt. In diesem Bilderbuch hat der Vorsatz die Funktion, eine Szenerie zu erschaffen (Nikolajeva/Scott 247). Das vordere Vorsatzpapier zeigt eine weiß gestrichelt eingezeichnete Route, auf der verschiedene Mittel der Fortbewegung genutzt werden (Auto, Lastwagen, Fahrrad, Boot); sie führt durch den Wald, über eine Mauer mit Stacheldraht, bis hin zu einem Gewässer, wahrscheinlich das Meer. Die flüchtende Frau wird dabei von Vögeln begleitet und verfolgt von einem riesenhaften, rotbärtigen Mann, der sich im Verlauf des Buches als bösartiger Grenzer herausstellen wird. In den meisten Bilderbüchern sind vorderes und hinteres Vorsatzpapier identisch (Nikolajeva/Scott 249). Unterscheiden sie sich, werden dadurch die Veränderungen hervorgehoben, die im Buch stattgefunden haben (Nikolajeva/Scott 249). Der Vorsatz fungiert in diesem Fall wie eine Klammer, stellvertretend für den Inhalt der Geschichte. In The Journey bildet das hintere Vorsatzpapier die Ankunft auf der anderen Seite des Wassers ab, von wo die Reise mit dem Zug bis in die Berge fortgesetzt wird. Sanna zeigt hier bereits die Etappen der Geschichte, die der Leser noch lesen wird bzw. gelesen haben wird. Jedoch ist auf dem Vorsatzpapier nur eine Frau zu sehen, die beiden Kinder kommen erst in der Geschichte hinzu.

Das Titelbild ist angelegt wie eine Collage, wie ein Wimmelbild mit allen Figuren und Gefahren der erzählten Geschichte. Auch die Etappen der Reise werden hier halbkreisförmig, wie in einem visuellen Spannungsbogen und durch Figuren und Landschaft wiedergegeben, ebenso wie sich die Vogelmetapher vom Ende des Buches hier wiederfinden lässt.

Die Bilder in The Journey ergänzen den Text, sie konterkarieren ihn nur ein einziges Mal. An dieser Stelle gibt der Text die Ansicht der Kinder wieder, die der Meinung sind, dass ihre Mutter niemals Angst hat (Sanna 25). Doch das Bild zeigt genau das Gegenteil, nämlich eine weinende Mutter, die ihre schlafenden Kinder im Arm hält. Hier wird die Sicht des Kindes gegen die Sicht des Erwachsenen gestellt. Aus der so entstehenden kontrapunktischen Spannung ergibt sich erst die Schwere der Situation.

Die weiteren Bilder in The Journey bilden eine ausgestaltete, fantastische Erweiterung des Geschriebenen, verdeutlichen Imagination und Emotion der Protagonisten. Die Bildperspektiven wechseln von der Totalen bis hin zur Darstellung aus der Froschperspektive. An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen verschiedenen Genres deutlich. Im Text wird eine realistische Geschichte in einer realistischen Welt beschrieben, wohingegen die Bilder eine fantastisch anmutende Welt darstellen. Der Text fungiert objektiv, während die Bilder stark subjektiv aufgeladen sind (Nikolajeva/Scott 24). Francesca Sanna setzt eine märchenhafte Bildsprache neben einen poetischen, kurzen Text. Sie selbst erklärt:

The idea behind my choices for the colours, the layout, the elements of the story and its structure was to think about the topic of ,immigration‘ in a more emphatic way, with a focus on the personal story and the human dimension rather than on numbers and statistics (Picturebook Makers 1).

Sanna arbeitet viel mit Pastellfarben sowie Grün- und Blautönen, was ihre Fluchtdarstellung zunächst fröhlich und positiv erscheinen lässt und „Ruhepunkte“ innerhalb der Erzählung schafft (Nagy 7). Die dem Setting von Wald und Wasser zugeordneten Farben Grün und Blau dominieren auf denjenigen Seiten, auf denen der Familie erste Hindernisse auf ihrer Flucht begegnen. Dem dargestellten Raum wird so in The Journey viel Bedeutung zugesprochen. Dazu wird Rot als Akzentfarbe eingesetzt, welche oft mit großen schwarzen Flächen kontrastiert ist. Diese schwarzen Flächen sind eine anthropomorphe Darstellung von Tod und Krieg und schwappen wie eine unaufhaltsame dunkle Flut über und in die Bilder. Rot hingegen steht für Gefahr und Verbot (Nagy 6f.). Sannas menschliche Figuren sind scherenschnittartig und eindimensional, ihre Gesichter entsprechen mit ihren großen Augen und den unausgeprägten Zügen dem Kindchenschema. Dadurch kann die Familie in The Journey exemplarisch für viele Familien stehen, denen ein ähnliches Schicksal widerfahrt.

Marsdens und Ottleys Home and Away wird aus der Sicht einer namenlosen, 15-jährigen personalen Erzählerin im Stil von Tagebucheinträgen erzählt. Der Autor greift hier eine beliebte Erzählweise aus dem psychologischen Kinder- und Jugendroman auf. Wie im theoretischen Teil dieser Arbeit bereits erwähnt, ist die Sicht des fiktiven Tagebuchschreibers subjektiv begrenzt und wird nicht durch andere Instanzen wie z. B. Erwachsene korrigiert (Gansel 125). Dies unterscheidet Home and Away von den beiden anderen zu analysierenden Bilderbüchern, da dort neben der Perspektive der Kinder auch die Perspektive der Erwachsenen Teil der Erzählung ist. Die Geschichte in Home and Away wirkt durch die interne Fokalisierung besonders authentisch und die Distanz zwischen Leser und Gelesenem ist gering. Der Leser wird zur Identifikation mit dem autodiegetischen Erzähler angeregt. Da es keine andere Erzählstimme im Text des Buches gibt, muss der Leser die entstehenden Leerstellen mithilfe der Bilder und eigenem Vorwissen ausfüllen (Gansel 126).

Eine interne Fokalisierung im Bild ist laut Nikolajeva und Scott so gut wie nicht umsetzbar, doch Matt Ottley gelingt dies sehr eindrucksvoll (Nikolajeva/Scott 118f.). Die Ich­Erzählerin selbst ist nur selten im Bild zu sehen, wodurch die Darstellung einer internen Fokalisierung auch visuell möglich wird. Die Person, welche die Tagebucheinträge verfasst, wird so zum Beobachter (Nikolajeva/Scott 125). Der Blick des Lesers wird in den Illustrationen limitiert, weshalb es sich hier nicht um ein extradiegetisch-heterodiegetisches Erzählen im Bild handeln kann. Wie durch eine subjektive Kamera blickt der Rezipient auf einzelnen Seiten gemeinsam mit der Erzählerin auf die Szenerie.32 Der Kameraeffekt wird noch verstärkt, indem eine Fotografie oder der Akt des Fotografierens sowie ein Selbstporträt innerhalb der Illustration visualisiert werden (Marsden/Ottley 2f., 6f.).

Die Tagebucheinträge fungieren in Home and Away als intraikonischer Text und sind somit eigentlich Teil des Bildes. Verfasst werden sie zunächst am Computer. Während der Flucht wird der fehlende Zugang zu Technologie deutlich, indem die Einträge während dieser Zeit auf Notizzetteln verfasst werden, die während der Fahrt über das Meer sogar nur noch als Schnipsel vorhanden sind. Erst nach der Ankunft im neuen Land, im Gefängnis, scheinen wieder unversehrte Notizzettel zur Verfügung zu stehen. So werden auch visuell Entbehrungen und Einschränkungen der Flüchtenden deutlich.

In Home and Away findet eine Mischung unterschiedlicher Illustrationsstile statt. Abwechselnd finden sich großflächig angelegte, sehr realistische Bilder sowie Doppelseiten, die wie eine „Kinderzeichnung“33 anmuten. Mono- und pluriszenische Bilder wechseln sich ab; pluriszenisch angelegt sind vor allem die „Kinderzeichnungen“. Hinzu kommen die als graphisches Element fungierenden Notizzettel, auf denen der Erzähler seine Erlebnisse aufschreibt.

Einige Seiten sind wie Collagen angelegt. Hier sind mehrere Elemente auf einer Doppelseite platziert, überlagern sich und bilden so mehrere Erzählstränge gleichzeitig ab (Marsden/Ottley 8f.,16f.). Evans bezeichnet derartig angelegte Bilderbücher als „fusion texts“, eine neue Form des Bilderbuchs: „[T]he fusion text [...] is presenting challenging, thought provoking and sometimes controversial reading material in creative, artistic forms“ (Evans 107). Die „fusion texts“ ähneln oft dem postmodernen Bilderbuch, da sie unterschiedliche, non­lineare Lektüremöglichkeiten anbieten (Evans 108). Zudem vermischen sich hier unterschiedliche Genres wie Comic, Bilderbuch und Graphic Novel (Evans 116). Evans setzt diese Form des Bilderbuchs weiterhin in Bezug mit der Montage im Film, in der Bedeutung erzeugt wird „by violently smashing image against image, so that images juxtaposed in opposition to each other create a new dialectical meaning each image separately could never evoke“ (Hatfield und Svonkin, zitiert nach Evans: 109, Kursivsetzung im Text). Auch Home and Away zeichnet sich durch den Einsatz solcher filmischen Perspektiven und atmosphärischem Licht aus, das Oetken, wie oben beschrieben, bereits als Neuerung in den Bilderbüchern der 1990er Jahre ausmacht.

Marsden und Ottley erschaffen in Home and Away durch den Einsatz verschiedener Illustrationstechniken eine neue, herausfordernde Form des Erzählens. Die Bilder erzählen hier über den Text hinaus. Der Text, angelegt als Tagebucheinträge, steht für das individuelle Erleben, die Bilder hingegen erzählen eine kollektive Geschichte. Wie Erinnerungsfetzen, fast in der Manier eines Bewusstseinsstroms, sind Bildteile über die Seite angeordnet. Durch den Einsatz der „Kinderzeichnungen“ findet sich neben dem Tagebuchschreiber noch ein zweiter, visueller Erzähler.

Zwischen Bild und Text findet innerhalb der Erzählung eine Verschiebung der Gewichtung statt. Zu Beginn dominiert noch der Text, bis ab Seite 6/7 mit dem Beginn des Krieges die Bilder klar in den Fokus rücken. Hier wird die Sprachlosigkeit der Protagonisten quasi sichtbar. Erst auf den letzten beiden Doppelseiten steht der Text wieder im Mittelpunkt, allein vor orangefarbenem Hintergrund, welcher wie der steinige Wüstenboden anmutet, auf dem sich das Gefängnis der Kinder befindet (Marsden/Ottley 30ff). Diese Gestaltung der Seiten verstärkt durch das „Fehlen“ des Bildes die Resignation und die Hoffnungslosigkeit der Erzählerin, die auch im Text deutlich wird. Die Verzweiflung wird unmittelbar spürbar, denn es gibt in dieser Situation nichts mehr, was visuell darstellbar wäre. Jegliche Illustration würde von der Grausamkeit ablenken, die der Erzählerin widerfahren ist und sie zur Selbstaufgabe gezwungen hat.

Marsden und Ottley gehen in Home and Away kritisch mit dem Thema Flucht um. Das Buch geht dem aktuellen Fluchtdiskurs voraus. Janet Evans ordnet es dem Diskurs um die Boat People zu:

It is clear that Home and Away is set against the historical/political backdrop of the late 1970s, with the mass departure of Vietnamese boat people from Communist-controlled Vietnam following the Vietnam War (Evans 248).

Trotzdem ist die Geschichte auch heute noch aktuell und es lassen sich Parallelen ziehen zum Beispiel zu dem australischen Flüchtlingslager in Papua-Neuguinea, das Ende November 2017 von der Polizei geräumt wurde.34 Das Bilderbuch lenkt so auch kritisch den Blick auf Australiens Flüchtlingspolitik.

Das Bilderbuch Flucht hingegen ist in einem nüchternen Stil verfasst. Verena Hochleitner arbeitet wie Francesca Sanna hier ebenfalls mit einem einfachen, nach Ommundson naiven, Zeichenstil: Die Gesichter der Menschen gleichen einander, sie unterscheiden sich nur durch ihre Kleidung oder die Frisur. Gezeichnet sind sie mit Blei- und Buntstiften, was auch hier die Bilder als „Kinderzeichnungen“ erscheinen lässt. Lediglich große Flächen wie das Meer sind mit Tusche auf das Papier gebracht. Der Text ist in Blöcken angeordnet, manchmal ins Bild integriert, meist aber steht er klar abgegrenzt daneben, was den dokumentarischen Stil des Buches unterstreicht. Häufig werden bekannte Bilder oder Bildinhalte aus den Medien aufgegriffen, wie der Aufbruch oder die Ankunft der Flüchtlinge in Booten (Glattauer/Hochleitner 6f., 28f.). Auch das Bild auf der letzten Doppelseite erinnert an die Bilder von ertrunkenen Kindern, die Rezipienten aus den Nachrichten vermutlich bereits bekannt sind (Glattauer/Hochleitner 30f.).

Erzählt wird aus der Sicht der Katze der Familie, die sich selbst als „E.T.“ vorstellt (Glattauer/Hochleitner 2). Die Katze als intradiegetisch-homodiegetischer Erzähler berichtet in neutralem Ton von den Erlebnissen auf der Flucht. So wird beispielsweise penibel alles aufgelistet, was in Daniels Rucksack mitgenommen werden kann (Glattauer/Hochleitner 5). Diese Aufzählung findet sich auch in der Illustration auf der Doppelseite wieder, wo alle erwähnten Dinge fein säuberlich aufgereiht sind. Dabei wird aber durch die wörtliche Rede der Menschen, die E.T. widergibt, einiges an tragischer Ironie deutlich.

Nach Schulz agieren Tiere in „problemorientierten“ Bilderbüchern als Stellvertreter für die Probleme des Kindes und ermöglichen so eine Distanz gegenüber der dargestellten Problematik (Schulz 59). Die Katze als Erzähler in Flucht entlarvt die Sprache der Erwachsenen, die ihre Kinder nicht beunruhigen wollen und sich mit Unwahrheiten oder Nicht­Antworten behelfen: „Und die alten Fotos brauchen wir unbedingter als Futter für E.T.?, hat Daniel gefragt. Das verstehst du nicht, hat Mutter gesagt“ (Glattauer/Hochleitner 5, Kursivsetzung im Text). E.T. ist somit klar auf der Seite der Kinder positioniert und wird zu ihrem Helfer. Seine Kommentare stellen eine sprachliche Metaebene dar, da die Gedanken des Erzählers nur dem Leser offenbart werden: „Keiner außer mir sieht es“ (Glattauer/Hochleitner 10). Durch diesen Einsatz von Metafiktion wird die artifizielle Konstruktion des Buches deutlich (Nikolajeva/Scott 220). Aus diesem Perspektivenwechsel zwischen der Sicht der Kinder und E.T.s ironischen Kommentaren ergibt sich eine interessante Spannung innerhalb der Narration (Nikolajeva/Scott 119). Durch E.T. als Erzählerfigur werden perspektivische Gegensätze der Erzählung deutlich: Die Katze fungiert zwar als Erzähler, in den Bildern wird jedoch die Flucht der Familie, der Menschen, gezeigt (Nikolajeva/Scott 25). Die Katze gehört zwar auch zur Familie, wird aber eher als Glücksbringer verstanden und deshalb mitgenommen (Glattauer/Hochleitner 2). Doch E.T. fungiert zusätzlich als visueller Teil der Narration oder, wie Nikolajeva und Scott es ausdrücken, als „visual intrusive narrator“ (Nikolajeva/Scott 123). Denn E.T. blickt als einzige Figur den Leser des Buches direkt an, wobei seine Mimik zwischen Skepsis, Erstaunen und Unglück schwankt.

[...]


1 Gewinner des Jugendliteraturpreises 2017 in der Kategorie „Bilderbuch“ war Isabel Minhos Martins‘ Hier kommt keiner durch, erschienen bei Klett Kinderbuch: http://www.dilp.jugendliteratur.org/datenbanksuche/bilderbuch- 1/artikel-hier kommt keiner durch-4054.html.

2 Ausgenommen sind solche Sonderformen des Bilderbuchs wie zum Beispiel textlose Bildnarrationen. Weiterhin kann es natürlich in einem Bilderbuch auch Einzelseiten geben, auf denen nur Text oder nur Bild abgedruckt ist.

3 Hier kann in Bezug auf die Rezeptionshaltung und -ergebnisse nur eine allgemeine Aussage getroffen werden, da der einzelne Rezipient Bild und Text stets aufgrund weiterer beeinflussender Faktoren, wie den eigenen Erfahrungen oder literarischen Vorkenntnissen, individuell beurteilt und interpretiert. Bilderbücher, die „ästhetisch komplex“ gestaltet sind, lassen sich generell nicht „abschließend erfassen oder gar vermitteln“ (Dichtl 45). Ein Bild dient nicht ausschließlich der „Wiedergabe und Weitergabe vorgegebener Erfahrungsgehalte“, es ist ebenso „an der Ermöglichung von Erfahrung beteiligt“ (Bernhard Waldenfels, zitiert nach Kruse/Sabisch : 13).

4 Im deutschsprachigen Raum „häuften“ sich zwar in den 1970er und 1980er Jahren die Publikationen zum Thema Bilderbuch, diese blieben jedoch auf eine pädagogische Ebene beschränkt (Thiele 2000: 90).

5 Vgl. u.a. Bader, Barbara. American Picturebooks from Noah’s Ark to The Beast Within. New York: Macmillan, 1976; Nodelmann, Perry. Words about Pictures: The Narrative of Children’s Picture Books. London: The University of Georgia, 1988; Nikolajeva, Maria, und Carole Scott. How Picturebooks work. New York: Garland, 2001; Lewis, David. Reading Contemporary Picturebooks: Picturing Text. London: Routledge, 2001; Evelyn Arizpe, Maureen Farrel, und Julie MacAdams (Hgg.). Picturebooks: Beyond the Borders of Art, Narrative, and Culture. New York: Routledge, 2013; Claire Painter, J.R. Martin, und Len Unsworth. Reading Visual Narratives: Image Analysis of Children’s Picture Books. London: Equinox, 2012; Kümmerling-Meibauer, Bettina (Hg.). Picturebooks: Representation and Narration. New York: Routledge, 2014.

6 Thiele, Jens. Das Bilderbuch: Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption. Oldenburg: Isensee Verlag, 2000.

7 Vgl. Halbey (1997), Lieber (2014), Oetken (2008), Thiele (2000).

8 Vgl. Blei-Hoch (2007), Oetken (2005, 2008).

9 Exemplarisch: Die Welt im Bild erfassen. Das Bilderbuch in fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher Perspektive. 6. Und 14. Februar 2017, Bremer Institut für Bilderbuchforschung; 15. IBG-Jahrestagung 2014: Das Bilderbuch - Geschichte, Ästhetik, Medien. 25./26. September 2014, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

10 Vgl. Thiele 2000 und 2007.

11 Die komplette Entwicklungsgeschichte des Bilderbuchs im 20. Jahrhundert soll hier aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden, sondern eine Konzentration auf die Entwicklung ab den 1990er Jahren erfolgen. Jens Thiele stellt die Entwicklung des Mediums ab dem 19. Jahrhundert in seinem Grundlagenwerk zum Bilderbuch detailliert dar (vgl. Thiele 2000: 18-35).

12 Tabbert greift hier auf den von Wolfgang Welsch für die Postmoderne kennzeichnend gemachten Begriff der Pluralität zurück.

13 Abraham und Knopf unterteilen das Bilderbuch in dieser Übersicht in die Kategorien szenisches Bilderbuch, illustrierter Kinderroman, (textlose) Bilderbuchgeschichte, Comic-Serie, Märchenadaption, Graphic Novel oder Comic als Adaption eines Kinderromans, Comic-Adaption, Dramenadaption, textlose Graphic Novel, Film- Adaption/Hörspiel, Sachbilderbuch, illustriertes Gedicht oder Erzählsachbuch (vgl. Abraham/Knopf 6-9). Dieser Aufteilung zugrunde liegt die Bilderbuchauswahl, die für die Beiträge des Theorie- und Praxisbandes der Autoren zum Bilderbuch getroffen wurde, es gibt darüber hinaus natürlich noch weitere Erscheinungsformen des Mediums.

14 Diese Einteilung begreifen die Autoren als literarisch -ästhetische Modi mit binärer Unterscheidung (vgl. Abraham/Knopf 5).

15 Vgl. u.a. Thiele, 2000; Halbey, 1997; Nodelmann, 1988; Roxburgh, 1983/84. Hier stellt sich jedoch die Frage, inwiefern dies in Zeiten von Comics, Graphic Novels und textlosen Bilderzählungen noch als Alleinstellungsmerkmal für das Bilderbuch gelten kann (vgl. Dichtl 23).

16 Auf diese Adressatenzuordnung wird im Laufe dieser Arbeit noch einzugehen sein, da sie besonders für die hier analysierten Bilderbuchtitel zu einseitig ist. Insgesamt grenzt Thiele das Bilderbuch formal als Buchformat ein, welches „in der Regel 30 Buchseiten nicht überschreitet“ (Thiele, zitiert nach Dichtl: 20).

17 Vgl. u.a. Halbey oder Grünewald.

18 Unter dem Begriff des „narrative turn“ wird über solch dominantes Bilderzählen diskutiert (Dichtl 60).

19 Kruse und Sabisch zitieren an dieser Stelle den Kunsthistoriker und Bildtheoretiker Gottfried Boehm, der sich bereits 1994 der Frage nach einer Beschreibung des genuin Bildhaften widmete (Kruse/Sabisch 12). Vgl. dazu: Boehm, Gottfried. Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin: UP, 2008. 45.

20 Die Begriffe zur Beschreibung narrativer Techniken orientieren sich, Staigers Ansatz folgend, an der Erzähltheorie von Gérard Genette, hier wiedergegeben nach Matias Martinez und Michael Scheffel 66-72.

21 In Anlehnung an den „multimodalen Turn“ nach Bucher, der in der Bilderbuchforschung u.a. von Painter/Martin/Unsworth (2012) und bei Scrafini (2014) aufgegriffen wurde (vgl. Staiger 2014: 12).

22 Hier kann unterschieden werden zwischen „äußeren Leerstellen“, die sich im Erzählverlauf ergeben, und inneren Leerstellen, die sich auf die Deutungsebene beziehen und nach Wolfgang Iser „Sinnuneindeutigkeiten“ darstellen (Kurwinkel 48).

23 Vgl. Thiele 2000: 203.

24 Dichtl definiert das Kindchenschema als „proportional verzerrte Darstellungen von Tieren und menschlichen Figuren mit großen Augen und Köpfen sowie kleinen Nasen und Mündern“ (Dichtl 37).

25 Evans macht auch deutlich, dass es noch keinen Begriff gibt, um derartige Bilderbuchpublikationen zu beschreiben (Evans 4f.) In der vorliegenden Arbeit wird daher auf den Begriff „anspruchsvolles Bilderbuch“ nach Hans-Heino Ewers zurückgegriffen, da dieser passend für Evans Darlegung ist (Ewers 64).

26 Ist ein literarisches Werk sowohl auf eine sehr junge als auch auf eine erwachsene Zielgruppe ausgerichtet, wird der Begriff „All Age Literatur“ verwendet. Als „Crossover Literatur“ werden solche Titel bezeichnet, die sich aufgrund inhaltlicher oder narrativer Aspekte nicht eindeutig der KJL oder der Erwachsenenliteratur zuordnen lassen (Kümmerling-Meibauer 2012: 13).

27 Abraham und Knopf definieren die „Bildgeschichte als eigene, weit über die Kindheit hinaus bedeutsame literarische Gattung“ (Abraham/Knopf IX). Viele Bilderbücher weisen heute „keine klare Adressatenorientierung auf Kinder“ mehr auf, sondern werden im Buchhandel oft als „All Age Literatur“ gehandelt (Abraham/Knopf 4). Mareile Oetken stellt fest, dass sich im Bilderbuch eine postmoderne „Durchmischung der Stile“ etabliert hat, wodurch auch „die Zielgruppe der Vorschulkinder“ längst erweitert wurde (Oetken 2007: 25).

28 Die Gebrüder Grimm zensierten ihre Texte nachträglich, da diese bald hauptsächlich als Geschichten für Kinder aufgefasst wurden. Die Darstellung von Sex erschien ihnen als unangebracht für kindliche Leser, wohingegen Gewalt nicht als unpassend betrachtet wurde (vgl. Evans 12).

29 Vgl. hierzu die Artikel von Beckett und Ommundsen in Evans, Janet (Hg.). Challenging and Controversial Picturebooks. Abingdon: Routledge, 2015. 49-93.

30 Der Ausdruck „problemorientiert“ wird in dieser Arbeit in Anführungszeichen gesetzt, da er impliziert, dass die behandelten Themen generell ein Problem darstellen und somit negativ konnotiert sind. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. Der Begriff wird in diesem Kapitel genutzt, um die Entstehung eines so bezeichneten Genres skizzieren zu können. Wie zuvor soll auch im weiteren Verlauf der Arbeit für Bilderbücher, die komplexe Themen zum Gegenstand haben, der Begriff „anspruchsvolles Bilderbuch“ nach Ewers genutzt werden (Ewers 64).

31 Vgl. Sanna 14, 20, 23,26, 29 und 32.

32 Vgl. Marsden/Ottley 2f., 6f., 12f.

33 Der Begriff „Kinderzeichnung“ wird in Anführungszeichen verwendet, da diese Bilder vom Illustrator des Buches geschaffen wurden und lediglich den Anschein erwecken sollen, dass hier ein Kind der Künstler ist. Auf ihre Wirkung soll später noch genauer eingegangen werden. Innerhalb der erzählten Welt sind sie vermutlich dem fünfjährigen Toby zuzuordnen.

34 Bericht aus der ZEIT ONLINE: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-11/papua-neuguinea- australien-fluechtlingscamp-raeumung-polizei (23.11.2017).

Ende der Leseprobe aus 73 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung von Flucht im Bilderbuch der Gegenwart
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
73
Katalognummer
V924416
ISBN (eBook)
9783346239617
ISBN (Buch)
9783346239624
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bilderbuch, Flucht, Gegenwartsliteratur, zeitgenössische Literatur, Illustration, Diskurs, Narrative, Anglistik, Komparatistik
Arbeit zitieren
Kim Franzke (Autor:in), 2018, Die Darstellung von Flucht im Bilderbuch der Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/924416

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