Giovanni Boccaccios Dekameron (1353) - Eine Kurzübersicht


Essay, 2004

13 Seiten


Leseprobe


Giovanni Boccaccios Dekameron (1353)

Renaissance und Humanismus: der Verfasser und seine Zeit

„Iohannes Boccaccius de Certaldo civis“, wie sich Giovanni Boccaccio selbst in Dokumenten zu nennen pflegte, war einer der bedeutendsten Dichter und Humanisten der italienischen Renaissance und wird als einer ihrer Initiatoren bezeichnet. Der Begriff Renaissance, aus dem Topos des Vergil “Roma renascens“ (Wiederkehr des Goldenen Zeitalters) abgeleitet und von dem Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818-1897) als Epochenbegriff in die Historie eingeführt, beschreibt die Wiederbelebung der antiken Kultur in Italien um etwa 1350-1600. Spezifisch ist mit diesem Begriff die Übernahme künstlerischer und architektonischer Ideen der Antike gemeint. Der Ausdruck Humanismus, der mit dem Topos Renaissance zumeist im gleichen Atemzug genannt wird, bezeichnet das literarische und wissenschaftliche Studium der antiken Schriften. Vereint stehen diese beiden Begriffe für die Entstehung eines neuen Menschenbildes. Die richtige Erziehung bzw. das humanistische Studium sollte dem Menschen zur Entwicklung seiner eigenen Individualität verhelfen und ihn zu einem autonomen Vernunftwesen heranbilden. Das geistige Zentrum dieser Wiederbelebung der Antike, die sich alsbald auch nach West- und Mitteleuropa ausbreitete, ist im 14. Jahrhundert in Florenz auszumachen, einer der fortschrittlichsten, europäischen Stadtstaaten dieser Zeit. Die literarischen Vertreter dieser Bewegung bezeichnete man schon damals als die “drei Kronen von Florenz“. Bereits Anfang des Jahrhunderts wurden die Humanisten und Dichter Dante Alighieri (1265-1321), Francesco Petrarca (1304-1374) und Giovanni Boccaccio (1313-1375) als Wiedererwecker des literarischen Aufschwungs gefeiert. Dante versuchte die bestehenden theologischen Dogmen mit den menschlichen Freiheitsideen zu einer Synthese zu vereinen. Seine Vorstellung von einem selbständigen Individuum blieb jedoch stets von göttlicher Gnade beeinflusst und damit unvollkommen. Petrarca schliesslich brach mit den traditionellen christlich-mittelalterlichen Vorstellungswelten und kreierte eine von der Antike dominierte Menschenvorstellung, womit er das Bild des humanistisch gebildeten Menschen prägte. Aber erst Giovanni Boccaccio, der Entdecker der menschlichen Sinneswelt, führte das Individuum in die Kunst ein und machte den irdischen Menschen und seine Lebenskrisen zum Thema seiner Literatur.

Giovanni Boccaccio wurde im Jahre 1313 vermutlich in Paris geboren. Seine Kindheit verbrachte der uneheliche Sohn eines Florentiner Kaufmanns namens Boccaccio oder Boccaccino di Chellino (Certaldo, Toskana) und einer französischen Adligen aber gewiss in Florenz. Der Vater, ein Teilhaber der Bardi-Bank, stand in enger Beziehung zum neapolitanischen Königshof und war für einige Jahre beruflich in Paris ansässig, wo er auch Boccaccios Mutter kennen lernte. Später zog der ungewollt zum Vater Gewordene wieder nach Florenz zurück. Als seine Geliebte starb, liess er seinen illegitimen Sohn nach Florenz kommen und von seiner Ehefrau erziehen. Mit vier- oder fünfzehn Jahren begann Boccaccio auf Wunsch seines Vaters eine kaufmännische Ausbildung (1327) und wurde kurz darauf zwecks einer Weiterbildung an den neapolitanischen Hof geschickt. Der Aufenthalt in Neapel (1327-1340) wurde zum einschneidenden Erlebnis für den jungen Giovanni und die Erfahrungen, die er am Hof Roberts d`Anjou sammelte, beeinflussten seine Werke entscheidend. 1332 brach Boccaccio, der sich lieber den antiken Schriften von Vergil, Ovid und Statius widmete, seine kaufmännische Ausbildung ab, um Rechtswissenschaften und klassische Sprachen zu studieren. Als die Bardi-Bank vor dem Bankrott stand, rief ihn sein Vater nach Florenz zurück (1340), wo er schliesslich das Amt eines Richters und Notars übernahm. Im Auftrag der Florentiner Regierung begab sich Boccaccio öfters auf Reisen (u.a. zwischen 1346-48 nach Ravenna, Forli und Neapel) oder auf diplomatische Missionen (u.a. 1365 zu Papst Urban V. und 1367 nach Rom). 1373 wurde dem Sechzigjährigen ein Lehramt an der Florentiner Universität angeboten, das er aber wegen seines schlechten Gesundheitszustands bereits 1374 wieder aufgeben musste. Daraufhin zog er sich auf sein Landwesen nach Certaldo zurück und suchte Trost in Meditation und Religion. Dort starb Giovanni Boccaccio 62jährig am 21. Dezember 1375.

Das Dekameron: Form, Inhalt und Aussagen

Giovanni Boccaccio vollendete im Jahre 1353 nach fünfjähriger Schreiblust sein literaturhistorisches Meisterwerk »Il Decamerone«, zu Deutsch das Dekameron/Decameron. Ein erster Druck erschien 1470 in Venedig, doch bereits davor waren zahlreiche Übersetzungen im Umlauf. Als Boccaccio im Winter 1375 starb, vermachte er dem Kloster Santo Spirito seine Bibliothek. Im 18./19. Jahrhundert wurden die Klöster schliesslich säkularisiert, d.h. die kirchlichen Güter wurden aufgehoben und der weltlichen Staatsmacht unterstellt. Sodann gelangte Boccaccios sämtliches Schriftgut an die Biblioteca Nazionale Centrale, genauer an die Biblioteca Laurenziana in Florenz. Zum ersten Mal verdeutscht wurde das Dekameron von Arigo bzw. Heinrich aus Nürnberg. Die erste Auflage in deutscher Sprache erschien 1472/73. Eine genaue Auflistung der zahlreichen Ausgaben, Übersetzungen und Verfilmungen – die von 1470 bis in die 1980er Jahre zurück reichen – sind u.a. in “Kindlers Neues Literatur Lexikon“ (Hg. von Walter Jens) aufgeführt. Eine der besten deutschen Übersetzungen überhaupt – und daher sehr empfehlenswert – geht auf den Juristen und Dante-Forscher Karl Witte (1827) zurück.

Der Titel »Dekameron« ist aus den griechischen Worten déka (10) und heméra (Tag) zusammengesetzt und bedeutet »Zehntagewerk« oder »Zehntagebuch«. Die Betitelung sowie der Rahmenaufbau stehen demnach in Analogie zum »Hexameron« (Sechstagewerk) des lateinischen Kirchenlehrers Ambrosius (340-397). Für die Gliederung seines Werkes griff Boccaccio gleichfalls auf die sakrale Zahl 10 zurück. Sie spielte im ptolemäisch-christlichen Himmelssystem eine wichtige Rolle und wurde von dem bedeutenden Franziskanermönch Bonaventura (1221-1274) als die perfekte Ziffer bezeichnet (numerus perfectissimus). Die Zahl 10 diente dem Schreiber in dreifacher Weise zur Gliederung seines Werkes: von 10 Leuten werden innert 10 Tagen je 10 Novellen erzählt und besprochen. Die auf der christlichen Zahlensymbolik basierende Gliederung (Cento novelle antiche) übernahm Boccaccio von seinem Vorbild Dante, der in seinem Hauptwerk die »Göttliche Komödie« (la divina commedia) 100 Gesänge zum Besten gab. Auch dass es sich bei den zehn Erzählern um 7 Damen und 3 Herren handelt, ist Dantes Komödie entnommen. Obwohl der geistlichen Lehre entliehen, bediente sich Boccaccio dem Werkaufbau nicht aus gläubigen Motiven (im Gegensatz zu Dante), sondern nutzte sie ausschliesslich als ordnendes Instrument, um seiner Konstruktion Raum zu schaffen.

„Hier beginnt das Buch, genannt Dekameron, beigennant der Erzkuppler, worin hundert Geschichten enthalten sind, die von sieben Damen und drei jungen Männern erzählt werden“. So beginnt das Meisterwerk Boccaccios, das eine Ansammlung von 100 Novellen darstellt, die in einer geschlossenen Rahmenhandlung eingebunden sind. Die Rahmenerzählung wird durch die Einführung von zehn jungen Aristokraten (Brigata) geschaffen. Sieben Damen zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahren treffen an einem Dienstagmorgen durch Zufall in der Kirche Santa Maria Novella zusammen. Die Älteste unter ihnen – Pampinea – macht den Vorschlag, gemeinsam die Heimatstadt Florenz zu verlassen, um der wütenden Pest zu entfliehen. Während die Frauen noch beraten, finden sich drei junge und ihnen bekannte Männer in der Kirche ein. Da es den Damen als unsittlich erscheint, sich ohne männliche Begleitung auf die Reise zu begeben, fordern sie die Herren auf, sie zu begleiten. Schliesslich macht sich die junge Brigata mit ihrer Dienerschaft auf und flieht auf ein zwei Meilen ausserhalb der Stadt liegendes Landgut. Im Verlaufe ihres Aufenthalts auf dem Lande wechselt die Gesellschaft noch weitere zweimal ihren Aufenthaltsort. Nach zwei Wochen – und hundert erzählten Geschichten – kehren die jungen Leute schliesslich geläutert wieder nach Florenz zurück.

Der Tagesablauf selbst wird stets von Müssiggang, Spielen, Lektüre, Musik, Tanz und Spaziergängen bestimmt. Gegen Abend vertreibt sich die junge Gesellschaft mit dem Erzählen von Geschichten die Zeit. Nach dem Abschluss eines jeden Tages wird von einem der Protagonisten ein Kanzone bzw. Canzone (Lied in Gedichtform) vorgetragen. Die Gruppe wählt jeden Tag eine »Königin« bzw. einen »König« aus ihrer Mitte, wodurch jeder einmal an die Reihe kommt. Der/die Gewählte bestimmt dann das Hauptthema der zehn Geschichten des Tages. Nur an zwei Tagen wird zu Ehren Christi und Maria (Freitag und Samstag) die Gesellschaft freigestellt – wodurch diese auch nicht als Aufenthaltstage gezählt werden. Jeder Tag (Giornata) wird nach dem/der jeweiligen Herrscher resp. Herrscherin benannt. Nacheinander folgen die Tage: Pampinea, Filomena, Neifile, Filostrato, Fiammetta, Elisa, Dioneo, Lauretta, Emilia und Panfilo. Boccaccio gab den Frauen und Männern Namen, die den Eigenschaften jedes Einzelnen vollständig oder teilweise entsprechen. Die persönliche Regierungszeit und die jeweilige Thematik des Tages gehen parallel. So wird zum Beispiel der dritte (Neifile – Gefäss wollüstiger Gedanken) und siebte Tag (Dioneo – der Venus Geweihte) einzig der Erotik gewidmet. Andererseits nahm sich Boccaccio in seiner Darstellung der Rahmenerzählung gewisse künstlerische Freiheiten heraus und liess sich alle Möglichkeiten offen. Dies wird offensichtlich in der Gestaltung des ersten und neunten Tages – deren Thematik nicht bestimmt werden – und in der Beschreibung des vorwitzigen Dioneo. Dieser – vermutlich ein Selbstporträt des Autors – wird in seiner Charakterdarstellung besonders hervorgehoben, nimmt er sich doch das Recht heraus, jeden Tag die letzte Geschichte zu erzählen und auch sein Tagesthema selbst zu bestimmen.

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Details

Titel
Giovanni Boccaccios Dekameron (1353) - Eine Kurzübersicht
Autor
Jahr
2004
Seiten
13
Katalognummer
V92397
ISBN (eBook)
9783638061384
ISBN (Buch)
9783638951517
Dateigröße
549 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Giovanni, Boccaccios, Dekameron, Eine, Kurzübersicht
Arbeit zitieren
lic.phil. Nicole J. Bettlé (Autor:in), 2004, Giovanni Boccaccios Dekameron (1353) - Eine Kurzübersicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92397

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