Ist ein aufgeklärtes Leben ein gutes Leben?


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2020

20 Seiten


Leseprobe


Ist ein aufgeklärtes Leben als gutes Leben?

I.

In der gegenwärtigen Lebenswelt, die immer schneller abzulaufen scheint, in der Informationen in Bruchteilen Verbreitung finden und die immer schneller laufen muss, in der der Mensch oft zu einer Nummer oder gar Ware verkommt, mitunter erniedrigt, beleidigt und gedemütigt wird, stellen sich viele die Frage, wie viel ihres Lebens in einem Hamsterrad sie noch selbst in der Hand haben, was sie jetzt und gerade wollen scheinen dabei viele zu „wissen“, aber die große und weiter treibende Frage ist doch, was man überhaupt will, was man überhaupt von diesem Leben zu erwarten hat. Dazu schrieb Ernst Bloch in seinem Das Prinzip Hoffnung: „Ich rege mich. Von früh auf sucht man. Ist ganz und gar begehrlich, schreit, hat nicht, was man will.“1 Der Mensch ist ein Wesen, dass einen Mangel verspürt, aus dem es heraus möchte. Dabei ist es sich fremd, ein sich noch weitgehend unbekanntes, dunkles Wesen.2 In diesen Zustand gilt es Licht zu bringen, was ich hiermit versuche.

Die Frage wie zu leben gut sei, wurde bereits in der Anfangszeit der Philosophie in der Antike mindestens von Sokrates, Platon und Aristoteles gestellt und wanderte in der Spätantike mehr und mehr in das Frühchristentum ab, womit es in erster Linie zu einer theologischen Fragstellung „Wie es gut als Christ zu leben sei?“ wurde. Erst in jüngster Vergangenheit, respektive im späten 20. Jahrhundert rückte dieses Thema wieder mehr in den Fokus der Philosophie. Die möglichen Antworten auf diese Fragestellung bereiten allerdings immer noch einige Schwierigkeiten. Es gibt immer wieder Vertreter, die die Moral in verschiedenen Punkten auf die Frage nach dem guten Leben verweisen und dies hinsichtlich des Wörtchens „gut“ im Sinne einer Befolgung von Normen und den Rechten, die eine Grundbedingung für ein gutes Leben sichern müssen. Dies ist sicherlich richtig und wichtig, gibt aber philosophisch wenig her, weil sie in empirischen Antworten hinsichtlich menschlicher Grundbedürfnisse oder nach materieller Sicherheit, sozialen Kontakte etc. münden.3

Bevor ich kurz auf den Begriff „gut“ eingehe, möchte ich den Titel dieses Aufsatzes näher erläutern. Was heißt darin „existieren“ und was heißt „leben“? Noch existieren (Dass-Sein als nackte Existenz ohne nähere Bestimmung und Form). Aristoteles beschreibt zwei Lebensweisen, die sich hier assoziieren lassen: Ein Leben, das nur Lust und Genuss kennt und sklavenartig wie das des Viehs geführt wird. Im Bereich des gebildeten und energischen Lebens trachtet der Mensch nach der Ehre, die das öffentliche Leben mit sich bringen kann, was allerdings von Aristoteles als oberflächliches Leben angesehen wird, denn die Ehre liegt wohl eher in den Ehrenden, als im Geehrten. Außerdem dient sie lediglich dazu, sich zu vergewissern, dass man gut sei. Die Ehre, die man durch seine Tätigkeit erlangt, macht sie letztlich zum Endziel der politischen Lebensform. Auch das auf Gelderwerb ausgerichtete Leben hat für Aristoteles etwas Unnatürliches und Gezwungenes an sich und auch der Reichtum hat nichts mit dem gesuchten Gut zu tun. Er dient nur dazu Mittel zu einem Zweck zu sein.4

Das "Schon-leben" (Was-Sein als nähere Bestimmung, Formvorgabe) hingegen bestimmt Aristoteles mit dem Begriff eudaimonia (was nur schwer mit "Glück" oder "Glückseligkeit" zu übersetzen ist) als das höchste Ziel des Handelns. Sie wird um ihrer selbst willen und nie wegen etwas anderen erstrebt5 und daraus ergibt sich noch eine dritte Lebensweise (die betrachtende). Mit der Darstellung dieser wende ich mich der Seite des Schon-lebens zu, die auch meine Untersuchung bestimmen wird. Dabei gehe ich für meine Darstellung davon aus, dass der Kern der Philosophie im Wesentlichen aus Selbstdeutung besteht, was so viel heißt, sich begrifflich über seine Stellung in der Welt klar zu werden. Das philosophische Problem ist hiernach also eng mit dem eigenen gerade gelebten Leben verknüpft.

Was die Frage nach "gutem Leben" betrifft, kann man begegnen: „Leb‘ dein Leben, das unter denen, die dir möglich sind, das Beste ist“. Eine ziemlich banale Antwort, die gleichzeitig nichtssagend ist, aber sie zeigt, dass wir hier in der Notwendigkeit stehen, verschiedene Lebensweisen hinsichtlich gut und schlecht zu unterscheiden, was zur Frage führt wie ein gutes von einem schlechten Leben zu unterscheiden ist? Welche Dinge machen es zu einem guten oder schlechten? Man muss sich über das Gutsein des Lebens letztlich klar werden.6

Ich werde im zweiten Teil den Begriff "gut" von der Moral abgegrenzt behandeln und ferner beschreiben, was mit "gut" und auch "besser", "am besten" in Bezug auf das je einzeln betrachtete Leben gemeint sein kann. Im dritten Teil werde ich den Kontext von aufgeklärtem Wollen und Gefühlen näher analysieren, wodurch es zu einer vorläufigen Antwort auf die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ kommt. Kernstück bleibt auch im vierten Teil das Wollen, dass von unserem Inneren, genauso wie von unserem Äußeren beeinflusst werden kann. Ferner spielt auch das Wissen in diesem Prozess um die Motive eine entscheidende Rolle. Der V. Teil möchte die Exaktheit der Antwort auf die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ erweitern, indem er zum Begriff der Aufgeklärtheit des Wollens beitragen möchte. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei die Begriffe der Selbstinterpretation und Selbstreflexion, die durch die „Besonnenheit“ platonischer Prägung ergänzt werden. Zusammenfassend wird im sechsten Abschnitt die Antwort auf die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ mit meiner vorgeschlagenen Lösung abgeschlossen werden.

II.

Wir bezeichnen eine Uhr als einer guten, reden aber nicht von der guten Uhr. Wir sprechen von einem guten Auto, nicht von dem guten Auto, von einer guten Tennisspielerin, nicht von der guten Tennisspielerin. Gebrauchen wir das Wort "gut" mit einem bestimmten Artikel, so sagen wir, dass nur ein einziges Exemplar der zur Disposition stehenden Gegenstandsklasse die Kriterien des Gutseins erfüllt. Daher kann unsere Rede vom "guten Leben", wenn vermutlich häufig unwillentlich, dazu führen, dass nur einer Lebensform die Kriterien des Gutseins anhaften, während andere Lebensweisen folglich nicht gut sind. Es wird dann eine Vorentscheidung getroffen zugunsten einer Konzeption, die eine Pluralität guter Lebensformen ausschließt.7

Um herauszufinden, was das Gute im Sinne von praktischen Überlegungen ausmacht müssen praktische Überlegungen mit theoretischen Überlegungen in Kontrast stehen, wobei letztere ihren Sinn darin haben, herauszufinden was der Fall ist oder wie sich etwas verhält, haben erstere den Sinn, unser Entscheiden, Handeln und Leben zu steuern und zu überprüfen. Praktische Überlegungen werden von den folgenden Fragen geleitet: „Was soll ich tun?“ bzw. „Wie soll ich leben?“. Diese Fragen sind praktische Grundfragen, gleichgültig ob sie ausdrücklich oder auch unausdrücklich gestellt werden. Das „Sollen“ in diesen Fragen unterliegt keiner moralischen Forderung, denn wer sich in praktischen Überlegungen befindet fragt nicht nach dem, was ihm befohlen wird oder was seine moralische Pflicht ist. Natürlich kann dennoch in bestimmten Situationen beides gemeint sein. Das „Sollen“ im Kontext der praktischen Grundfrage ist kein spezifisches, sondern ein generelles. Es liegt vor allen Konkretisierungen, die die Rede vom Guten annehmen kann und sodann auch muss. Dies meint auch, dass es sich vor-konkret im sogenannten egoistischen Eigeninteresse befindet. Wer sich so bewegt, der fragt sich, was er tun soll, fragt sich, was für ihn zu tun alles in allem ratsam oder vernünftig ist.8 Auch Platon verstand diese praktische Grundfrage so, als er seinem Sokrates die Frage in den Mund legte: „Wie ist zu leben?“9.

Auf diese praktischen Fragen kann eine allgemein formale Antwort gegeben werden. Auf die Fragen „Was soll ich tun?“ oder „Wie soll ich leben?“, kann erwidert werden: „Tue das, was für dich zu tun gut, besser oder am besten ist.“ Was sich mit dem deckt, was ratsam oder auch vernünftig ist. Die praktischen Überlegungen kulminieren also darin, was für eine Person zu tun gut, besser oder am besten ist. Die allgemein-formale Antwort wirft natürlich die Frage nach der Relation des Guten in ihrer grammatischen Grundform zu ihren Komparativen und Superlativen auf. Gilt für uns in praktischen Überlegungen immer nur gut, besser oder das Beste?

Die praktische Grundfrage zielt in den allermeisten Fällen sicherlich auf das Beste. Praktisch überlegende Personen sind in dieser Hinsicht "Optimierer". Aus dem praktisch Besten scheint unter allen Umständen ein praktisches Sollen zu folgen, denn wenn einer Person viele gute Optionen offenstehen, weiß sie, was sie tun soll erst, wenn sie weiß, welche von ihnen die beste ist. Die beste Lösung ist dabei diejenige, welche besser ist als alle anderen. Daher wird die Person das Gute vernünftigerweise nur wählen, wenn es das Gute und zugleich das Beste wäre.10

Allerdings greifen diese Ausführungen zu kurz, denn eine überlegende Person kann sich auch mit dem "erstbesten", d. h. mit dem, was gerade gut genug ist, begnügen, anstatt ständig auf das Beste aus zu sein und am Ende für das Gute und Bessere zu optieren und möglicherweise leer auszugehen, kann es sein, sich auch mit dem, was gerade gut genug ist, zufrieden zu sein. Das muss nicht notwendigerweise etwas unvernünftiges sein. Es kann allein ratsam sein, das, was gerade gut genug ist, zu wählen und nicht den Anspruch erhebt das Beste zu sein. Sich bewusst zufrieden zu geben, wäre dann eine bessere Strategie, als ständig dem Optimieren nachzujagen. So kann man auf die Frage „Was soll ich tun?“ antworten: „Tue das, was für dich zu tun gut, das heißt gut genug ist!“.11

Aber auch hierin liegt noch zu viel Ungenauigkeit. ist es wirklich vernünftiger mit dem, was gut genug ist, zufrieden zu sein, so wäre dies eben das Beste. Es scheint somit am besten sein, nicht dem Besten nachzujagen; wer ständig das Beste erlangen möchte, kann am Ende mit leeren Händen dastehen. Dass das Beste nicht das Beste sein muss, ist nur möglich, weil das Gute, Bessere, Beste eine Frage der Perspektive ist. Ist es das Beste, nicht das Beste zu erstreben, dann gilt aus Sicht der vernünftig überlegenden Person: in ihrer Situation, mit ihren emotionalen, volitiven und kognitiven Ausstattungen und Fähigkeiten ist es am besten, sich mit dem Suboptimalen zufrieden zu geben. Das Optimale, was sie ziehen lassen muss, ist dagegen das Beste aus einer Perspektive, die von den Kosten des Überlegens (wie z. B. Zeit, Anstrengung usw.) abstrahiert. Den Umkreis unserer Überlegungen können wir einschränken, wenn wir dies erkannt haben. Nicht dem besten nachzujagen, gilt jedoch nur solange, wie das, was zu tun am besten ist, nicht allzu schlecht ist. Es kann zur Entscheidung zwischen mehreren Übeln kommen, und dazu, dass ein Übel relativ zu einem anderen besser oder am besten sein kann, wodurch es aber nicht zu etwas Gutem wird. In praktischen Überlegungen am Guten orientiert zu sein heißt daher, der Konfrontation mit vielen Übeln möglichst aus dem Weg zu gehen. Wichtiger ist, in einer Welt zu leben, die überhaupt gut oder nicht allzu schlecht ist, als dafür Sorge zu tragen, in der besten aller möglichen Welten zu leben.12 Wir sind in einer bestimmten Hinsicht am objektiv Guten orientiert, wenn wir überlegen, was zu tun wirklich am besten ist. Das Gute als Zielpunkt im stringent objektiven Sinn des praktischen Überlegens scheidet so Sein von Schein und dient damit als Maßstabfunktion analog zum Wahren.

Was objektiv gut ist, lässt sich an der Verfasstheit der Welt bemessen oder an der subjektiven Funktion der Wünsche und Gefühle der überlegenden Person, die Differenz zwischen Sein und Schein, die wir einräumen, wenn wir fragen, was gut, besser, am besten ist, kann auf unterschiedliche Art theoretisch rekonstruiert werden. Was zu tun gut, besser oder am besten ist, ist immer von einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation im Kontext eines bestimmten Lebens mit all seinen Besonderheiten abhängig. Was ist also auf die Frage „Wie soll ich leben?“ zu antworten? Genau hier wird es für die Philosophie unmöglich eine Antwort zu geben, weil die Frage auf aus der Gegenwart ihres Lebens heraus fragende Person zugeschnitten ist. Philosophie aber hat es mit allgemeinen Begriffen und Argumenten zu tun, kann also Fragen aus dem je einzeln bestimmten Leben überhaupt nicht beantworten. So ist die Frage Platons „Wie ist zu leben?“ zu ungenau, denn Personen können zwar sagen wie sie gut leben möchten, aber keine Person gleicht der anderen und steht auch in bestimmten Situationen, die nicht gleich sein können. Die praktische Grundfrage hat demnach ein unauslöschliches individuelles Moment. Das, was für mich "objektiv" gut ist, etwas "Subjektives", was zu mir als besonderem Individuum passt. Was für mich "objektiv" gut ist, muss es für jemand anderen nicht sein. Objektivität darf nicht mit Universalität verwechselt werden. Ich möchte an dieser Stelle nochmals darauf hinweisen, dass die Frage nach dem Guten nicht in moralphilosophischem Zusammenhang gestellt wird. Es kann durchaus passieren, dass die überlegende Person zu der Überzeugung gelangt, dass in einer bestimmten Lage für sie zu tun Gute gerade im Zurückstellen eigener, auf speziell ihr Wohlbefinden abzielender Anspruch besteht.13

Nach dieser zunächst ernüchternden Feststellung, dass die Antwort auf die Fragen „Was soll ich tun?“ oder „Wie soll ich leben?“ gar keine Antwort sein kann, so werde ich dennoch versuchen Antworten in Form von Annäherungen zu geben, die diese Fragen doch zumindest nicht völlig unbeantwortet sein lassen wollen. Dieses Verfahren stammt von Nikolaus von Kues aus dem Mittelalter und zielt genau darauf ab, wo keine eindeutigen Antworten zu finden sind, Konjekturen zu versuchen. Bevor ich mich diesem Unterfangen zuwende, möchte ich mich noch dem Begriff der Person zuwenden, der schon den praktischen Überlegungen zugerechnet wurde, was zu unserem Personsein zwingend gehört und was zu unserer Selbstverständigung beiträgt. Wir sind als Person auch interpretierende und selbstinterpretierende, evaluierende und selbstevaluierende Wesen. Dies geschieht, wenn wir uns über unser eigenes Wollen auf dem Weg der Deutung unserer Lage und unserer mentalen Einstellungen klar zu werden versuchen. Wir sind nicht rein instinktgeleitet, sondern wie Nietzsche sagt, „unfestgestellter als irgendein Thier sonst“14. Die Ziele unserer Handlungen sind nicht in uns angelegt, sondern wir sind es, die sie in die Welt bringen. So nehmen wir zu ihnen Stellung, bejahen oder verneinen sie und wir bewerten sie nach "gut" oder "schlecht", wobei wir in der Regel auf bestimmte Bewertungsstandards zurückgreifen, um uns und unsere jeweilige Situation zu beurteilen. Wir konstituieren uns in praktischen Überlegungen in gewissem Umfang selbst speziell als Personen.15

III.

Ein gutes Leben ist ein Leben, so scheint es, was uns das gibt, was wir von einem Leben wollen, oder anders gesagt: wenn es die Anforderungen, die wir an ein Leben stellen, erfüllt. Allerdings ändern sich von Person zu Person die Anforderungen, wann ein Leben jeweils für gut gehalten werden kann. Wodurch aber wissen wir, welche Anforderungen wir an unser Leben stellen sollen? Der Schlüssel zu einer möglichen Antwort ist die Frage nach dem jeweiligen Willen der Person. Wir sind nicht determiniert in unserem wollen, denn wir haben Einfluss auf das, was und wie wir wollen. Wie jedoch können wir abgesehen von unserem Wollen und worauf es gerichtet ist sagen, es sei richtig oder falsch?

Das Wollen ist hier wesentlich mit Gefühlen zusammenhängend zu bestimmen. Erreichen wir z. B. etwas Gewolltes, so stellt sich ein Gefühl der Zufriedenheit oder sogar Freude ein. Aber es kann auch ein Gefühl der Gleichgültigkeit oder auch Enttäuschung im Spiel sein, in solchen Fällen fällt ein Schatten auf das Wollen, denn irgendetwas stimmt dann nicht. Ich habe das Gewollte erreicht, aber es liegt mir plötzlich nichts mehr daran. Ich hätte am Ende gar nicht wollen sollen, so zeigt mir meine Enttäuschung.

Woher kommt diese Diskrepanz zwischen der Bewertung des Gewollten vor seiner Realisierung und der Bewertung nach Erreichen des Gewollten? Im Regelfall wohl daher, dass die Person relevante Informationen nicht oder noch nicht hat, solange das Gewollte noch nicht erreicht ist, oder sie gar ausgeblendet hat. Wir versteifen uns auf die Seite des Gewollten, weil uns etwas daran liegt, aber blenden die Gegenseite völlig aus und erreichen wir dann das Gewollte, so sind wir enttäuscht und sehen jetzt das, was wir zuvor ausblendeten. Hätten wir von Anfang an alles gründlich abgewogen, so hätten wir nicht oder zumindest nicht in Maße gewollt, was wir gewollt hätten. Es kann auch sein, wir wollen etwas und konzentrieren uns so auf sein Erreichen, solange es noch nicht verwirklicht ist, dass wir ausblenden, warum wir es eigentlich wollen. Erst bei der Erreichung weitet sich unser Blick und bemerken, dass wir etwas gewollt haben, was wir jetzt missbilligen. Das Gewollte hat für uns seinen Wert verloren, sei es aus Neid oder Ehrgeiz usw.

Das Wollen war blind, es hatte nicht alle notwendigen Informationen, die in die Welt eingebettet sind und war damit es auch nicht aufgeklärt. Die Defizienz des Wollens entstand auch aus einem kognitiven Mangel; wir wussten nicht ausreichend um das Gewollte. Würde ich es dennoch tun, wenn ich es wüsste, so wäre diese Unkenntnis völlig unerheblich. Die Blindheit des Wollens ist zufällig an der entscheidenden Information vorbei gegangen, aber es ist Glück, dass sie völlig irrrelevant ist. So kann einem an einem blinden Wollen dennoch etwas liegen. Letztlich fehlt aber die Sicherheit, ob ein Wollen defizient ist oder nicht und führt zu einer Unsicherheit bezüglich des Gewollten, wir können uns nie sicher sein, dass uns an dem was wir wollen, wirklich auch etwas liegt. Durch den kognitiven Mangel (ich weiß nicht alles) können wir das Gewollte nach seinem Erreichen anders bewerten als bei oder nach seinem Erreichen, woraus die Enttäuschung resultieren kann. Dies passiert allerdings nur, wenn die betreffende Person erkennt, dass ihr Wollen nicht in den nötigen Tatsachenrahmen eingepasst war, was auch durch ein Ignorieren der Umstände geschehen kann. Möglich wäre auch nach Verwirklichung des Gewollten ein Aufkommen von Zufriedenheit, wenn bestimmte Teile des Sachverhalts verwirklicht sind, weil bestimmte Momente der Genese des Wollens im Dunkeln liegen. Die Gefühle der Zufriedenheit oder Enttäuschung sind somit nicht die Kriterien dafür, ob uns in Wahrheit etwas an unserem Gewollten liegt. Hat demnach ein aufgeklärtes Wollen sein Ziel erreicht, so stellt sich das Gefühl der Zufriedenheit ein umgekehrt jedoch, ist einem sich einstellendes Gefühl der Zufriedenheit ein aufgeklärtes Wollen voraufgegangen.

Zurückkehrend zur Frage nach dem Richtig oder Falsch des Wollens, hat man gesehen, dass es nur um das Wie des Wollens geht. Richtig ist ein Wollen, das in die für es relevanten Informationen eingebunden ist, ein über sich, sein Objekt und seine Genese aufgeklärtes Wollen. Falsch ist ein blindes Wollen, was im schlimmen Fall mangelhaft ist, d. h. etwas will, woran dem Wollenden in Wahrheit gar nichts liegt oder im besseren Fall zufällig nicht defizient ist, aber nur so, dass der Wollende hierüber verunsichert ist. Ein Wollen kann man nur "wertfrei" kritisieren, weil man nicht der Annahme ist, dass bestimmte Dinge wollenswert oder in sich meidenswert sind. Die Kritik kann aber aus der dritten Person möglich sein. Ein anderer kann gegeben Falls besser erkennen, ob mein Wollen mangelhaft ist. Gerade auch, wenn ich bestimmte Aspekte des Gewollten ausblende, und wenn sie – das ist viel wichtiger – weiß, dass ich selbst mein Wollen kritisieren würde und womöglich aufgeben würde, wenn ich das Gewollte in all seinen Facetten vor Augen hätte. Die Kritik des anderen, nimmt meine Selbstkritik vorweg; die Behauptung enthaltend, dass der Wollende sich selbst von seinem Wollen distanzieren kann, wenn er alle notwendigen Informationen hätte. Diese Kritik urteilt immer aus der Perspektive der Person die Träger des kritisierten Wollens ist.

Auf die Frage, was wir vom Leben wollen, kann zusammenfassend gesagt werden: „Dein Wollen sollte, was immer du vom Leben willst, aufgeklärt und keinesfalls blind sein.“ Man nicht sagen: „Du solltest das und jenes wollen.“16 Dieses Ergebnis verlangt aber noch nach einer weiteren Präzisierung. Das richtige Wollen wurde als ein, was über sein Objekt und Zustandekommen aufgeklärtes, analysiert. Wie jedoch dieses Wollen in dieser Weise aufzuklären ist, blieb bis jetzt unklar. Die Aufklärung, so viel wird sich zeigen, stößt aber auch auf Grenzen unterschiedlicher Art.

Eine erste Grenze zeigt sich darin, dass uns, wenn wir etwas wollen, was wir bis dahin nicht haben, notwendigerweise die Erfahrung fehlt, wie es ist, das gewollte zu haben. Wie es ist Vater zu sein, in einem Beruf erfolgreich zu sein, ein Helfer der Armen in einem anderen Erdteil zu sein, können wir, solange wir es nicht selbst sind, bestenfalls von "außen", aber nicht von "innen" heraus wissen. Dies sich hier abzeichnende kognitive Defizit ist im Grunde nicht zu verbessern, das Wollen bleibt so immer ein Stück weit unaufgeklärt und blind. So wird man immer damit rechnen müssen, später zu sagen: „Hätte ich gewusst, dass es so ist, wie ich es jetzt erfahren habe, so hätte ich es nicht gewollt.“ Daraus ergibt sich: man muss immer damit rechnen, dass das Wollen in einem entscheidenden Punkt defizient und blind ist und einem daran nicht wirklich etwas liegt. Diese Unsicherheit ergibt sich aus dem Leben selbst, da es ein Wagnis ist und stets damit verbundene Risiken in sich trägt. Wer sein Leben lebt, ist die Strecke nicht bereits schon einmal abgefahren; er ist nicht „streckenkundig“, wie die Eisenbahner sagen.

Eine weitere Grenze für die Aufklärung des Wollens ergibt sich aus dem Umstand, dass es nicht definitiv auszuschließen ist, dass ein auf das Leben bezogenes Wollen durch die Art seines Zustandekommens verfälscht und irregeleitet ist. Wie wir bereits sahen, kann ein Wollen aus missbilligten Affekten resultieren, es kann auf Überlegungen basieren, die fehlerhaft waren oder in die unzureichende oder falsche Informationen eingingen und es kann auch durch Manipulationen von außen oder sozialen Druck entstanden sein. Zweifelsfrei lassen sich solche Einflüsse identifizieren, man erkennt dann, das die Entstehung des Wollens nicht selbstbestimmt war, fühlt sich nicht als wirklicher Urheber seines Wollens und gibt es deshalb auf oder versucht es zumindest. Dahingehend ist Aufklärung möglich, aber ob dieses „zurückbleibende“, das von dieser oder jenen äußeren Beeinflussung „gereinigte“ Wollen umfassend selbstbestimmt ist, muss offen bleiben, weil sich nicht völlig klären lässt, ob nicht doch noch Reste von unentdeckten oder anderen ungewollten Bestandteilen das Wollen steuern. Ein Wollen, das vom Leben etwas will, speist sich aus zu vielen Quellen, als dass es möglich wäre, sich sein Zustandekommen gänzlich transparent zu machen. Innere und äußere Einwirkungen sind viel zu vielfältig, zum Teil nicht zu ergründen, zum Teil liegen sie zu weit in der Vergangenheit, als dass es möglich wäre, sie vollständig aufzudecken. Es sind immer nur einzelne ungewollte Einflüsse festzustellen und in ihrer Wirkung zu neutralisieren, während ein Wollen nicht immer als völlig frei von solchen Einwirkungen erkannt werden kann, womit im Dunkeln bleibt, ob es wirklich selbstbestimmt ist.

Wollten wir dieses Problem gänzlich aus der Welt schaffen, also vollständig erkennen, ob dies rein unser Wollen ist, im Sinne der Selbstbestimmung, so müssten wir uns das auf das Leben gerichtete Wollen als gänzlich ohne fremde Einwirkung erkennen. Dies setzt aber voraus, dass wir wissen, was wir selbst sind – im Unterschied zu dem, was wir durch fremde Einflüsse nur „uneigentlich“ sind. Die Schwierigkeit, die daraus resultiert: Wir sind uns als Person überhaupt nicht durchsichtig, wir können, was wir sind, nicht in eigenes Sein und fremde Einwirkungen zerlegen und diese dann auch noch trennen in solche mit denen wir einverstanden sind und die wir uns zu eigen gemacht haben, und solche, mit denen wir nicht einverstanden sind und die wir gerne als ungeschehen ansehen würden. Das Eigene und das Fremde durchdringt sich in dem, was wir sind, in einer Art, die für uns nicht rekonstruierbar ist. Daher ist es unmöglich, von sich zu wissen, was man selbst, was man aus sich selbst heraus ist. Einzelne ungewollte Einwirkungen können wir zwar als solche erkennen und von diesen Folgen versuchen Abstand zu nehmen, aber wir können nie in uns etwas finden, von dem wir mit Sicherheit sagen können, es sei zweifelsfrei etwas ausschließlich Eigenes, was frei von ungewollten Einflüssen ist. Die Vorstellung von dem, was man selbst ist, bleibt also notgedrungen vorläufig. Heute erkennen wir etwas, was wir für unser Eigenes halten und morgen erkennen wir nach besserem Kennenlernen unsrer selbst, dass es doch etwas ist, was auf fremdem Einfluss hindeutet, von dem man sich vielleicht auch noch frei machen möchte.

Aus diesen Überlegungen wird klar, dass der Aufklärung des eigenen Wollens, sowohl was seinen Gegenstand wie auch seine Entstehung angeht, generell Grenzen gesetzt sind. Die erforderliche Aufklärung darüber, dass ein Wollen nicht mangelhaft ist, ist zumindest bei einem auf das Leben gerichteten Wollen nicht erreichbar. Man muss sich damit zufriedengeben, dass eigene Wollen so weit wie möglich aufzuklären. Das Wollen bleibt somit blind und kann defizient sein. So ist es selbst bei Aufklärung möglich, später einmal, wenn man das Gewollte erreicht hat, erkennen zu müssen, dass man es nicht hätte wollen sollen. Dabei kann es passieren, dass die Defizienz des Wollens keinesfalls immer im Nachhinein als solche erkannt wird. Wahrscheinlich aber ist es häufiger, vor allem wenn das kognitive Defizit nicht das Objekt, sondern die Genese des Wollens betrifft, dass jemand den Mangel seines Wollens niemals erkennt und folglich niemals einsieht, dass er das Gewollte nicht hätte wollen sollen.

Wenn ein soweit wie möglich aufgeklärtes Wollen, sich nicht mit dem deckt, was man in nicht-defizienter Weise, also im Besitz aller nötigen Informationen, wollen würde, ist dies ein unglücklicher Zufall, an dem sich nichts ändern lässt. Auch dies gehört zum Risiko des je gelebten Lebens. Das wissende, vom Wissen geleitete Leben, von dem Platon manchmal spricht17, ist uns als Menschen auch aus dem genannten Grund nicht möglich.

War die bisherige Antwort auf die Frage, was man vom Leben wollen solle: „Dein Wollen sollte, was immer du vom Leben willst, aufgeklärt und nicht blind sein“, so muss sie jetzt genauer lauten: „Dein Wollen sollte möglichst aufgeklärt und möglichst wenig blind sein.“18

[...]


1 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1. 6. Aufl. Frankfurt am Main 1979. S. 21.

2 Vgl. Klein, Manfred: Antizipation und Noch-Nicht-Sein - Zum Heimatbegriff bei Ernst Bloch. Hamburg 2014. S. 198.

3 Vgl. Wolf, Ursula: Zur Struktur der Frage nach dem guten Leben. In: Holmer Steinfath (Hg.): Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen. Frankfurt am Main 1998. S. 32-46. S. 32.

4 Vgl. Aristoteles: EN, I, 3, 1095b ff.

5 Vgl. ebd. I, 5, 1097a ff.

6 Vgl. Stemmer, Peter: Was es heißt, ein gutes Leben zu leben. In: Holmer Steinfath (Hg.): Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen. Frankfurt am Main 1998. S. 47-72. S. 47.

7 Vgl. Stemmer, Peter: Was es heißt, ein gutes Leben zu leben. S. 53. Anm. 12.

8 Vgl. Steinfath, Holmer: Orientierung am Guten. Frankfurt am Main 2001. S. 14f.

9 Platon: Gorg. 492d5; 500d4, 512a7; Pol. 303b2, Nom. 808d3.

10 Vgl. Steinfath, Holmer: Orientierung am Guten. S. 16.

11 Vgl. ebd. S. 16f.

12 Vgl. ebd. S. 17f.

13 Vgl. ebd. S. 19f.

14 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe 5. München 1988. S. 367.

15 Vgl. Steinfath, Holmer: Orientierung am Guten. S. 26ff.

16 Vgl. Stemmer, Peter: Was es heißt, ein gutes Leben zu leben. S. 59-64.

17 Platon: Charm. 173d 1, e 7, 9, 174b 12.

18 Vgl. Stemmer, Peter: Was es heißt, ein gutes Leben zu leben. S. 65-68.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Ist ein aufgeklärtes Leben ein gutes Leben?
Autor
Jahr
2020
Seiten
20
Katalognummer
V922720
ISBN (eBook)
9783346254962
ISBN (Buch)
9783346254979
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leben, Lebensform, Wille, Gut, Existenz, Selbstreflexion
Arbeit zitieren
Dr. Manfred Klein (Autor:in), 2020, Ist ein aufgeklärtes Leben ein gutes Leben?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/922720

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