Zu Rolf Dieter Brinkmanns "Rom, Blicke" - Über die Faszination des Sehens und die Verzweiflung an der Gegenwart


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

22 Seiten, Note: 1,4


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Italien- und Zivilisationskritik

3. Gegenwartsästhetik als Schlüssel zu einer neuen Sensibilität

4. Ein innerer Konflikt: Die Faszination des Sehens und die Verzweiflung an der Gegenwart

5. Literarische Amokläufe – Brinkmanns Protest

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Wo ist, frage ich, das Fenster, das nach Süden offen ist?[1]

Im Oktober 1972 bricht Rolf Dieter Brinkmann als Stipendiat nach Rom auf, wo er ein Jahr in der Villa Massimo verbringt. In diesem Zeitraum entstehen die Manuskriptaufzeichnungen zu Rom, Blicke. Sie enthalten neben Tagebucheinträgen, Postkarten, Briefen und berichtenden Passagen in chronologischer Reihenfolge eine von Brinkmann selbst angefertigte Collage, bestehend aus Fotos, Stadtplänen, Zeitungsausschnitten, Postkarten, Fahrkarten, Quittungen und anderen „Wirklichkeitspartikel[n]“I,131, die vorrangig illustrativen Zwecken dienen.

Aufgrund von Konflikten im Beruflichen wie im Privaten gerät Brinkmann vor seiner Abreise in eine ausweglose Situation, welche ihn „[…] zur Annahme des Stipendiums in Rom [zwingt].“[2] Im Gegensatz zu den Italienaufenthalten anderer Autoren handelt es sich bei Brinkmann folglich nicht um eine Bildungsreise, vielmehr wird sein Aufenthalt im Rom von ihm als „Schriftstellerexil“[3] empfunden: „Nicht der Bildungsgedanke war es oder die Poesie des Südens, die ihn nach Italien führten, er brauchte einfach Geld, dazu ein wenig Abstand von Deutschland, den Freunden und der Familie in Köln.“[4] Diese Ausgangssituation ist zu berücksichtigen, um Brinkmanns Aufzeichnungen einordnen zu können.

Im ersten Teil meiner Arbeit möchte ich auf die Italien- und Zivilisationskritik eingehen, die Brinkmann in Rom, Blicke äußert. Daraufhin werde ich Brinkmanns Begriff der „Gegenwartsästhetik“ und der daraus resultierenden „Neuen Sensibilität“ erläutern, um seine Arbeiten und damit auch die im ersten Teil beschriebene Kritik zu hinterfragen und Erklärungsansätze zu finden. Im Anschluss werde ich den mit seiner Selbstfindung verbundenen inneren Konflikt und die sich ergebende Protesthaltung Brinkmanns darstellen.

Ich werde mich dabei nur die Textstellen berücksichtigen, die sich auf Rom beziehen. Betrachtungen anderer Orte und Bahnfahrten klammere ich bewusst aus. Zitate aus dem Primärtext Rom, Blicke habe ich mit „RB“ gekennzeichnet. Von Brinkmann bewusst gewählte Änderungen in der Orthographie sowie die Verwendung der alten Rechtschreibung – auch in der Sekundärliteratur – habe ich in den Zitaten der Korrektheit wegen übernommen.

2. Italien- und Zivilisationskritik

„‚Auch in Arkadien!’ hat Göthe geschrieben, als er nach Italien fuhr. Inzwischen ist dieses Arkadien ganz schön runtergekommen und zu einer Art Vorhölle geworden.“RB16

„Die Versuchung ist groß, Rom, Blicke als eine radikale Abrechnung mit […] [der] Italien-Passion deutschen Geistes zu lesen […]“[5]. Warum der Verdacht, dass Rom, Blicke eine schroffe und unmissverständliche Absage an den Süden ist, nahe liegt und sehr oft diskutiert wird, möchte ich in diesem Teil meiner Arbeit darstellen.

In dem Moment, in dem Brinkmann die italienische Grenze überschreitet, steht sein Gesamteindruck bereits fest:

„Sofort in Italien, wurde alles verwahrloster. Der Unterschied ist auffällig. Vor allem die Menge des rausgekippten Drecks, zerfallene Häuser und wirklich öde Mietskasernen, auf den Balkons hängt Wäsche.“RB13.

Das von Goethe bewunderte Arkadien wird von Brinkmann als „reinste Lumpenschau“RB47 abgetan:

„Seien es die modischen Lumpen oder die antiken Lumpen, ein Mischmasch, das soweit von Vitalität entfernt ist. Tatsächlich, das Abendland […] geht nicht nur unter – es ist bereits untergegangen, und nur einer dieser kulturellen Fabrikanten taumelt noch gefräßig und unbedarft herum, berauscht sich an dem Schrott – was ist das für ein Bewußtsein, das das vermag!“RB47

Hiermit spricht Brinkmann sowohl die Italien- als auch die Zivilisationskritik, die in Rom, Blicke immer wieder aufkommt, direkt an. Seine ersten Impressionen, die er am Hauptbahnhof in Rom sammelt, sind gekennzeichnet von Schmutz und Elend, dem „Eindruck einer schmutzigen Verwahrlosung […], […] überall Zerfall, eine[r] latente Verwahrlosung des Lebens, die sich in der riesigen Menge der winzigen Einzelheiten zeigt […].“RB16

Auf diese „winzigen Einzelheiten“, die Brinkmann in seinen Beobachtungen akribisch sammelt, werde ich im dritten Teil meiner Arbeit im Zusammenhang mit dem Begriff „Gegenwartsästhetik“ zu sprechen kommen.

Die Sehenswürdigkeiten der Stadt werden von Brinkmann immer wieder als „schäbige[…] Ruinen“RB40 abgewertet, die in seinen Augen „eben alt“RB51 sind, worüber hinaus er ihnen aber keinen Wert zuspricht. So empfindet er die Spanische Treppe als „äußert un-imposant“RB52 und „lächerlich“ RB52: „Dafür war so viel Aufhebens gemacht? Die ganze Szenerie ist nur noch vergammelt.“RB52 „Ein riesiger Kitsch“RB120 ist für ihn der Trevi-Brunnen, „angeklatscht“ RB52 an die umliegenden Häuser, „eine gigantische Wahnidee“ RB52. „Ein Mann in Gummistiefeln […] watete durch das Becken und sammelte die hineingeworfenen Münzen ein.“ RB52, beschreibt er eine skurrile Beobachtung. Damit dekonstruiert Brinkmann die Mythen, die die Italienbegeisterung der Deutschen bestimmt, und zieht sie ins Lächerliche.

Er konzentriert sich bei seinen Ausführungen bewusst auf hässliche Details, die den Verfall und die Verschmutzung der Stadt widerspiegeln. So sammelt er zahlreiche Indizien, die für den Niedergang der Kultur sprechen. Was Brinkmann stört, sind nämlich nicht die Ruinen des alten Roms an sich, es ist vielmehr die Vermischung des Alten, das nicht restauriert wird, mit dem Neuen, die er akribisch beobachtet und aus der sein Eindruck des Lächerlichen entsteht. Er beschreibt ein

„[…] langsam wachsendes Empfinden einer Bedrückung angesichts der schnörkeligen Architektur von Kirchen und buntem Heiligem Kitsch – in einem Durchgang brannte ein elektrischer Lichterkranz um eine miese Madonna – ein Wachsmuseum hatte geöffnet in Nähe des Bahnhofs an der Piazza della Publica – Jahrmarktsstimmung – Soldaten – eine faltige Alte hockte neben einem altertümlichen Fotoapparat mit einer Plastikschüssel Wasser zum entwickeln und einer Kiste als Dunkelkammer – schlaffe Droschkengäule stehen mitten im Gestank von Auspuffgasen – Maronenverkäufer und Verkäufer von Wassermelonen – grau in grauem Staub gebadet der Platz – Sonne – kaputte Bäume – Mischmasch der Architektur […]“RB21

Brinkmann fühlt sich verloren in einem Durcheinander alter abblätternder Architektur und neuer ebenso abblätternder Reklame: „[…] altes, verdrecktes Zeitungspapier weht über Ruinen der römischen Geschichte“RB85, „Wind treibt Abfälle über die Ruinen, Wind treibt Abfälle über die Straßenkreuzungen der Gegenwart“RB274, „Zeitungspapierfetzen, Reklamefetzen, dreckige Plastiktüten, und immerzu der Blick auf die Ruine […]“RB230. „So gehe ich durch eine abgetakelte Kulisse […]“RB277. Er empfindet die Umgebung als „ausgelaugt, leergesogen […] verstaubt“RB30, obgleich er den Sehenswürdigkeiten zugesteht, dass sie „einmal gewiß großartig empfunden wurden und betäubten.“RB39 Warum tun sie das nicht mehr?

„Der Schrecken und auch die Traurigkeit, der von den verstaubten, zerfressenen antiken Ruinen ausgeht (Säulenreste, Torbögen, Statuen, Amphitheater, Grundrisse) liegt darin, daß bis heute nicht weitergefunden worden ist.“RB258

Brinkmann schreibt den Ruinen damit eine ebenfalls ruinierende Wirkung zu, weil sie die für ihn notwendige Erfahrung der Gegenwart verhindern, und hält es für besser, „sie wieder von Pflanzen zuwuchern zu lassen“RB56, so gäbe es „mehr Gegenwart, die Menschen zu leben hätten“ RB56: „Und was nützen mir historische Ruinen?:Ich möchte mehr Gegenwart!“RB145

Von den zahlreichen Eindrücke des Zerfalls, des grauen Bildes der Stadt, fühlt er sich erschöpft und müde und sieht sich nicht im Stande, die Monumente der Vergangenheit zu bewundern:

„Ruinen, die in Abfällen vergammeln, zerstückelte Landschaften, das menschliche Leben verwüstet unaufhörlich den Ort, die Zeit, – ich vermag es nicht, eine winzige Einzelheit aus dem großen Abfallhaufen zu bewundern: das sind doch alles nur Entzückungen, die eine Vergangenheit betreffen, in der Gegenwart läuft ungemindert die Zerstörung weiter, weil die Augenblicke fehlen.“RB231

Außerdem seien die Monumente ungepflegt, denn „keiner will offenbar wahrhaben, wie sehr ramponiert doch das Ganze ist“RB139, stattdessen scheinen gerade die Anzeichen des Verfalls den angeblichen Charme des Südens auszumachen, „je verstümmelter, desto schöner“RB30. Brinkmann möchte diesen so genannten Charme aber nicht schönreden, für ihn zeigt sich darin nur die Nachlässigkeit der Wegwerfgesellschaft, „eine wahnsinnige Verrottung, und eine jahrhundertealte Gewöhnung an diese Verrottung“RB402:

„Ich könnte das romantisch finden, mich an den zernagten Türen delektieren, an den kleinen verwackelten Innenhöfen, den verwinkelten schlecht gepflasterten Treppenstraßen, an den schwarzen Feuchtigkeitsflecken, die an den Häusern die dünne Farbe weggefressen haben, an diesen Übergang aus verschiedenen Grau und Schwarztönen, an den über die Straße oder an den vergammelten Hauswänden aufgespannten Wäschestücken, an den vielen Plakatfetzen, die in halber Höhe überall angebracht sind, kann ich es wirklich? Ich weiß, dass diese Nachlässigkeit, dieses Lässige überall ebenso den Planeten, die Landschaften, die Bäume, die Tiere heruntergebracht hat wie der fanatische Verwertungsdrang von ratternden IBM-Köpfen und Registrierkassen.“RB396

„‚Ewiges Rom?’: na, die Stadt jetzt ist das beste Beispiel dafür, daß die Ewigkeit auch verrottet ist und nicht ewig dauert […]“RB69, fasst Brinkmann seine Eindrücke zusammen. „Italien kann mir gestohlen bleiben! Umbrien! Tumbrien! Kackien! Alles Ruinen! (Auch im Kopf!)“RB220

Auch der italienischen Bevölkerung scheint er distanziert und negativ gegenüberzustehen, bezeichnet sie als „Sackkratzer, Spaghetti-Fresser“RB48, als „die Eingeborenen Könige des allgemeinen Drecks, jeder ein bedeutendes Wesen, das den Dreck, die Verrottung ganz in Ordnung findet.“RB51 Seine bewusste Distanz zeigt sich auch in seiner strikten Weigerung, die italienische Sprache zu lernen:

„Ich überlegte mir, daß ich nicht italienisch werde lernen, sondern auf der Straße mir das Nötigste aneigne, so bleiben diese ganzen Wörter für mich sinnlose Zeichen, und meine anderen Sinne werden geschärft durch dauernde Wachsamkeit – andrerseits brauche ich nicht jeden Mist zu verstehen.“RB21f.

Wie am Ende dieses Zitats deutlich wird, kann man Brinkmann aber nicht unterstellen, dass er das Erlernen der Sprache aus einer grundlegenden Verweigerung einer Auseinandersetzung mit Italien heraus unterlässt, vielmehr macht er sich damit zum Versuchskaninchen eines „Selbstexperiment[s], dessen Eingangsbedingungen und Erfolgsvoraussetzungen die Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Fremdheit gegenüber der Umwelt ist“[6], wie er in Rom, Blicke später selbst schreibt: „Da ich kein Wort verstehen konnte, hatte ich Gelegenheit, intensiv mir die Gesten anzuschauen : das war Opernhaft, kein Blick […], keine Handbewegung ohne Bedeutung […]“RB54. „Eine Annäherung an jene utopische Unmittelbarkeit sinnlichen Erlebens ohne die Dazwischenkunft bereits vorformulierter Deutungen versucht dieses Experiment einzulösen.“[7]

[...]


[1] Kagel: Rolf Dieter Brinkmann, S.90

[2] Späth: Rolf Dieter Brinkmann S.104

[3] Ebd.

[4] Lange: Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik, S.258

[5] Lange: Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik, S.255

[6] Späth: Rolf Dieter Brinkmann S.107

[7] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Zu Rolf Dieter Brinkmanns "Rom, Blicke" - Über die Faszination des Sehens und die Verzweiflung an der Gegenwart
Hochschule
Universität Münster  (Germanistisches Institut)
Veranstaltung
Goethe, Italien und die Folgen
Note
1,4
Autor
Jahr
2007
Seiten
22
Katalognummer
V92198
ISBN (eBook)
9783638060516
ISBN (Buch)
9783638950459
Dateigröße
515 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rolf, Dieter, Brinkmanns, Blicke, Faszination, Sehens, Verzweiflung, Gegenwart, Goethe, Italien, Folgen
Arbeit zitieren
Ina Brauckhoff (Autor:in), 2007, Zu Rolf Dieter Brinkmanns "Rom, Blicke" - Über die Faszination des Sehens und die Verzweiflung an der Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92198

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