Politik und Religion im Ludwigslied. Zwischen politischer Propaganda und religiöser Legitimation


Hausarbeit, 2020

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Das Ludwigslied
2.1 Historische Einordnung
2.2 Inhalt und Komposition
2.3 Formale und Sprachliche Gestaltung

3 Die wechselseitige Instrumentalisierung von Politik und Religion
3.1 Lobpreisung des Herrschers
3.2 Legitimation durch Gott

4 Fazit

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Das althochdeutsche Ludwigslied besingt den westfränkischen König Ludwig III. und dessen Sieg über die Normannen. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei das Charisma des Königs, welches sich nicht nur aus seinen herrscherlichen Tugenden ergibt, sondern auch aus seiner Gottesfürchtigkeit. Letztere ist vor allem deswegen so ausgeprägt, weil Gott nicht nur als stiller Lenker im Hintergrund auftritt, sondern im Ludwigslied eine sehr reale Position einnimmt. Indem er einen Dialog mit Ludwig III. eingeht und ihm klare Befehle erteilt, erscheint der König als der göttliche Auserwählte, der mit Gottes Hilfe das Volk auf den rechten Weg zurückführt. So gesehen entspricht der Aufbau des Ludwigslieds einem heilsgeschichtlichen Ablauf.1 Durch den direkten Kontakt zwischen Gott und dem Frankenkönig findet in dem Lied zudem eine Vermischung von Politik und Religion statt. Dieser wechselseitigen Instrumentalisierung beider Aspekte widmet sich die hier vorliegende Hausarbeit.

Um eine fundierte Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem Stoff garantieren zu können, bildet ein allgemeiner Überblick über das Ludwigslieds den ersten Teil der Arbeit. Dieser geht kurz auf Überlieferung und Forschungsgeschichte ein, thematisiert aber primär die Einordnung in den historischen Kontext sowie Inhalt, Komposition und die formale und sprachliche Gestaltung. Aufbauend darauf folgt im zweiten Teil eine genaue Betrachtung der wechselseitigen Instrumentalisierung von Politik und Religion. Im Zentrum der Arbeit steht vor allem die Frage, mit welchen Mitteln und Motiven die Königsherrschaft im Ludwigslied religiös legitimiert wird. Im Fazit werden die Untersuchungsergebnisse schließlich zusammenfassend dargestellt.

Als Quellengrundlage dient das Ludwigslied selbst, welches in der von Stephan Müller herausgegebenen und kommentierten Reclam-Ausgabe vorliegt. Grundlegende wissenschaftliche Literatur ist zum einen die Monographie „Ludwigslied, De Henrico, Annolied“ von Mathias Herweg, welche einen ausführlichen Gesamtüberblick über Geschichtsbild, Stoffgrundlage, Zielsetzungen, Hintergründe und Problematiken liefert. Ebenfalls wichtig ist der 2013 in R. Bergmanns Sammelband erschienene Artikel über das Ludwigslied von Herweg. Die formale Betrachtung stützt sich im Wesentlichen auf Walter Haugs Artikel über die „Funktionsformen der althochdeutschen binnengereimten Langzeile“. Für den zweiten Teil der Arbeit wurde u.a. der Artikel „Das Ludwigslied — Eine Dichtung im Dienste Monarchischer Propaganda für den Kampf gegen die Normannen?“ von Robert Müller herangezogen.

2 Das Ludwigslied

Das althochdeutsche Ludwigslied ist Teil einer Sammelhandschrift, die in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Flandern entstanden ist. Neben acht theologischen Schriften Gregors von Nazianz in lateinischer Übersetzung durch Rufin von Marseille findet sich in der Handschrift u.a. das älteste überlieferte, französische Gedicht, die Eulalia-Sequenz. Sowohl das Ludwigslied als auch die Eulalia- Sequen^ wurden in Form eines Nachtrags auf die letzten freien Seiten niedergeschrieben und entstammen beide derselben Hand. Die Identität des Autors ist bis heute zwar ungeklärt, allerdings können aufgrund einiger (kon-)textuellen Hinweise diverse Vermutungen diesbezüglich geäußert werden. Schreibstil und mögliche Absicht des Liedes deuten auf eine Person hin, die dem Hof Ludwigs III. sehr nahestand oder dort sogar eine beratende Funktion innehatte. Da der Erzkanzler Gauzlin von St-Denis in der heutigen Forschung als möglicher Initiator des Liedes gehandelt wird und dieser u.a. Vorstand des Klosters St-Amand war, wo die Handschrift später zum ersten Mal entdeckt wurde, scheint der Rückschluss berechtigt, in dem Autor einen Geistlichen aus diesem Kreis zu vermuten.2

Als Entstehungsort des Ludwigslieds vermutet man heute das Gebiet rund um das Kloster St- Amand. Nachdem es 1672 durch J. Mabillon zum ersten Mal dort entdeckt wurde — und kurze Zeit später verschwand — stieß H. Hoffman 1837 im nahegelegenen Valenciennes erneut auf das Dokument. Die Forschung geht davon aus, dass es diese Region niemals verlassen hat.3

Warum das Ludwigslied eine „Sonderstellung in der ahd. Literatur“4 einnimmt, zeigt sich gleich auf mehreren Ebenen. Was die Forschung lange Zeit beschäftigte, war die Tatsache, dass weder die Handlung noch der Entstehungsraum des Ludwigslieds in Verbindung mit der Sprache zu stehen scheinen, in der es geschrieben wurde.5 Eine weitere Besonderheit ist der Bezug auf konkrete historische Ereignisse, wodurch das Lied unter den Zeugnissen althochdeutscher Literatur hervorsticht. Durch diese Bezüge lässt sich das Ludwigslied — im Gegensatz zu den meisten anderen Schriftstücken des Althochdeutschen — in seiner Entstehung nahezu exakt datieren. Das Lied muss nach der Schlacht von Saucourt, also nach dem 03. August 881, entstanden sein, da es den Ausgang des Kampfes schildert. Gleichzeitig muss es vor dem Tod Ludwigs III. (f 05. August 882) entstanden sein, denn dieser wird als lebendiger Held der Schlacht gepriesen. Was den Zeitpunkt der Niederschrift angeht, kann die lateinische Überschrift Auskunft geben. Sie drückt eine Art Totengedenken für den verstorbenen König aus, womit feststeht, dass sie nachträglich hinzugefügt und das Lied in der überlieferten Handschrift wohl erst später aufgeschrieben wurde.6

Die Forschungsgeschichte musste in vielerlei Hinsicht einen langen, durchwachsenen Prozess durchlaufen. Nicht nur die Frage der Gattungszugehörigkeit, sondern auch die sprachliche Zuordnung sowie der historische Hintergrund galten lange Zeit als umstritten.7 Das Resultat waren teils sehr stark variierende Betrachtungsweisen. Heute ist man sich in der Forschung zumindest darüber einig, dass es sich beim Ludwigslied nicht um ein germanisches Preislied mit heidnischer oder gar pagan-mythischer Tendenz handelt.8 Zwar liegt hier definitiv ein Lied vor, das den Herrscher preist, doch M. Herweg betont, dass das Ludwigslied keiner einheitlichen und klar definierten Gattung zugewiesen werden könne. Er greift den von Wehrli initiierten Begriff des ,Heldenlieds' auf, problematisiert jedoch die damit verbundenen Assoziationen und schlägt deswegen den etwas neutraleren Begriff des ,Zeitgedichts' vor. Die gattungsspezifischen Übereinstimmungen mit dem lateinischen Zeitgedicht haben für Herweg am meisten Gewicht, jedoch müssen seiner Ansicht nach auch Bezugsgrößen wie die ,Chansonepik' und die lateinische ,Panegyrik' berücksichtig werden.9 Was die sprachlichen Eigenheiten angeht, fällt der heutige Forschungskonsens darüber zusammen, dass das Ludwigslied auf einem rheinfränkischen Grundstock beruht, der einige mittel- und niederfränkische Komponenten enthält.10

Um die Stoffgeschichte des Ludwigslieds besser nachvollziehen zu können, folgt nun eine kurze, Einordnung, die die historischen Begebenheiten knapp thematisiert.

2.1 Historische Einordnung

Im Gegensatz zu vielen anderen Forschungsfragen waren sich die Forschung relativ schnell darin einig, dass es sich bei der Bezugsperson des Ludwigslieds nur um König Ludwig III., den Sohn Ludwigs des Stammlers, handeln könne.11 Einen ersten Hinweis darauf gibt die lateinische Überschrift, die dem verstorbenen König Ludwig gedenkt, der Sohn eines anderen Ludwigs war, welcher wiederum ebenfalls als König geherrscht hatte. Ludwig III. entstammte, genau wie sein ca. zwei Jahre jüngerer Bruder Karlmann, der ersten Ehe Ludwigs des Stammlers mit Ansgard, der Tochter einer adeligen Familie. Vermutlich aufgrund politischer Hintergründe und auf Drängen seines Vaters, verstieß Ludwig einige Jahre später seine Gattin und heiratete erneut. Erst nach seinem Tod 879 empfing seine zweite Frau den dritten Sohn des Königs, den späteren Karl den Einfältigen. Nach dem frühen Tod von Ludwig II. (dem Stammler) wurde das Reich dem fränkischen Erbbrauch folgend unter seinen beiden erstgeborenen Söhnen Ludwig und Karlmann aufgeteilt.12 13 Die politischen Unruhen, die das Westfrankenreich zu der Zeit der Reichsteilung beherrschten, sollen im Kapitel 3.1 noch genauer erörtert werden.

In der Instabilität, die sich durch die Teilung des Königreiches ergab, und in Anbetracht der Jugend der neuen Könige (Ludwig war vermutlich 17 und Karlmann gerademal 13 Jahre alt), witterten einige ihre Chance zur Eroberung. So fühlte sich auch Graf Boso, ein mächtiger Nachkomme der karolingischen Dynastie, dazu veranlasst, in Karlmanns Reich einzufallen. Ludwig III. verließ im Juli 880 sein Land, um seinen Bruder im Kampf zu unterstützen. Doch währenddessen drangen die Normannen erneut in den Westteil seines Reiches ein, wodurch er gezwungen war, seinen Bruder zu verlassen und seine eigenen Grenzen zu sichern. Zwar kann der Sieg bei Saucourt im August 881 aus heutiger Sicht nur als ein kurzweiliger Erfolg bezeichnet werden, da die Normannen ihre Angriffe fortsetzten, doch im Momentum der Zeit galt es als ein großer Erfolg und wurde sogar über die Grenzen des Frankenreichs hinaus dokumentiert. Bereits ein Jahr später starb Ludwig III. bei einem Reitunfall, sein Andenken wurde in der Literatur noch lange weitergetragen.

2.2 Inhalt und Komposition

Das Ludwigslied besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen. Der erste Teil erstreckt sich von Zeile eins bis acht und ist in Form eines Erzählerberichts geschrieben. Der Autor schildert hier in einer Art Kurzvita Ludwigs III. den frühen Tot des Königvaters und die drohende Verwaisung des jungen Ludwigs. Doch Gott nimmt sich seiner an und tritt nicht nur in die Rolle des Erziehers, sondern stattet den Heranwachsenden mit besonderen Tugenden und einem königlichen Gefolge aus. Weiter wird der Regierungsantritt Ludwigs III. beschrieben und schließlich die Teilung des Königreiches mit seinem Bruder Karlmann. Dieser erste Abschnitt könnte als eine Art Einleitung betrachtet werden. Der Autor führt in Form einer Vorgeschichte an den zweiten Teil des Liedes heran, in dem es um den Kampf gegen die Normannen geht. Der zweite Teil lässt sich wiederum in mehrere Abschnitte unterteilen.

Im ersten Abschnitt des zweiten Teils (Z. 9-20) erfolgt — ebenfalls in Form eines Erzählerberichts — die Krise. Nachdem Gott Ludwig zu einem König herangezogen hat, will er ihn nun auf seine Fähigkeiten und seine Gottesfürchtigkeit hin prüfen und schickt deswegen „heidnische Männer über die See“14, die das Königreich angreifen. Gemeint sind damit die Wikingerangriffe gegen Ende des 9. Jahrhunderts. Die Prüfung gilt allerdings nicht nur Ludwig selbst, sondern ist gleichzeitig auch eine Warnung an das fränkische Volk, sich seiner Sünden zu erinnern. Wer sich seiner Schuld stellt und dafür Buße tut, kann errettet werden, wer sich allerdings dagegen sträubt, bekommt den Zorn Gottes zu spüren. Die Situation für das Frankenvolk verschärft sich noch zusätzlich dadurch, dass sich König Ludwig III. momentan gar nicht im eigenen Land aufhält. Die Hintergründe für die königliche Abwesenheit spielen im Ludwigslied zwar keine Rolle, beziehen sich aber auf den bereits erwähnten Einfall des Grafen Boso in Karlmanns Reich.

Das Leid des Volkes scheint Gott im zweiten Abschnitt (Z. 21-26) zu erbarmen und so befiehlt er Ludwig, schnellst möglich heim zu kehren und seinen Gefolgsleuten zu helfen. Diese Passage ist in Form eines Dialogs zwischen Gott und Ludwig geschrieben, in welchem Gott direkt mit Ludwig kommuniziert und dieser ihm gehorchend verspricht, alles zu tun, was Gott von ihm verlangt, solange er am Leben ist.

Auf diesen ersten Dialog folgt in Abschnitt drei (Z. 27-41) ein weiterer. Diesmal spricht König Ludwig III., heimgekehrt ins Frankenreich, zu seinen Untertanen und trägt so das Wort Gottes an sie weiter. In seiner hoffnungsschürenden Kriegsrede erklärt er, dass Gott ihn persönlich geschickt habe und fordert alle auf, deren Glaube an Gott unerschütterlich geblieben ist, mit ihm zu kämpfen. Er schließt seine Rede mit dem Versprechen, dass jeder, der an seiner Seite kämpfe, nur gewinnen könne. Denn wer überlebt, der werde vom König reich belohnt und wer im Kampf fällt, habe dennoch Gottes Willen ausgeführt und dementsprechend werde die Familie dafür entlohnt.

Auf die Figurenrede folgt im vierten Abschnitt (Z. 42-54) wieder ein Erzählerbericht, der knapp den Ablauf des Kampfes schildert. König Ludwig III. bewaffnet sich und reitet den Normannen heldenmutig entgegen, dabei singt er ein „heiliges Lied“15 und seine Gefolgsleute begleiten ihn mit dem Ausruf: „Kyrie elesion“16. Als tapferster Krieger wird der König selbst beschrieben, der, seiner Herkunft entsprechend, eine Vielzahl der Feinde bezwingt.

Im letzten Abschnitt (Z. 55-59) berichtet der Autor schließlich vom Sieg der Franken über die Normannen. Dabei richtet sich der Zuspruch v.a. an den König, der mit Gottes Hilfe den Kampf gewonnen und die Not des Volkes beendet hat.

Zusammengefasst setzt sich das Ludwigslied also aus insgesamt sechs Einheiten zusammen, die sich thematischen voneinander abgrenzen lassen. Die Anzahl der Langzeilen ist je nach thematischer Einheit jedoch sehr unterschiedlich und variiert zwischen acht bis zu 14 Zeilen. Was die innere Komposition angeht, folgt das Ludwigslied einem linearen Verlauf: Es beginnt mit der Kindheit, schildert das Heranwachsen, berichtet von einem drohenden Konflikt und schließt mit dem Verlauf und der Lösung des Konflikts. In seiner Komposition ähnelt das Ludwigslied in groben Zügen dem im 4. Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts entstandenen Hildebrandslied. Auch hier beginnt der Autor mit einer Einleitung, gefolgt von einer Dialogpartie und endet mit der Schilderung des Kampfes. Während beim Hildebrandslied allerdings der Dialog deutlich im Vordergrund steht, überwiegen beim Ludwigslied die Erzählerberichte. Diese Gewichtung verleiht dem Ludwigslied einen stark narrativen Charakter. Neben diesen inhaltlichen Aspekten lassen sich auch auf formaler und sprachlicher Ebene Beobachtungen machen, die das Ludwigslied gliedern. Diese sollen im folgenden Kapitel herausgearbeitet werden.

2.3 Formale und Sprachliche Gestaltung

Die Art und Weise, wie der Autor sein Werk beginnt, entspricht altepischem Brauch. Der einleitende Satz „Ich kenne einen König, er heißt Ludwig“17 ist in abgewandelter Form auch in anderen althochdeutschen Texten zu finden. Beispiele hierfür wären das Hildebrandslied („Ich hörte das sagen“), das Wessobrunner Gebet („Das erfuhr ich“) oder Muspilli („Ich hörte die Kundigen [...] sagen“). Diese Formulierung steht meist exemplarisch dafür, dass es sich ursprünglich um eine Erzählung handelte, die nun verschriftlicht wird. Außerdem ist die Formel eine Wahrheitsbeteuerung, denn indem sich der Autor auf andere beruft — er hörte/ erfuhr die Geschichte von jemandem —, sichert er sich in der Glaubwürdigkeit seiner Geschichte ab. Der Autor des Ludwigslieds allerdings, scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein: Er hat nicht irgendwo von diesem König „gehört“, sondern er „kennt“ ihn. Auch der Wortlaut „ih uueiz“, der sich in Zeile eins und zwei sogar wiederholt, verdeutlicht den umfangreichen Wissensstand des Autors. Grund für diese Selbstsicherheit könnte sein, dass der Dichter selbst Augen- und Ohrenzeuge der Geschehnisse gewesen ist und in keiner zeitlichen Distanz berichtete.18

Der durch Otfrid von Weißenburg eingeführte Endreim, der nach und nach den Stabreim ablöste, findet sich auch im Ludwigslied. Die Ausprägung des Reims bezieht sich in den meisten Fällen allerdings nur auf die Endsilbe der sich reimenden Wörter, häufig sind auch unreine Reime. Anders als beispielsweise im Petruslied, das von Stammsilbenreimen geprägt ist, folgt der Dichter zwar dem Reimschema, es steht in der Wichtigkeit jedoch nicht an erster Stelle. Dies mag auch daran liegen, dass das Ludwigslied, anders als das Petruslied, nicht für den (Kirchen-) Gesang vorgesehen war, sondern eher ein Vortrag der Geschichte und letztlich ein Lobpreis auf den König ist. Hierfür spricht auch der narrative Charakter des Liedes. Ganz abgesehen davon können solche Un-/ Regelmäßigkeiten auch gattungsabhängig sein.19

Das Ludwigslied besteht aus 59 endgereimten Langzeilen. Dem Vorbild Otfrids von Weißenburg folgend setzt sich jede Langzeile aus zwei Kurzversen — dem An- und dem Abvers — zusammen, die wiederum durch eine Zäsur voneinander getrennt sind. An dem Arrangement der Zeilen ist zu beobachten, dass jede zweite Langzeile (bzw. manchmal auch zwei hintereinander) eingerückt ist. Diese graphische Anordnung, die im Übrigen der gleichen Tradition zu folgen scheint wie Otfrids Evangelienbuch, deutet Walter Haug so, dass immer zwei aufeinander folgende Langzeilen (bzw. manchmal auch drei) zu einer Stropheneinheit zusammengefasst werden können. Diese These fußt nicht nur auf der äußeren Form, sondern lässt sich auch auf sprachlicher und syntaktischer Ebene belegen. Nahezu jede Halbzeile des Ludwigslieds stellt einen eigenständigen Satz dar. Jede Langzeile ist also in ihre kleinsten Bausteine — die beiden Halbzeilen — zerlegbar. Die Einheit der Langzeilenstrophe wird hierdurch jedoch nicht zerstört, denn zwischen den vier (bzw. sechs) Halbzeilen bleibt weiterhin ein gedanklicher Zusammenhang bestehen. Je nachdem auf welche Weise dieser Zusammenhang die Langzeilenstrophen im Inneren gliedert, stellt Haug zwei Typen fest, in die er einen Großteil der Stropheneinheiten einordnen kann.20

Als ersten Typus definiert Haug eine Ereignisfolge mit anschließendem Ergebnis. Die ersten drei Halbzeilen stellen dabei eine Reihung von relativ selbstständigen Aussagen dar, die sich mal mehr mal weniger aufeinander beziehen. In der vierten Halbzeile folgt dann ein Ergebnis, ein Schluss oder ein Kommentar, der sich auf die vorangegangenen bezieht.21 Ein Beispiel hierfür wäre die Strophe Z. 3 - Z. 4: „Kind uuarth her faterlos. | Thes uuarth imo sar buoz: | Holoda inan truhtin, | Magaczogo uuarth her sin.”22 An die einzelnen Aussagen der ersten drei Halbzeilen, die zeitlich aufeinander aufbauen und somit einen klaren Bezug zueinander haben, wird eine Schlussfolgerung angehängt, die das Dilemma vom Anfang (Ludwigs Verwaisung) auflöst und beendet. Dieses Bauschema kann sich zusätzlich auch auf syntaktischer Ebene äußern, was in der Strophe Z. 5 - Z. 6 sichtbar wird: „Gab her imo dugidi, | Fronisc githigini, | Stuol hier in Urankon. | So bruche her es lango!“23. Hier wird das Objekt der ersten Halbzeile (Tugenden) aufgegriffen und in der zweiten (herrscherliches Gefolge) und dritten (Thron) variiert. Die vierte Halbzeile hebt sich dann aber von den anderen ab. Hier handelt es sich sprachlich gesehen nicht um eine narrative Aufzählung, sondern um einen Ausruf, der insofern einen Bezug zu den vorangegangenen Halbzeilen darstellt, als dass er das Geschehene — Gottes Gaben an Ludwig — kommentiert.

Der zweite Typus, den Haug ermittelt, ähnelt dem ersten, allerdings findet die Unterteilung in vier Halbzeilen hier weniger statt. Er ist so aufgebaut, dass die zweite Langzeile einen Satz darstellt, der von der ersten abhängigen ist. Oft handelt es sich hier um eine noch nicht abgeschlossene oder noch ausstehende Handlung, die auf ein Ziel ausgerichtet ist bzw. eine klare Absicht hat.24 Beispielhaft für diesen Typus steht die Strophe Z. 9 - Z. 10: „So thaz uuarth al gendiot, | Koron uuoldasin god, | Ob her arbeidi | So iungtholon mahti.“25 Eingeleitet durch die Subjunktion „ob“, verdeutlicht die zweite Langzeile die indirekte Frage nach bzw. Gottes Zweifel an Ludwigs Standhaftigkeit. Sie liefert also eine Begründung, warum Gott eine Prüfung für nötig hält, von der in der ersten Langezeile die Rede ist. Die Aktion ist auf das Ziel hin ausgerichtet, dass Ludwig seine Eignung unter Beweis stellen kann.

[...]


1 Vgl. Mathias Herweg: Ludwigslied, De Heinrico, Annolied: die deutschen Zeitdichtungen des frühen Mittelalters im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Rezeption und Erforschung (= Imagines Medii Aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung, Bd. 13), Wiesbaden 2002, S. 19.

2 Vgl. Mathias Herweg: Ludwigslied, in: Rolf Bergmann (Hg.): Althochdeutsche und altsächsische Literatur, Berlin / Boston 2013, S. 241-252, hier S. 242 f.

3 Vgl. Ernst Erich Metzner: Neue Annäherungen an das Ludwigslied von 881, in: Silvia Bovenschen et al (Hg.): Der fremdgewordene Text: Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag, Berlin/ New York 1997, S. 174-201, hier S. 174.

4 Herweg: Ludwigslied, 2013, S. 241.

5 Vgl. Ruth Harvey: The Provenance of the Old High German “Ludwigslied”, in: Medium Aevum, Bd. 14 (Heft 1), 1945, S. 1-20, hier S. 5.

6 Vgl. E. Metzner: Neue Annäherungen an das Ludwigslied, 1997, S. 176.

7 Vgl. Robert Müller: Das Ludwigslied — Eine Dichtung im Dienste Monarchischer Propaganda für den Kampf gegen die Normannen?, in: Peter K. Stein (Hg.): Sprache, Text, Geschichte: Beiträge zur Mediävistik und germanistischen Sprachwissenschaft aus dem Kreis der Mitarbeiter 1964-1979 des Instituts für Germanistik an der Universität Salzburg (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 304), Göppingen 1980, S. 441-478, hier S. 442-449.

8 Vgl. M. Herweg: Ludwigslied, De Heinrico, Annolied, 2002, S. 88-90.

9 Vgl. ebd. S. 145 f

10 Vgl. ebd. S. 67.

11 Vgl. R. Müller: Das Ludwigslied — Monarchische Propaganda?, 1980, S. 441.

12 Vgl. R. Müller: Der historische Hintergrund des althochdeutschen Ludwigsliedes, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 62 (Nr. 2), Stuttgart 1988, S. 221 — 226, hier S. 221 f.

13 Vgl. M. Herweg: Ludwigslied, 2013, S. 243 f.

14 Ludwigslied, hgg. v Stephan Müller: Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie. Stuttgart 2007, S. 72-77, hier S. 73, Z. 11.

15 ebd. Z. 46.

16 ebd. Z. 47.

17 Ludwigslied, hgg. v S. Müller, S. 73, Z. 1.

18 Vgl. Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, München 1990, S. 170.

19 Vgl. Walter Haug: Funktionsformen der althochdeutschen binnengereimten Langzeile, in: Ingeborg Glier et al (Hg.): Werk - Typ - Situation. Studien zu Poetologischen Bedingungen in der Älteren Deutschen Literatur, Stuttgart 1969, S. 20-44, hier S. 23 f

20 Vgl. ebd. S. 30 f.

21 Vgl. ebd. S. 31.

22 Ludwigslied, hgg. v S. Müller, S. 72, Z. 3 f

23 Ludwigslied, hgg. v S. Müller, S. 72, Z. 5 f.

24 Vgl. Haug: Funktionsformen der ahd. binnengereimten Langzeile, 1969, S. 32 f.

25 Ludwigslied, hgg. v S. Müller, S. 72, Z. 9 f.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Politik und Religion im Ludwigslied. Zwischen politischer Propaganda und religiöser Legitimation
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
19
Katalognummer
V921229
ISBN (eBook)
9783346251510
ISBN (Buch)
9783346251527
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Althochdeutsche Literatur, Althochdeutsche Dichtung, Mediävistik
Arbeit zitieren
Selina Gellweiler (Autor:in), 2020, Politik und Religion im Ludwigslied. Zwischen politischer Propaganda und religiöser Legitimation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/921229

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