Fremdunterbringung von Geschwisterkindern mit sexuellen Missbrauchserfahrungen


Masterarbeit, 2015

94 Seiten, Note: 13 Punkte


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Theoretischer Hintergrund

1 Einleitung

2 Geschwisterbeziehung
2.1 Definition
2.2 Historische Entwicklung und aktueller Stand der Geschwisterforschung
2.3 Sichtweisen von Geschwisterbeziehungen
2.3.1 Psychoanalytischer Ansatz
2.3.2 Systemischer Ansatz
2.3.3 Bindungstheoretische Sichtweise
2.4 Einflussfaktoren auf Geschwisterbeziehungen
2.5 Wichtige Theorien: Kongruenz- und Kompensationstheorie
2.6 Exkurs: Geschwisterbeziehungen im Lebensverlauf
2.7 Zusammenfassung

3 Heimerziehung
3.1 Definition
3.2 Rechtliche Grundlagen
3.3 Lebensbedingungen in der Heimerziehung im Unterschied zum Familienleben
3.4 Arbeitssystem Heimunterbringung: Kooperation mit Jugendamt und Familie
3.5 Zusammenfassung

4 Trauma
4.1 Entstehung und Entwicklung der Traumatologie
4.2 Definition und Typologie
4.3 Epidemiologie
4.4 Posttraumatische Belastungsstörungen
4.5 Weitere Auswirkungen für die Betroffenen
4.6 Resilienz: Risiko-und Schutzfaktoren
4.7 Bindung und Trauma
4.8 Zusammenfassung

5 Sexueller (Kindes-)Missbrauch
5.1 Definition
5.2 Exkurs: Strafrechtliche Verankerung
5.3 Täterschaft und Empirische Befunde über Epidemiologie
5.4 Zusammenfassung

6 Traumapädagogischer Ansatz
6.1 Grundhaltung und Arbeitsweise
6.2 Ziele
6.3 Relevanz des pädagogischen Zugangs (in der Heimerziehung)
6.4 Zusammenhang zur Bindungspädagogik
6.5 Traumapädagogik in der Gruppe
6.6 Zusammenfassung

7 Resümee: Traumatisierte Geschwisterkinder in der Heimerziehung
7.1 Empirische Befunde zur Fremdunterbringung von Geschwisterkindern
7.2 Ausblick und Erarbeitung von Indikatoren

II Annäherung an die Entwicklung von Leitlinien

8 Theoretische Vorüberlegungen zum Thema Leitlinien
8.1 Definition
8.2 Relevanz von Leitlinien Entwicklungen im sozialen Bereich
8.3 Methodik

III Leitlinien

9 Erarbeitung der Leitlinien zum Thema: Nutzung der Ressource Geschwister bei sexuell missbrauchten Kindern in der Heimerziehung
9.1 Einführung
9.2 Beschreibung der Zielgruppe
9.3 Empirische und theoretische Befunde
9.4 Konkrete Ziele
9.5 Handlungsschritte und Rahmenbedingungen
9.6 Zusammenhang zwischen Indikatoren und Zielen der Leitlinien
9.7 Grenzen der Leitlinien

10 Fazit

11 Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Anhang

I Theoretischer Hintergrund

1 Einleitung

Die Beziehung von Geschwistern stellt eine besondere Verbindung dar, welche mit keiner anderen zu vergleichen ist. Geschwister teilen den gleichen Erfahrungs- und Sozialisationshintergrund und können sich durch den Beziehungsaufbau auf gleicher Ebene gegenseitig in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern. Jedoch gibt es auch Situationen, in denen Geschwisterkinder mit gemeinsamen, traumatischen Ereignissen konfrontiert werden, welche sich negativ auf ihre Entwicklung und Beziehung auswirken können. In dieser Arbeit wird im Speziellen der Fokus auf das Trauma durch sexuellen Missbrauch gelegt werden.

Nach solchen Erfahrungen ist es für die Kinder und Jugendliche oft nicht möglich, in ihrer Herkunftsfamilie zu bleiben, insbesondere wenn der Verursacher/die Verursacherin aus dem eigenen familiären Umfeld kommt. Diese Abschlussarbeit möchte daher der Frage nachgehen, in wie weit Geschwisterbeziehungen als Ressource in der Heimerziehung beim Verarbeiten traumatischer Ereignisse genutzt werden können.

Die Thesis gliedert sich in drei thematische Blöcke, diese Strukturierung soll dabei helfen eine adäquate Antwort auf die Frage zu geben, in welcher Weise die Ressource Geschwister positiv bei der Verarbeitung von traumatischen Ereignissen genutzt werden kann. Im ersten Block werden die für die Forschungsfrage relevanten theoretischen Schwerpunkte näher betrachtet, darunter a) Geschwister, b) Heimerziehung c) Trauma und Traumapädagogik. Die Befunde zum Thema a) Geschwisterschaft bieten das Fundament, um Geschwisterbeziehungen und ihre Bedeutung zu verstehen. In diesem Kapitel wird auch darauf eingegangen, welche Rolle Geschwister bei der Verarbeitung traumatischer Ereignisse für die Betroffenen einnehmen. Die gewonnenen Erkenntnisse zum thematischen Schwerpunkt b) Heimerziehung sind ebenfalls für die Konzeption von Leitlinien relevant, da die gesetzlichen Grundlagen der Heimerziehung und Rahmenbedingungen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung von Alltag und pädagogischer Arbeit haben. Unter anderem befasst sich das Kapitel Heimerziehung daher auch mit den Unterschieden zwischen Heimerziehung und Leben im familiären Umfeld. Die Themenbereiche c) Trauma und Traumapädagogik gehen explizit auf die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen ein und befassen sich mit den Bedürfnissen, die daraus resultieren. Es werden Indikatoren gesammelt, die nachher das Fundament für die Gestaltung der Leitlinien darstellen. Die in Teil 1 gewonnenen Erkenntnisse bilden die Grundlage für die darauf folgenden zwei Teile.

Im zweiten Teil der Arbeit wird die theoretische Erarbeitung von Leitlinien näher beschrieben. Hier wird aufgezeigt, welche Aspekte bei der Konzipierung zu beachten sind und welche Aufgaben Leitlinien in der Praxis haben.

Im dritten Teil der Arbeit geht es um die konkrete Erarbeitung von Leitlinien. Hierbei werden Handlungsoptionen aufgezeigt, die es ermöglichen sollen, die Ressource Geschwister in der Heimerziehung systematisch nutzen zu können. Dabei ist es für die Konzeption der Leitlinien wichtig, sowohl die theoretischen und empirischen Befunde, als auch die gesetzlichen Grundlagen zu berücksichtigen, um eine Basis zu schaffen, die den professionellen Anforderungen gerecht werden kann. Die Erarbeitung von Leitlinien soll den Praktikerinnen und Praktikern in ihrem pädagogischen Alltag konkrete Handlungsoptionen zur Verfügung stellen. Durch diese können sie mehr Sicherheit und Professionalität, sowie eine standardisierte Vorgehensweise erlangen.

2 Geschwisterbeziehung

Laut Mikrozensus wuchsen im Jahr 2011 35,9% der Haushalte mit zwei Kindern auf, 9,1% mit drei Kindern (vgl. Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2011). Dies bedeutet, dass ein erheblicher Teil der Kinder und Jugendlichen mindestens eine Geschwisterbeziehung im Lebenslauf erlebt. Aufgrund der individualisierten Lebensformen gibt es jedoch ganz unterschiedliche Formen von Geschwisterschaft.

Im Folgenden ist es daher relevant in einem ersten Schritt zu definieren, was in dieser Arbeit unter dem Begriff „Geschwister“ verstanden werden soll (vgl. Kapitel 2.1). Danach wird der Fokus auf den historischen Verlauf der Geschwisterforschung und den heutigen Stand der Forschung gelegt (vgl. Kapitel 2.2). Um die Geschwisterforschung einordnen zu können, werden anschließend Sichtweisen verschiedener Forschungsdisziplinen vorgestellt, um ein differenziertes Bild zu erhalten (vgl. Kapitel 2.3). Nachdem der forschungs-theoretische Teil erläutert wurde, werden relevante Einflussfaktoren auf Geschwisterbeziehungen aufgezeigt (vgl. Kapitel 2.4). Im Anschluss daran werden zwei, für die Geschwisterforschung relevante Theorien vorgestellt (vgl. Kapitel 2.5). Daran anknüpfend folgt ein Exkurs zu den Veränderungen der Geschwisterbeziehungen im Lebensverlauf (vgl. Kapitel 2.6). Der Themenblock schließt mit den allgemeinen Chancen und Grenzen von Geschwisterbeziehung für Individuum und pädagogische, beziehungsweise therapeutische Arbeit (vgl. Kapitel 2.7).

2.1 Definition

Geschwisterschaft kommt aufgrund der individualisierten Lebensformen in ganz unterschiedlichen Variationen vor. Diese Individualisierungsprozesse wurden systematisch von Beck (1986) aufgezeigt und kritisch bewertet.

Neben biologischen Geschwistern (gleiche Mutter und gleicher Vater) gibt es Halbgeschwister (gleiche Mutter oder Vater) und auch nicht blutsverwandte Geschwister wie Stief- oder Adoptivgeschwister. Der Schwerpunkt der Masterarbeit liegt weniger auf den genetischen Faktoren von Geschwisterschaft. Es ist für die Besonderheit der emotionalen Bindung nicht unbedingt relevant, blutsverwandt zu sein. Vielmehr soll die institutionelle und soziale Komponente von Geschwisterschaft und Familie im Fokus der Betrachtung stehen (vgl. Sohni, 2011: 36). Das bedeutet, dass langfristige gemeinsame, horizontale Beziehungserfahrungen im selben Umfeld den Ausgangspunkt der hier verwendeten Definition von Geschwisterbeziehungen darstellen. Blutsverwandtschaft und genetische Faktoren können ebenfalls relevant sein. Bei dieser Masterthesis handelt es sich jedoch um eine Arbeit aus dem Bereich der Pädagogik, die unter anderem bindungstheoretische Aspekte hervorheben möchte, sodass andere Faktoren wie Blutsverwandtschaft und Genetik weniger Beachtung finden.

2.2 Historische Entwicklung und aktueller Stand der Geschwisterforschung

Prinzipiell ist zu betonen, dass die Geschwisterforschung im deutschsprachigen Raum auf keine lange Tradition zurückgreifen kann. Alfred Adler war in den 1920er Jahren der erste deutsche Psychoanalytiker, der sich dem Thema wissenschaftlich näherte. Er befasste sich vor allem mit den Auswirkungen von Geschwisterdynamiken auf die Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Adler 1927). Lange Zeit galt die Geburtenreihenfolge als prägendstes Merkmal von Geschwisterbeziehungen in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung. In den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die Thematik kaum weiter erforscht. Erst in den 50er Jahren wurde die Frage nach Geschwisterbeziehungen für die Persönlichkeitsentwicklung wieder aufgegriffen und weiter untersucht, insbesondere in Bezug auf die Geburtenreihenfolge und Geschlechterkonstellation. Zajonc (1975) entwickelte in dieser Zeit das Intelligenz­Influenz Modell. Dieses besagt, dass nach der Geburt eines zweiten Kindes das Intelligenzniveau der gesamten Familie zunächst absinkt und sich dies vorübergehend negativ auf die Entwicklung des zweitgeborenen Kindes auswirkt. Diesen Nachteil kann das zweitgeborene Kind jedoch schnell aufholen und überholt sogar das erstgeborene Kind. Im Erwachsenenalter scheinen sich dann die Intelligenzniveaus anzugleichen (vgl. Zajonc 1975).

Cecile Ernst und Jules Angst konnten in einer Metaanalyse jedoch aufzeigen, dass die Geburtenreihenfolge weniger Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung hat, als man zunächst annahm. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Geburtenreihenfolge kaum Einfluss auf die Entwicklung der Kinder hat, sondern vielmehr andere familiäre Faktoren die Qualität von Geschwisterbeziehungen bestimmen (vgl. Ernst & Angst 1983). Damit wurde der forschende Blick zugleich in eine andere Richtung gelenkt. Es wurde nach weiteren Faktoren innerhalb einer Familie gesucht, die die Beziehungsqualität beeinflussen. Dadurch änderte sich das Verständnis von Geschwisterbeziehungen grundlegend. Die Metaanalyse von Ernst und Angst machte deutlich, dass nicht nur starre, unbeeinflussbare Faktoren wie die Geburtenreihenfolge eine zentrale Rolle spielen. Sondern variable Faktoren, wie beispielsweise das Bindungsverhalten innerhalb der Familie, die Geschwisterbeziehung entscheidend prägt.

Hegel (1980) setzte ebenfalls einen wichtigen Impuls, er betonte 1980 die Relevanz von Geschwisterbeziehungen, indem er sie als zentralen Prototypen einer Beziehung beschrieb. Diese Entwicklung führte dazu, dass seit den 1990 er Jahren vermehrt der Fokus auf Geschwister in Familien mit schwierigen Familienkonstellationen gelegt wird (vgl. Kasten 1993). Darüber hinaus wird verstärkt der Frage nachgegangen, welche familiären Faktoren relevant für eine gute Geschwisterbeziehung sind. Im Folgenden Abschnitt sollen psychologische Sichtweisen von Geschwisterbeziehungen genauer beschrieben werden.

2.3 Sichtweisen von Geschwisterbeziehungen

Geschwisterbeziehungen sind je nach Erfahrungshintergrund und Lebensgeschichte sehr individuell. Auch die Teildisziplinen der Psychologie haben unterschiedliche Ansätze und Schwerpunkte bezüglich dieses Themenkomplexes. In den folgenden Abschnitten werden drei Sichtweisen (psychoanalytische, systemische und bindungstheoretische) näher erläutert, um dem Leser unterschiedliche Sichtweisen aufzuzeigen.

2.3.1 Psychoanalytischer Ansatz

Der psychoanalytische Ansatz geht auf Sigmund Freud zurück. Seine persönlichen Geschwistererfahrungen sind daher maßgeblich in die psychoanalytische Sichtweise von Geschwisterbeziehungen mit eingeflossen. Freud wuchs mit sieben jüngeren Geschwistern auf. Laut Sohnis Beschreibung hat er sich ihnen gegenüber stets sehr dominant verhalten (vgl. Sohni, 2001: 13). Er definierte für sich Geschwisterbeziehungen als etwas negatives und destruktives, was eng mit dem Konkurrenzgedanken verbunden ist. Daher schenkte die Psychoanalyse der Geschwisterschaft lange Zeit wenig Beachtung. Der Fokus wurde mehr auf die Eltern Kind Beziehung (siehe zum Beispiel Ödipuskomplex) gelegt (vgl. Sohni, 2011: 17).

Dass es durchaus auch horizontale Triaden zwischen Geschwistern geben kann, wurde in der Psychoanalyse erst in den 1980er Jahren wahrgenommen und betont (ebd. 21). Henri Parens (1988) untersuchte 20 Jahre lang Geschwisterkinder von der Geburt bis zu dem Alter von vier Jahren und stellte fest, dass Geschwister neben den Eltern durchaus zentrale Primärobjekte sind. Er beobachtete unter anderem wie Kinder den Streit, den sie mit ihren Eltern hatten, auf jüngere Geschwisterkinder ummünzten. Dieser Effekt wird als Effektregulierung beschrieben und ist besonders bei Geschwisterkindern triadisch integriert.

2.3.2 Systemischer Ansatz

Die systemische Sichtweise legt den Schwerpunkt auf den familiären Kontext. Es wird davon ausgegangen, dass Verhaltensweisen Einzelner relevant für das ganze Familiensystem sind und eine zirkuläre Beeinflussung stattfindet. Die Familie wird hier als Ganzes mit ihren individuellen Teilelementen betrachtet. Geschwisterbeziehungen werden also in den familiären Kontext eingebettet und dementsprechend betrachtet und analysiert. Diese Sichtweise hilft, Geschwisterbeziehungen besser bewerten und analysieren zu können. Sie werden nicht losgelöst von dem Lebensumfeld der Betroffenen betrachtet. Während die Psychoanalyse lange Geschwister nicht als Primärobjekte anerkannte, baut die systemische Sichtweise auf Einflussfaktoren der ganzen Familie auf. Dies bietet eine bessere Grundlage, um ein Fallverstehen von Geschwisterbeziehungen zu ermöglichen. Dennoch muss bedacht werden, dass Familien und ihre Strukturen sehr komplexe Gebilde darstellen und es nur schwer möglich ist, aus den Ursachen Wirkungsrückschlüsse abzuleiten (vgl. Walper, Thönnissen, Wendt & Bergau, 2009: 14).

Die systemische Sichtweise bietet somit zwar mehr Optionen, Geschwisterbeziehungen zu beleuchten, dennoch muss gesagt werden, dass Geschwisterbeziehungen als solches prinzipiell zu wenig Beachtung in den jeweiligen Teildisziplinen der Psychologie geschenkt wird. Eine vielversprechende Option sich wissenschaftlich dem Thema der Geschwisterbeziehung anzunähern bietet die Bindungstheorie. Diese geht ebenfalls auf relevante Aspekte der Geschwisterbeziehung ein und stellt damit einen weiteren Baustein des Fundaments der Geschwisterforschung dar.

2.3.3 Bindungstheoretische Sichtweise

Zentrale Figur der Bindungstheorie ist der Kinderarzt und Kinderpsychiater John Bowlby (1907-1990). Bowlby war Psychoanalytiker. Die Vorläufer der Bindungstheorie finden sich also im psychoanalytischen Ansatz wieder. Im Zentrum seiner bindungs­theoretischen Annahmen stand auch zunächst die Mutter-Kind Beziehung. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass jeder Mensch ein angeborenes Bindungsverhalten besitzt, welches elementar für die Gewährleistung von Schutz und Fürsorge ist. Zunächst ist dieses Verhalten für das Überleben des Säuglings von zentraler Bedeutung. Auch in Gefahrensituationen, bei Müdigkeit oder Krankheit wird das Bindungsverhalten aktiviert, um den größtmöglichen Schutz zu erhalten. Es wird durch Nachlaufen, Weinen oder Schreien aktiviert. Im besten Fall reagiert das Gegenüber auf diese Signale mit fürsorglichem Verhalten. Verläuft der Bindungsprozess gut, entsteht dadurch ein generalisiertes Arbeitsmodell, bei dem das Kind davon ausgeht, dass Bindungspersonen prinzipiell verfügbar sind (Walper et al., 2009: 20).

Unter Bindungsverhalten versteht Bowlby im Konkreten: „Jede Form von Verhalten, das dazu führt, dass eine Person Nähe zu einer klar differenzierten und bevorzugten anderen Person erlangt, oder bewahrt, die üblicherweise als stärker oder klüger wahrgenommen wird“ (Bowlby, 1977: 203).

Diese Definition verdeutlicht, dass Bindungsverhalten nicht unbedingt nur gegenüber Eltern gezeigt werden kann, sondern Kinder dies auch bei älteren Geschwistern in der Lage sind zu zeigen. Diese Aussage untermauert somit ebenfalls die Relevanz der Geschwisterbeziehung und ist ein weiterer Baustein der Geschwisterforschung.

Diverse Studien konnten Bowlbys Annahmen belegen und ergänzen. Eine Studie von Doherty und Feeney (2004) zeigt, dass für 22% der sechzehn- bis neunzehnjährigen Jugendlichen Geschwister eine echte Bindungsperson darstellen. Jedoch gaben lediglich 6% der Befragten die Geschwister als primäre Bindungsperson an. Es konnte jedoch auch nachgewiesen werden, dass die Bedeutung und Bindung zu Geschwistern im Alter zunimmt. Studien von Stewart (1983) sowie Teti und Ablard (1989) belegen darüber hinaus, dass schon drei- bis siebenjährige Kinder bei einer Trennung von der Mutter und dem damit verbundenen Stress für die Betroffenen Fürsorgeverhalten gegenüber jüngeren Geschwistern zeigten. Fürsorgeverhalten wurde eher gezeigt, wenn die Kinder selbst eine gute fürsorgliche Bindung zu ihrer Mutter hatten. Dies verdeutlicht, dass Kinder mit einer guten Bindung zu ihren Eltern auch eher eine positive Beziehung zu ihren Geschwistern aufbauen können. Die Ergebnisse der Bindungsforschung belegen daher folglich, dass „Geschwister ein sicheres, geborgenes und verlässliches Betreuungsumfeld befördern, und/oder ein unsicheres fortführen können“ (Whelan, 2003: 28). Diese Aussage verdeutlicht erneut die Relevanz von positiven Geschwisterbeziehungen für eine förderliche Entwicklung. Nachdem die Bedeutung der Geschwister im Kontext der Bindungstheorie erläutert wurde, werden anschließend allgemeine Funktionen und Aspekte von Geschwistern beschrieben und näher erläutert.

2.4 Einflussfaktoren auf Geschwisterbeziehungen

Geschwisterbeziehungen setzen sich aus vierverschiedenen Ebenen zusammen, die alle Einfluss auf die Qualität der Beziehung nehmen können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

All diese Faktoren wirken unmittelbar auf die Qualität und Intensität der Geschwisterbeziehung ein, da sie das unmittelbare Lebensumfeld der Kinder und Jugendlichen darstellen. Im Folgenden werden die einzelnen Ebenen der hier dargestellten Grafik mit ihrer jeweiligen Bedeutung für Geschwisterschaft näher erläutert. Dazu wird zunächst Ebene A, die Geschwister Ebene näher beschrieben, in alphabetischer Reihenfolge folgen die weiteren Ebenen.

A: Geschwisterebene: Geschwister stellen im Familiensystem füreinander wichtige Interaktionspartner dar. Bereits ab dem Alter von einem Jahr verbringen Kinder genauso viel Zeit mit ihren Geschwistern, wie mit der Mutter (Sohni, 2011: 25). Schmidt-Denter und Spangler (2005) konnten zeigen, dass Kleinkinder ab dem Alter von drei Jahren mehr Kontakt zu ihren älteren Geschwistern haben, als zu ihrer Mutter (vgl. Schmidt-Denter & Spangler, 2005: 15). Geschwister stellen Spielkameraden aber auch Rivalen dar. Bei ihnen haben Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, Konflikte auszutragen, ohne Angst vor einem Beziehungsabbruch haben zu müssen, wie dies bei Peers eher der Fall sein könnte. Für Kinder und Jugendliche stellen ihre älteren Geschwister oftmals ein Vorbild dar. So konnten Asbridge, Tanner und Wortley (2005) zeigen, dass Kinder und Jugendliche häufiger antisoziales Verhalten zeigen, wenn dies bereits bei den älteren Geschwistern beobachtet wurde. Dies bestätigt, dass es durchaus eine Vorbildfunktion zwischen Geschwistern geben kann und Jüngere sich häufig in ihren Verhaltensweisen an den Älteren orientieren (vgl. Abbildung 1, Geschwister Ebene). Wie sehr sich Geschwisterbeziehungen auf die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums auswirken (vgl. Abbildung 1, Individuelle Entwicklung) wird im Verlauf der Thesis noch erläutert (vgl. Kapitel 2.6). Jedoch werden Geschwisterbeziehungen nicht nur durch die individuelle Persönlichkeit und das Lebensumfeld unmittelbar geprägt. Furman und Buhrmester (1985) haben vier Dimensionen identifiziert, die relevante Aspekte einer Geschwisterbeziehung darstellen und beschreiben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Vier Dimensionen von Geschwisterbeziehung

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Furman & Buhrmester (1985)

Nähe und Loyalität stellen wichtige positive Aspekte einer funktionierenden Geschwisterbeziehung dar. Sie sind elementar für die Gestaltung einer vertrauensvollen Kommunikation untereinander, die durch Zuneigung und Wertschätzung gekennzeichnet ist. Darüber hinaus sind sie wichtige Ressourcen, die eine gute Beziehung zwischen Geschwistern fördern. Sie stellen ein wichtiges Fundament dar, um Sympathie und aktives Streben nach Zusammensein zu unterstützen. Ebenfalls sind diese Faktoren für das Vorhandensein von Kooperations- und Hilfsbereitschaft relevant. Laut einer empirischen Studie von Kim, McHale, Crouter und Osgood (2007) kann eine von positiv geprägte Geschwisterbeziehung bei Mädchen beziehungsweise Frauen zu weniger Anzeichen für Depressionen und einem gefestigterem Umgang mit Gleichaltrigen führen. Jedoch können Beziehungen von den Geschwistern auch individuell unterschiedlich wahrgenommen werden, sodass es möglich ist, dass nicht alle Geschwister die Beziehung als positiv von Nähe und Loyalität geprägt wahrnehmen. Ideal ist eine Beziehung, die auf gegenseitiger Loyalität und der gemeinsamen Bereitschaft zur Investition in die Beziehung basiert (vgl. Walper, et al., 2009: 25). Es gibt jedoch auch negative Faktoren, die auftreten können. Rivalität ist einer der Faktoren, der Geschwisterbeziehungen eher negativ beeinflusst. Er wird häufig mit Neid gleichgesetzt, wobei Neid laut Ley (2007) immer mit einem negativen Selbstbild einher gehe, wohingegen Rivalität durchaus auch die positive Eigenschaft des Wettbewerbs mit sich bringen könne, der die Geschwister in ihrer Persönlichkeitsentwicklung eher fördern können (vgl. Ley, 2007, 5).

Jedoch kann auch eine ungleiche Behandlung der Geschwister seitens der Eltern zu Rivalität zwischen den Geschwistern führen (vgl. Kapitel 2.7.1). Steigt die Anzahl der Geschwister, so steigt auch die Wahrscheinlichkeit von Rivalität unter den Geschwistern (vgl. Walper, et al., 2009: 26). Meistens wird Rivalität in Geschwisterbeziehungen einseitig empfunden, in der Regel von dem jüngeren Geschwisterkind, das sich ungerecht behandelt fühlt. Jedoch kann Rivalität auch positive Effekte für die Persönlichkeitsbildung haben, in dem Kinder lernen, sich von ihren Geschwistern abzugrenzen und zu behaupten (ebd.).

Gelingt dies jedoch nicht, können die Folgen massiv sein. Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt die daraus resultierende emotionale Belastungsstörung im International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD 10) als F 93.3 emotionale Störung mit Geschwisterrivalität. Dies verdeutlicht das Risiko, welches in einer zu sehr von Rivalität geprägten Geschwisterbeziehung stecken kann. Auch geschwisterliche Konflikte können sich negativ auf die Beziehung auswirken. Es konnte nachgewiesen werden, dass Geschwister mit geringem Altersabstand tendenziell in mehr Konflikte verstrickt sind, als Geschwister mit mehr Altersabstand. Weitere wichtige Aspekte, die das Konfliktpotential zwischen Geschwistern maßgeblich beeinflussen, sind Charakterzüge und individuelle Verhaltensdispositionen der Individuen (Furman und Buhrmester 1985). Konflikte müssen jedoch nicht zwangsweise zu Rivalitäten führen. Ein gewisses Maß an Konflikten ist für Geschwisterbeziehungen normal und stellt keine negative Beeinflussung dar. Ist das Konfliktpotential jedoch sehr hoch und gepaart mit mangelnder Nähe und Loyalität kann dies negative Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung des Individuums haben. Wie sich Geschwisterbeziehungen darüber hinaus auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken, wird im folgenden Abschnitt näher erläutert, welcher sich auf die Ebene B des Modells bezieht (vgl. Abbildung 1).

B: Kindebene: Die Entwicklung einer stabilen Selbstidentität ist ein wesentlicher Bestandteil des Erwachsenwerdens (vgl. Erikson 1973). Persönlichkeit ist interpersonal und wird in Interaktion zwischen Individuen entwickelt. Da Geschwister in der Regel durch das gemeinsame Lebensumfeld viel Zeit miteinander verbringen, sind sie maßgeblich an der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Geschwister beteiligt. Diese Sichtweise lässt Geschwisterbeziehungen eine weitere relevante Aufgabe zukommen. Durch die horizontale Bindungserfahrung wird die Persönlichkeitsentwicklung von Geschwistern untereinander geprägt (vgl. Sohni, 2011: 15). Auch verhilft eine positive Geschwisterbeziehung zum Ausbilden einer kooperativen Moral. Piaget erforschte 1973, dass Sinn für Gerechtigkeit und soziale Empfindungen zu einem Großteil von Kindern untereinander vermittelt werden (vgl. Piaget, 1973: S.317). Wie wichtig Geschwister für die Persönlichkeitsentwicklung sein können, zeigt sich auch bei Einzelkindern. Diese erfinden häufig Phantasiegeschwister. Auch Phantasiegeschwister können bei dem Aufbau einer eigenen Identität und der Verselbstständigung und Ablösung vom Elternhaus helfen (vgl. Sohni, 2001: 30f). Eine zu starke Identifikation mit den Eltern kann für Kinder traumatische Folgen haben, da sie ab einem gewissen Zeitpunkt feststellen werden, ihren Eltern in vielen Dingen nicht ebenbürtig zu sein. Eine Identifizierung mit Geschwistern oder Peers führt dahingegen zu einer Differenzierung gegenüber den Eltern und somit häufig zu einer positiveren Persönlichkeitsentwicklung. Zusammenfassend stellen Geschwister, neben Peers besonders in der Jugendphase einen zentralen Aspekt für die Persönlichkeitsentwicklung von Individuen dar. Eine wertschätzende Geschwisterbeziehung kann die Persönlichkeitsentwicklung positiv beeinflussen.

C: Eltern-Kind-Ebene: Wie bereits die systemische Sichtweise auf Geschwisterbeziehungen verdeutlich hat (vgl. Kapitel 2.3.1), sind Geschwister in der Regel auch in größere Handlungsrahmen integriert. Beziehungsverläufe und Handlungen können nicht separat betrachtet werden, sondern sind immer auch in größere Kontexte eingebunden. In wie weit die Eltern eine erhebliche Rolle bei der Beziehungsgestaltung von Geschwistern spielen, wird im folgenden Abschnitt verdeutlicht.

Es konnten wesentliche Verhaltensaspekte seitens der Eltern ausgemacht werden, die die Geschwisterbeziehung beeinflussen können. Die direkte Kommunikation und Handlungsweise stellt gegenüber den Kindern einen wichtigen Einflussfaktor dar. Eltern sollten hierbei individuell auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes eingehen und ihnen nach Möglichkeit mit viel Liebe und Zuneigung begegnen. Diese positiven Verhaltensmuster, die Eltern ihren Kindern gegenüber zeigen, können sich bestenfalls auch auf die Geschwister untereinander übertragen. Dies bietet Eltern die Möglichkeit, durch die Vorbildfunktion Geschwisterbeziehung positiv beeinflussen zu können. Hierzu gehört auch, dass Eltern zwar individuell auf die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder eingehen, es aber dadurch nicht zu einer Ungleichbehandlung kommen darf, bei der sich einzelne Kinder ungerecht behandelt fühlen. Werden einzelne Geschwisterkinder bevorzugt behandelt, so kann die von Boer, Goerhart und Treffers (1992) postulierte Bevorzugungshypothese in Kraft treten. Diese aus dem systemischen Verständnis stammende Hypothese besagt folgendes: Kinder und Jugendliche, die das Gefühl haben, gegenüber ihren Geschwistern benachteiligt zu werden, treten ihnen gegenüber feindseliger auf. Dies kann sich zu einer negativen bis hin zu aggressiven Geschwisterbeziehung entwickeln, da die negativen Elternerfahrungen auf die bevorzugten Geschwisterkinder übertragen werden. Der allgemeine Umgang der Eltern mit Geschwisterkonflikten spielt ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Beziehungsgestaltung. Es konnte festgestellt werden, dass zu häufiges Eingreifen seitens der Eltern Geschwisterkonflikte sogar verschärfen kann. Jedoch ist es dennoch wichtig, dass Eltern sich für die Streitigkeiten ihrer Kinder interessieren und bis zu einem gewissen Maße eingreifen. Versuchen Eltern die Streitigkeiten komplett die Kinder selbst lösen zu lassen, wirkt sich das in der Regel negativ auf die jüngeren Geschwister aus, da die Klärung auf Augenhöhe meistens zum Nachteil der Jüngeren ausfällt (vgl. Sohni, 2001, S.31f).

D: Familienebene: Konflikte in Familien können sich im Allgemeinen auch negativ auf Geschwisterbeziehungen auswirken. Konflikte sind zwar nicht prinzipiell nur negativ, sondern können auch dazu führen, dass Rechte und Pflichten in Familien neu verhandelt werden. Es kommt jedoch stark auf die Art und Weise an, wie Konflikte ausgetragen werden. Vor allem besonders aggressive und offene Konflikte können zu dysfunktionalen Familienstrukturen führen, welche sich negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken können. So äußern sich Unsicherheiten der Kinder und Jugendlichen durch die Streitigkeiten häufig sehr unterschiedlich. Die Konflikte können eher nach innen gerichtet sein, zum Beispiel durch das Auftreten von Angstzuständen oder Depressionen oder nach außen gerichtet, durch aggressive Verhaltensweisen. Diese individuellen Veränderungen wirken sich dann wiederum auch auf das geschwisterliche Verhältnis aus (vgl. Grynch und Fincham 1990). Darüber hinaus führen familiäre Konflikte dazu, dass durch die vorherrschenden Probleme das Erziehungsverhalten der Eltern oftmals beschränkt ist. Dies hat zur Folge, dass sie sich so nicht um die Konflikte zwischen den Geschwistern kümmern können, was ebenfalls zu einer Verschlechterung der Beziehung zwischen den Geschwistern führen kann. Jedoch können familiäre Konflikte und Schwierigkeiten auch positive Einflüsse auf Geschwisterbeziehungen nehmen, wie es die im Folgenden erläuterte Kompensationstheorie beschreibt.

2.5 Wichtige Theorien: Kongruenz- und Kompensationstheorie

Mit den zuvor aufgelisteten, möglichen familiären Belastungen kann in ganz unterschiedlicher Weise umgegangen werden. Zum einen werden Belastungen unterschiedlich stark wahrgenommen und bewertet, zum anderen gibt es unterschiedliche Modelle dazu, was die eben beschriebenen Belastungen mit geschwisterlichen Beziehungen machen und welche Auswirkungen dies auf die Qualität der Beziehung hat.

Es werden im Folgenden zwei Theorien vorgestellt, die die Veränderungen bei familiären Belastungen von Geschwisterbeziehungen beschreiben und erklären. Die von Schmidt- Denter und Spangler (2005) entwickelte Kongruenztheorie geht davon aus, dass sich die Bindungsqualität der familiären Subsysteme (zum Beispiel Geschwister) der Bindungsqualität der Eltern ähnelt. Positive Bindungs- und Beziehungserfahrungen zu den Eltern wirken sich also positiv auf Geschwisterbeziehungen aus, schlechte Erfahrungen negativ. Begründet wird dies mit den, sich sehr ähnelnden Bindungs- und Beziehungserfahrungen innerhalb einer Familie. Es wird davon ausgegangen, dass Kinder, die Verhaltensmuster der Eltern übernehmen und adaptieren. Können also durch familiäre Belastungen keine (ausschließlich) positiven Bindungserfahrungen zu den Eltern seitens der Kinder aufgebaut werden, so hat dies laut Kongruenztheorie auch negative Auswirkungen auf der Beziehungsebene der Geschwister (vgl. Walper et al., 2009: 43).

Ein weiteres Erklärungsmodell bietet die von Bank und Kahn (1977) entwickelte Kompensationshypothese. Diese geht, im Gegensatz zu der zuvor vorgestellten Kongruenztheorie, von positiven Veränderungen der Geschwisterbeziehung bei familiär belastenden Situationen aus. Bei der Kompensationshypothese wird angenommen, dass problematische Erfahrungen die Geschwister mehr zusammen rücken lassen, damit sie die anderen defizitären Bereiche der Familienstruktur kompensieren können. Sie suchen also gegenseitig Halt bei einander und nutzen die geschwisterliche Beziehung als Kompensationsressource (ebd.).

Diese zunächst sehr widersprüchlich erscheinenden Erklärungsmodelle müssen jedoch nicht konträr sein. So ist es durchaus möglich, dass sich durch negative Erfahrungen im familiären Umfeld Geschwisterbeziehungen zunächst intensivieren. Jedoch ist es möglich, dass sich diese Tendenzen so sehr verstärken, dass man ab einem gewissen Zeitpunkt auch missbräuchliche Züge zwischen den Geschwistern erkennen kann. Es ist feststellbar, dass mangelnde Aufmerksamkeit seitens der Eltern sich in missbrauchende Kontakte der Geschwister untereinander verwandeln kann. Die beschriebenen Annahmen wären eine Möglichkeit, beide Hypothesen miteinander vereinbaren zu können. (vgl. Walper et. al., 2009: 44f) Zur besseren Übersicht stellt die folgende Tabelle die Kerngedanken der beiden Theorien in Stichworten gegenüber.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Gegenüberstellung: Kongruenztheorie und Kompensationstheorie

Quelle: Eigene Darstellung

Des Weiteren unterliegen Geschwisterbeziehungen prinzipiell Schwankungen in der Intensität und Qualität. So ist es zum Beispiel auch möglich, dass die Beziehung zwischen Geschwistern sich nach einer Scheidung der Eltern zunächst verstärkt (Kompensationshypothese), sie sich aber nach einer gewissen Zeit auch wieder verschlechtert (Kongruenztheorie). Es gibt keine eindeutigen Belege, die eine der beiden Hypothesen ausschließen oder bestätigen, sodass je nach vorherrschender Situation und Anlagen der Familie durchaus beide Modelle Vorkommen können (vgl. Walper et al., 2009: 44).

2.6 Exkurs: Geschwisterbeziehungen im Lebensverlauf

Die Qualität und Intensität von Geschwisterbeziehungen variiert häufig in den unterschiedlichen Lebensphasen. Im Folgenden werden die typischen Entwicklungsverläufe über die Altersspanne beschrieben. Die größte Veränderung tritt bei Eltern mit der Geburt des ersten Kindes ein. Sie müssen ihr Leben neu strukturieren und sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Für Kinder tritt jedoch die größte Veränderung mit der Geburt eines Geschwisterkindes ein, da sich erst zu diesem Zeitpunkt das bisher bekannte Umfeld für sie völlig ändert. (vgl. Walper et. al., 2009: 33). Im Kleinkind- und Kindergartenalter nimmt das Interesse der älteren Kinder an ihren Geschwistern zu, da sie nun vermehrt als Spielpartner in Frage kommen. Dies führt häufig dazu, dass Geschwister mehr Zeit miteinander verbringen, was sich positiv auf die Beziehung auswirken kann. In diesem Altersabschnitt sind ältere Geschwister häufig Vorbild und Rollenmodell für ihre jüngeren Geschwister und beeinflussen darüber hinaus das Selbstbild der Jüngeren. In der mittleren bis späten Kindheit, die ungefähr der Grundschulzeit entspricht, sind Geschwister das erste Mal in der Lage, ihre Beziehung sprachlich zu definieren. Sie sind in der Lage, Konflikte besser selbstständig zu lösen, die Eltern werden dazu weniger gebraucht. Generell verbringen Kinder in diesem Lebensabschnitt weniger Zeit mit ihren Eltern, sondern legen den Fokus auf Freundschaften, sie verbringen jedoch dennoch viel Zeit mit ihren Geschwistern. Über Geschwisterbeziehungen im Jugendalter gibt es kaum empirische Befunde, obwohl diese Lebensphase besonders prägend für die Persönlichkeitsentwicklung ist (vgl. Walper et al., 2009: 33). Eine Studie von Pulakos (1989) zeigte, dass Geschwisterbeziehungen sich in diesem Altersabschnitt annähern. Bestenfalls ist die Beziehung geprägt von Autonomie und Verbundenheit. Er konnte auch nachweisen, dass die Konfliktbelastung in dieser Phase eher gering ist. Im jungen und mittleren Erwachsenenalter nimmt die Nähe zwischen Geschwistern ab und erreicht oft ihren Tiefpunkt. Dies kann dadurch begründet werden, dass der (Ehe-)Partner in vielen Fällen einen sehr zentralen Stellenwert im Leben einnimmt und man sich durch Lebensereignisse wie Hochzeit und Familiengründung oftmals voneinander entfernt. Zusätzlich findet in diesem Abschnitt häufig ein Wohnortwechsel statt und der Schwerpunkt des Einzelnen liegt bei der Verwirklichung seiner eigenen (Lebens-)Ziele. Dabei rücken Geschwister und die Herkunftsfamilie eher in den Hintergrund (vgl. Walper et al., 2009: 35). Im hohen Erwachsenenalter intensiviert sich die Geschwisterbeziehung in der Regel wieder. Dies geschieht unter anderem durch (gemeinsame) Lebensereignisse, wie den Tod von Angehörigen, den Auszug der eigenen Kinder oder die gemeinsame Pflege der Eltern. Jedoch bieten solche Ereignisse auch Konfliktpotential, wenn es zum Beispiel keine Einigung bei Haushaltsauflösungen von Angehörigen oder testamentarischen Verfügungen gibt. Der hier dargestellte mögliche Lebensverlauf von Geschwisterbeziehungen zeigt, dass diese durchaus nicht stringent verlaufen und sich im Laufe des Lebens aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen und Ereignisse ändern können. Diese Wandelbarkeit sollte auch bei der Fremdplatzierung von Geschwisterkindern berücksichtigt werden, auf die im Verlauf der Arbeit noch konkreter eingegangen wird.

2.7 Zusammenfassung

Nach den bisher gewonnenen Erkenntnissen lässt sich sagen, dass Geschwisterbeziehungen sich immer im Spannungsfeld zwischen Geborgenheit, Vertrautheit und emotionaler Nähe sowie Neid, Konkurrenz und Abgrenzung befinden. Diese vielfältigen Möglichkeiten lassen darauf schließen, dass Geschwisterbeziehungen sehr viele potentielle Ressourcen, aber auch Gefahren bergen. Diese Vielschichtigkeit wird später bei der Erstellung der Leitlinien erneut zum Tragen kommen. Gute Geschwisterbeziehungen haben ein hohes Resilienzpotential und ermöglichen Individuen das Kompensieren von schwierigen Situationen (vgl. Kompensations-theorie). Dieser Aspekt ist auch für therapeutische Ansätze von Interesse, da man dort die Ressourcen aus Geschwisterbeziehungen bei Patienten durchaus positiv für den Therapieverlauf nutzen kann (vgl. Sohni, 2011: 89).

Auch für die pädagogische Arbeit ist das Wissen über Geschwisterbeziehungen im Alltag durchaus von Relevanz. Auch hier kann es auf der einen Seite positiv genutzt werden, auf der anderen Seite aber auch als potentieller Störfaktor für die Entwicklung des Individuums wahrgenommen werden. Pädagoginnen und Pädagogen sollten bei der Arbeit mit Geschwistern für die besonderen Dynamiken sensibel gemacht werden. Auch dieser Aspekt wird Beachtung bei der Gestaltung der Leitlinien finden. Sehr tiefgreifende Geschwisterkonflikte können durchaus auch Anzeichen für negative thematische Verknüpfungen, wie Hass und Gewalt darstellen. Sind Pädagoginnen und Pädagogen sowie alle anderen Berufsgruppen die mit (Geschwister-)Kindern zusammenarbeiten für diese besondere Beziehung sensibel, so entstehen an dieser Stelle viele Handlungsoptionen, die positiv genutzt werden können (vgl. ebd.). Geschwister verbindet in der Regel eine tiefgreifende emotionale Beziehung aufgrund ihres gemeinsamen Erfahrungshintergrundes und desselben Sozialisationsumfeldes. Dieses gemeinsame Sozialisationsumfeld wird ihnen bei einer Fremdunterbringung in einer Heimeinrichtung oftmals entrissen. Das nächste Kapitel beschreibt die Rechtsgrundlagen und Lebenswelt der Heimerziehung näher. Diese Grundlagen sind relevant, da sie das Arbeitsfeld darstellen, für welches die Leitlinien konzipiert werden sollen. Es ist ebenfalls relevant, es aus der Sichtweise der Kinder und Jugendlichen zu beleuchten, um deren Lebenswelt besser verstehen zu können.

3 Heimerziehung

Sind die Lebensbedingungen im familiären Umfeld nicht ausreichend, um die entsprechende Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten, ist die Fremdunterbringung in stationären Erziehungshilfeeinrichtungen oftmals der letzte Ausweg. Vor allem traumatisierte Kinder haben besondere Anforderungen, die im familiären Umfeld häufig nicht erfüllt werden können. Oft kommt noch erschwerend hinzu, dass die Kinder und Jugendlichen ihre traumatischen Erfahrungen durch die Familie erlitten haben (vgl. Kapitel 5.3). Ist dies der Fall, so muss die Jugendhilfe eingreifen, um für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ein Lebensumfeld zu schaffen, in dem sie sich in einem geschützten Rahmen entwickeln können.

Was unter dem geschützten Rahmen im Kontext der Heimerziehung verstanden werden kann, wird im Folgenden näher beschrieben. Dazu wird zunächst die Heimerziehung näher definiert (vgl. Kapitel 3.1). Daran anknüpfend werden die für die Heimerziehung geltenden rechtlichen Grundlagen aufgezeigt. Anschließend werden die konkreten Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung näher beschrieben und der Unterschied zum Lebensumfeld Familie aufgezeigt (vgl. Kapitel 3.3). Zum Schluss wird beleuchtet, wie sich die Zusammenarbeit mit Familie und Jugendamt gestaltet und welche Faktoren diese beeinflussen (vgl. Kapitel 3.4).

3.1 Definition

Die hier gewählte Definition der Heimerziehung bezieht sich auf das im Kinder- und Jugendgesetz (KJHG) verankerte Verständnis von Heimerziehung, an welches alle Träger rechtlich gebunden sind.

Die Heimerziehung ist durch den § 34 geregelt und legt folgendes fest:

„Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern. Sie soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie:

- Eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder
- Die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder
- Eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbstständiges Leben vorbereiten.“ (KJHG § 34)

[...]

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Fremdunterbringung von Geschwisterkindern mit sexuellen Missbrauchserfahrungen
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Erziehungswissenschaften)
Note
13 Punkte
Autor
Jahr
2015
Seiten
94
Katalognummer
V920215
ISBN (eBook)
9783346262400
ISBN (Buch)
9783346262417
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschwister, sexueller Missbrauch, Trauma, Fremunterbringung, Heimerziehung, Traumapädagogik, Resilienz, Leitlinien
Arbeit zitieren
Stephanie Kaczmarczyk (Autor:in), 2015, Fremdunterbringung von Geschwisterkindern mit sexuellen Missbrauchserfahrungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/920215

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