Spielerisch lernen - Eine Unterrichtsreihe zur Förderung der Kreativität und Selbsttätigkeit beim Rechnen mit Natürlichen Zahlen im Fach Mathematik der Klassenstufe 5


Examensarbeit, 2008

86 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Entstehung und Anliegen der Hausarbeit
1.1 Eigene Erfahrungen
1.2 Eingrenzung des Themas

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Spiele und der Lehrplan Mathematik
2.2 Der Spielbegriff im Kontext Schule
2.3 Die Kategorien von Lernspielen

3. Praktische Umsetzung im Unterricht
3.1 Planung und Durchführung der Unterrichtsreihe
3.2 Vorstellung der konkreten Stundenkonzepte und der eingebrachten Spiele sowie Eindrücke aus den Stunden

4. Evaluation der Unterrichtsreihe
4.1 Die Sicht der Schüler
4.2 Aus Lehrersicht

5. Nachbetrachtung und Perspektiven – Ein Rückblick auf Entstehung und Anliegen der Hausarbeit

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang - Spielmappe
7.1 Das Spiel „Freibad“
7.2 Das Spiel „Wer kriegt die Mathe-Eins?“

Einleitung

Es ist der 27. August 2007. Geraden eben hat Europas größte Spielemesse, die Games Convention in Leipzig, ihre Pforten geschlossen. Wie jedes Jahr wurde eine Vielzahl neuer Trends im Sektor Video- und Computerspiele vorgestellt. Tausende Journalisten berichteten live aus Leipzig in die ganze Welt, während die Joysticks und Gamepads der Besucher glühten. Wieder einmal wurde ein neuer Besucherrekord aufgestellt. Weit über 150 000 Gäste haben in den vier Tagen seit dem 24. August 2007 die Leipziger Messehallen gesäumt, unzählige Staus in der Leipziger Innenstadt verursacht und Warteschlangen vor Monitoren, Leinwänden und Konsolen erzeugt. Alle diese spielebegeisterten Menschen von Jung bis Alt hatten nur eines im Sinn: Ihre Neugier und ihren Spieltrieb stillen, Neuentwicklungen ausprobieren und sich über Neuheiten im Spielesektor zu informieren.

Mittlerweile stößt die Games Convention aber an ihre Kapazitätsgrenze. Weil nervende Warterei und Gedrängel in den Messehallen Leipzigs in den letzten Jahren zunahmen und den Spaß am Spielen rauben, ist ein Umzug der Spielemesse in größere Ausstellungsräume mit mehr Platz längst beschlossene Sache. Außerdem haben sich Aussteller und Veranstalter des Erfolgsproduktes Games Convention ein großes Ziel gesetzt: Sie wollen ihr Kundenklientel erweitern. Neben den traditionellen Zielgruppen Kinder, Jugendliche und Männer sollen nun auch Frauen und Kleinkinder angesprochen werden. Dies will man mit einer teilweisen Umorientierung des Spielemarktes erreichen. Neben den traditionellen Simulationen, Fantasy– und Adventure – Games, Egoshootern und Rollenspielen sollten 2007 auch erstmals Gesellschafts- und Lernspiele für Familien und die ganz Kleinen in die Messe integriert werden. Man darf gespannt sein, ob das Konzept aufgeht.

Statistiken belegen zumindest, dass Kinder in ihren ersten vier Lebensjahren über zehntausend Stunden spielen. Indem sie noch unbewusst handeln, beginnen sie bereits in dieser ersten Phase ihres Lebens damit, sich auf spielerische Art und Weise die Realität anzueignen, bevor sie später bewusster handeln und sich damit einen Entwicklungsraum für Phantasie und Kreativität schaffen.[1]

Mit fortschreitendem Alter sollte für die Kinder und Jugendlichen dann die Möglichkeit geschaffen werden, soziales (und emanzipatorisches) Handeln auszubilden. Die Heranwachsenden beginnen, ihr eigenes Tun zu analysieren, zu reflektieren und in Phasen von Kooperation und Kommunikation Spiele entschiedener zu bewältigen.[2] Schon zu Zeiten der Aufklärung erkannte der richtungweisende Spielpädagoge Fröbel, welch immense Bedeutung Spielen für die geistige Entwicklung von Kindern zukam: „Spiel ist die früheste Form der geistigen Bildung. Durch das Spiel wird die Welt entdeckt und erobert.“[3]

Szenenwechsel. Es ist der 19.12.2007 in Erfurt. Es ist 7.15 Uhr, fünfzehn Minuten vor Beginn des Mathematikunterrichts in der Klasse 5a des Gutenberg-Gymnasiums. Ungewohnt viele Schüler sind bereits im Klassenraum und schauen neugierig von Platz zu Platz. Spiele türmen sich auf den Bänken. Das reichhaltige Angebot reicht von Brettspielen über Quiz – Spiele bis hin zu Mathe-Jepoardy und Rechen – Domino. Wo sich sonst die Jungs um Alexanders Gameboy drängeln, um ihm beim Meistern immer höherer Level von virtuellen Jump´n Run – Spielen zu beobachten und die Mädchen der Klasse verschlafen vor sich hin träumen oder das Gespräch mit ihresgleichen suchen, herrscht heute helle Aufregung. Ein bisschen erinnert das bunte Treiben an eine kleinere Version der Games Convention im Klassenzimmer. Jeder Schüler und jede Schülerin sollten bis heute ein eigenes Spiel erfinden, es gestalten, sich Spielregeln dafür überlegen. Wichtigste Bedingung war aber, dass das Spiel für den Mathematikunterricht genutzt werden kann. Mit Begeisterung hatte sich ein jeder in den letzten Tagen ans Werk gemacht, getüftelt, gebastelt und oft beim Lehrer noch einmal vergewissert, ob das Spiel wirklich so, wie man es sich gedacht hat, entworfen werden kann. Und heute nun werden die Ergebnisse präsentiert. Jeder darf sein eigenes Spiel vorstellen und die Schüler lauschen aufmerksam einander. Erstaunen, Bewunderung oder ein Schmunzeln über die Spielidee sind die häufigsten Reaktionen auf die Präsentationen der Mitschüler. Artig zollt ein jeder dem Mitschüler in Form eines kleinen Applauses seinen Respekt für die Leistung. Am Ende melden sich ausnahmslos alle Schüler und Schülerinnen auf die Frage des Lehrers, wer die Spiele im Unterricht selbst einmal ausprobieren wolle. Diese kleine Version der Games Convention neigt sich um 8.15 Uhr mit dem Pausenklingeln dem Ende, zuvor haben die Schüler noch ihre Erfahrungen der letzten Wochen mit Spielen im Mathematikunterricht reflektiert. Ingesamt zeigt sich bei den Schülern eine ausnahmslos positive Resonanz, verbunden mit der Bitte, auch in Zukunft noch hin und wieder spielen zu dürfen.

Michelle, die Klassensprecherin der 5a, kommt nach dem Unterricht noch auf mich zu und meint: „Herr Dietz, die vielen Spiele haben sehr viel Spaß gemacht und unter uns gesagt, mache ich im Moment viel lieber Mathematik als Englisch oder Deutsch.“ Mit einem Lächeln verlässt sie den Raum und hinterlässt einen zufriedenen und klein wenig stolzen Mathematik – Lehramtsanwärter.

1. Entstehung und Anliegen der Hausarbeit

1.1 Eigene Erfahrungen

„Das Spiel bindet und löst. Es fesselt, es bannt, es bezaubert.“[4] Spiele finden in jedem Lebensalter Anklang. Während Kleinkinder spielend die Welt entdecken, ist für den Heranwachsenden der Besitz eines Gameboys schon ein Statussymbol. Im kleinen oder großen Kreis treffen sich generationsübergreifend Familien und Freunde, um gemeinsam ihrer Leidenschaft zu fröhnen und fernab vom Alltag zu entspannen. Traditionelle Skatabende, familiäre Romée-Runden und inszenierte Pokerduelle erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Die traditionellen Spieleklassiker wie „Mensch ärgere dich nicht“ oder „Monopoly“ dürfen auch in keinem Haushalt fehlen. Der Spieleboom hält an. Ständig flimmern Spielshows wie „Wer wird Milionär?“, „Quiz-Taxi“, „Deal or no deal“ oder „Wetten dass“ über die Mattscheibe, sorgen für Rekordeinschaltquoten, indem sie den Spielgedanken geschickt in ein ansprechendes Unterhaltungsformat einbinden und mit großen Sach- oder Geldpreisen locken.

„Spiele machen Spaß, sie sind spannend und entspannend zugleich. Sie erlauben, für eine gewisse Zeit aus der Realität in eine fiktive Welt abzutauchen.“[5] Sie regen die Kreativität und Phantasie an und erlauben, für einen Moment lang dem stressigen oder ernüchternden Alltag zu entfliehen: Ein berühmtes Zitat Mark Twains unterscheidet Spiel und Alltag treffend: „Arbeit ist das, was man tun muss, und Spiel ist das, was man nicht tun muss.“[6] Eigen und Winkler resümieren über die Bedeutung von Spielen: „Der Mensch ist Teilnehmer an einem großen Spiel, dessen Ausgang für ihn offen ist. Er muss seine Fähigkeiten voll entfalten, um sich als Spieler zu behaupten und nicht Spielball zu werden.“[7]

Ein wenig erinnert dieses Zitat auch an den Alltag in der Schule. Jeder, der die Bedeutung guter schulischer Leistungen erkannt hat, lernt und müht sich nach Kräften, um mit einem guten Abschluss den gewünschten Ausbildungsplatz oder den Studienplatz vor der Haustür zu erhalten. Und doch ist Schule eine Zwangsveranstaltung. Es besteht die gesetzlich verankerte Pflicht, die Schule zu besuchen. Dabei drängt sich leicht der Gedanke auf, die Pflichtveranstaltung Schule mit spielerischen Elementen aufzulockern und für alle Beteiligten erträglicher zu gestalten: „Der Gedanke, den Eifer, mit dem sich Kinder ihren Spielen hingeben, pädagogisch zu nutzen, ist so alt wie die Pädagogik selbst.“[8]

Leider sieht der Alltag in den meisten Schulen anders aus. Während meiner Hospitationen sowohl in den studienbegleitenden Praktika als auch in meinem Referendariat musste ich feststellen, dass Spiele im Mathematikunterricht nur spärlichen Einsatz finden. Triftige Gründe dafür werden von den betreffenden Lehrern nur wenige genannt: Dass in der Sekundarstufe II der zeitlich eng bemessene Lehrplan bis hin zum Abitur den Einsatz von Lernspielen verhindert, mag einzusehen sein, aber dass die Lehrer Angst als Grund angeben, die Schüler könnten aus dem Alter heraus sein, in dem Spiele für sie bedeutsam seien, erscheint mehr als fraglich. Der Aufgabe, eine angemessene Auswahl altersgemäßer Spiele (auch für Schüler der Thüringer Oberstufe) zu treffen, muss sich ein Lehrer in der heutigen Zeit stellen.

Oftmals finden Spiele nur in Überbrückungsphasen wie Vertretungsstunden, im Rahmen von Projektwochen oder in den letzten Stunden vor längeren Ferienzeiten Anwendung. Gründe dafür sind nach Aussagen erfahrener Lehrerkollegen die Tatsache, dass bei Lehrern und Schülern gleichermaßen die Motivation für den zu vermittelnden Lehrplanstoff in solchen “Nischenstunden“ gegen den Wert Null strebt und die Sorge um die wachsenden disziplinarischen Verstöße von Schülern, für die Stunden geöffneten und offenen Unterrichts besonders gefährdet scheinen. Ulrich Baer beschreibt diese Ängste von Mathematiklehrern so: ,,Besteht nicht auch die Gefahr, dass uns die Schülergruppe ausflippt und wir sie nur schwer wieder in den Griff bekommen? Lernen im Spiel mag ja manchmal wirksamer sein, stellt sich aber doch oft als langwieriger heraus.“[9] Dabei stellt er die Vorzüge des Einsatzes von Spielen den Hemmnissen direkt gegenüber: „Beim Spiel findet Lernen lustvoll, intrinsisch motiviert, unsystematisch und oftmals unmerklich statt.“[10] Leider hält auch einige Lehrer der vermeintlich größere Aufwand davon ab, Spiele in ihren Unterricht einzubinden. Die zeitaufwendige Vorbereitung des Spielmaterials, der Entwurf dafür nötiger Fragen und der organisatorische Aufwand, eine geeignete Spielatmosphäre durch eine Veränderung der Sitzarrangements in den Klassenräumen zu schaffen bzw. den Transport der Spielbretter, -figuren und sonstigen Utensilien an den Spielort zu realisieren, schreckt weitere Lehrer ab, geeignete Spiele im Unterricht einzusetzen.

Dabei hat der Einsatz von Spielen im Unterricht auch eine unschätzbar große Bedeutung für das im Zuge von PISA und TIMSS so dringend geforderte erfolgreiche Lernen. Ein Ergebnis der jüngeren Hirnforschung ist nämlich „die positive emotionale Tönung von Lernsituationen.“[11] Darauf, dass Spielen in seinen ganz unterschiedlichen Formen „eine attraktive und effektive Lernform der Sekundarstufe I“ sein kann und „viele Spielformen zu einer Lern-Intensivierung beitragen können“, wiesen Paradies und Meyer schon 1994 hin.[12]

Warum Spiele aber, wenn überhaupt, vorwiegend in der Sekundarstufe I eingesetzt werden, bleibt auch zu ergründen. Vermutlich, so der Pädagoge und Spielerfinder Ulrich Baer, fällt es vielen Lehrern schwer, die traditionell gewohnte stark lenkende und anleitende Rolle des Lehrers mit der des moderierenden Spielleiters oder Animateurs (zumindest zeitweise) zu tauschen, um damit das Heft des Handelns vermehrt in die Hände der Schüler zu geben: „Gerade das Medium Spiel verlangt Flexibilität und Lockerheit statt des Beharrens auf einer vorgeplanten oder systematischen Vorgehensweise.”[13]

Ich bin mir trotz dieser ernüchternden Erfahrungen mit dem Medium Spiel in der Schulpraxis sicher, dass es in Zukunft für viele Lehrer darauf ankommen wird, Spiele als effektives und in hohem Maße motivierendes Unterrichtswerkzeug schätzen zu lernen. Nur durch das Auseinandersetzen mit den Potentialen und Chancen spielerischer Unterrichtsformen und durch das Aufbringen des Mutes, Spiele im Unterricht zu testen, kann ein Lehrer langfristig den Ansprüchen, die an ihn gestellt werden, gerecht werden. Im Zuge einer wachsenden Schülerorientierung darf der Lehrer nicht den Fehler machen, die Verantwortung für den Erfolg des Lernprozesses des Schülers und die Selbstbestimmung dessen selbst zu verwalten, sondern muss zunehmend bereit sein, diese in Schülerhände abzugeben. Nur dadurch können langfristig die heute nötigen Schlüsselqualifikationen wie Selbstorganisation, Teamwork, Konsensfindung etc. ausgebildet werden. Diese Arbeit stellt es sich daher auch zum Ziel, einen Weg aufzuzeigen, wie Spiele gewinnbringend im Unterricht Anwendung finden können und in Zusammenarbeit mit den Teilnehmern der Lerneinheit, den Schülern selbst, kritisch zu reflektieren, was im Lernprozess als positiv empfunden wurde und damit verstärkt werden muss und welche Defizite abgestellt werden müssen.

1.2 Eingrenzung des Themas

Freilich kann diese Arbeit nur einen kleinen Beitrag dazu leisten, aufzuzeigen, wie sinnvoll und gewinnbringend der Einsatz vielfältiger Spielformen im Unterricht sein kann, und einen Weg skizzieren, wie ganz konkret ausgewählte Spiele Anwendung finden können. Andererseits können viele Aspekte nur kurz angerissen werden, so dass auf das umfassende Literaturangebot im Anhang verwiesen werden muss.

Spiele sollen in meiner Arbeit im Hinblick auf deren fördernde Funktion beim fachspezifischen Lernen untersucht werden. Das bedeutet, dass die betrachteten Spiele zweckgebunden und zielgerichtet sein sollen. Damit soll ausgeschlossen sein, dass Spiele betrachtet werden, die dem Selbstzweck verfallen. Da räumliche und zeitliche Faktoren die praktische Umsetzung dieser Arbeit eingeschränkt haben, müssen auch weiterführende Analysen der Thematik ´Spiele im Mathematikunterricht` im Hinblick auf deren optimierten Einsatz in Vertretungsstunden oder ein mögliches „Projekt Spiele“ mit interessierten Schülern außen vor bleiben. Hauptgegenstand der Betrachtung sollen ausschließlich Lernspiele für das Fach Mathematik sein, so dass bestimmte, später noch thematisierte Spieltypen wie Rollenspiele, Symbolspiele, Planspiele, Musik-, Theater- oder Sportspiele keine Behandlung finden werden. Bei den von mir eingesetzten Spielen wird es sich vielmehr um sogenannte „Regelspiele“ handeln. Darauf wird in Kapitel 2 noch genauer eingegangen.

Für die praktische Erprobung meiner theoretisch erarbeiteten Thesen und der ausgewählten Spiele ist eine 5. Klasse am Gutenberg-Gymnasium ausgewählt worden, die ich seit Schuljahresbeginn 2007/08 bedarfsdeckend unterrichte. Die als weitgehend leistungshomogen einzuschätzende Lerngruppe hat sich aus folgenden Gründen ideal für die Untersuchung geeignet:

1. Der Lehrplan Mathematik für Gymnasien formuliert in seinen allgemeinen Bildungszielen für das Fach Mathematik:

- Entwicklung der Bereitschaft und Fähigkeit zu kommunizieren und zu kooperieren
- Förderung von Kreativität und Phantasie
- Entwicklung eines selbstständigen Problemlöseverhaltens[14]
Außerdem ist in den Lerninhalten der Klassenstufen für die Klassenstufe 5 zu finden:
- Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, und Kooperationsbereitschaft können vor allem durch Partner- und Gruppenarbeit gestärkt werden.15

Zu prüfen, ob diese ausgewählten Bildungsstandards und Ziele für die Klassenstufe 5 durch spielerische Unterrichtsformen in besonderem Maße gefördert werden, gehört zu den Hauptintentionen meiner Arbeit.

2. Der Lehrplan für Gymnasien in Mathematik der Klasse 5 weist ein besonders hohes Maß an bereits bekannten Themen der Grundschule auf, die wiederholend geübt und gefestigt werden sollen: „Nach dem Übergang aus der Grundschule ins Gymnasium geht es in der Klassenstufe 5 darum, gemeinsame Arbeits- und Lernformen zu finden und ein einheitliches Niveau in Bezug auf inhaltliche Anforderungen und Arbeitstempo zu schaffen. In Klassenstufe 5 wird im Kopfrechnen, in der Anwendung schriftlicher Rechenverfahren mit natürlichen Zahlen und Größen Sicherheit erreicht.“[15]

Da speziell die Themenbereiche 5.1 „Rechnen mit natürlichen Zahlen“ und 5.2 „Größen“ Freiräume bei der Wahl der Übungs- und Festigungsformen bieten, und der Lehrplanumfang auch zeitlich nicht zu knapp bemessen ist, können spielerische Elemente leicht in den Mathematikunterricht eingebaut werden.

3. Die Klasse 5 besucht im ersten Jahr der Thüringer Orientierungsstufe am Gymnasium, ist daher an der Schule neu und besonders aufgeschlossen für neue, aus dem Grundschulbereich schon teilweise gewöhnte, offene Unterrichtsformen.

Zusammenfassend kann eingegrenzt werden, dass die Arbeit sich auf folgende Kernbereiche konzentriert:

- die theoretisch erarbeiteten, vielfältigen Potentiale von Spielen im Unterricht zu ergründen,
- einen Weg vorzuschlagen, wie spielerischen Elementen ein größerer Stellenwert im Unterricht eingeräumt werden kann und inwiefern der Einsatz besonders effektiv erfolgen kann,
- Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Lernende in hohem Maß selbstständig und eigenverantwortlich arbeiten können,
- zu prüfen, ob Lernende der Klassenstufe 5 durch spielerische Übungsformen möglicherweise so einen größeren Lernerfolg verbuchen und
- zu prüfen, ob die Schüler durch den spielangeleiteten Unterricht und Erfahrungen des Gewinnens und Verlierens von Spielen einen Zuwachs an sozialer Kompetenz erlangen.

2. Theoretische Grundlagen

Die nachfolgenden Ausführungen knüpfen direkt an die erarbeiteten Thesen aus dem vorhergehenden Abschnitt 1 an. Auch wenn der Fokus dieser wissenschaftlichen Arbeit auf der praktischen Umsetzung der Unterrichtseinheit „Spiele“ im Kapitel 3 und deren differenzierter Auswertung in den Abschnitten 4 und 5 liegt, ist meiner Ansicht nach eine fundierte theoretische Analyse der Literatur im Hinblick auf den Kenntnisstand bei Lernspielen im Mathematikunterricht vonnöten, um im Unterricht gemachte Beobachtungen zu deuten und daraus Schlussfolgerungen ableiten zu können. Deswegen werde ich mich der theoretischen Analyse des Spielbegriffs, seinen didaktischen Funktionen, den Merkmalen und Arten von Spielen detailliert widmen und aufmerksam prüfen, wie häufig und intensiv dem Lerngegenstand Spiele in der Literatur Beachtung geschenkt wurde. Zuerst soll erforscht werden, ob und wie tief spielerische Unterrichtsformen Eingang in den Thüringer Lehrplan gefunden haben, bevor die weiteren theoretischen Ausführungen den aktuellen wissenschaftlichen Stand des Themas wiedergeben.

2.1 Spiele und der Lehrplan Mathematik

Lehrpläne haben Weisungscharakter und binden den Lehrer an diesen. Die oberste Schulaufsichtsbehörde schreibt verbindlich fest, welche Ziele und Aufgaben der Staat den Schulen gibt.[16] Die ausführliche Analyse des Lehrplans Mathematik für Gymnasien des Landes Thüringen ergibt keinen eindeutigen Verweis auf den Einsatz von Spielen im Unterricht, mit Ausnahme des Unterrichtsthemas Stochastik IV „Zufallsgrößen und Wahrscheinlichkeitsverteilungen“ in Klassenstufe 10. Hierbei geht es aber um die Charakteristika von „fairen Spielen“[17], deren Bedingungen durchdrungen werden wollen, anstatt um den Einsatz von spielerischen Elementen im Hinblick auf Erkenntniszuwachs und Festigungsfortschritt. Trotzdem lassen sich vielfältige Hinweise auf offene Unterrichtsformen im Mathematikunterricht finden, die Interpretation der Einbindung in den Unterricht bleibt der in der Literatur vielfach diskutierten ´pädagogischen Freiheit` des Lehrers überlassen. So steht bereits im Vorwort des ehemaligen Kultusministers Dieter Althaus: „Die Thüringer Lehrpläne bieten Freiräume für offenen Unterricht, fächerübergreifendes Lehren und Lernen, Problemorientierung, Projektarbeit und Praxiserfahrungen ebenso wie für innere Differenzierung, individualisiertes Lernen sowie die Anwendung traditioneller und neuer Medien.“[18] Offene Unterrichtsformen im Kontext eines modern konzipierten Mathematikunterrichts aufzugreifen und damit einen hohen Grad selbst gesteuerten und eigenverantwortlichen Lernens bei den Schülern zu erreichen, dazu wird in diesem Abschnitt motiviert. Althaus bekräftigt die Zielstellung der Herausbildung einer modernen, den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepassten Schülerrolle im nächsten Abschnitt sogar noch: „Die zu Grunde liegende Konzeption hat zum Ziel, die Schüler zum Handeln zu befähigen. Die Lehrpläne sollen zur schulinternen Kommunikation und Kooperation anregen, um zur Qualitätsverbesserung und Entwicklung jeder einzelnen Schule im Freistaat beizutragen.“[19]

In den Grundgedanken für die Unterrichtsgestaltung in Mathematik findet man weitere Hinweise auf offenen Unterricht in folgenden Zielstellungen:

- individuelles und gemeinsames Lernen in verschiedenen Arbeits- und Sozialformen,
- Förderung von Kommunikation sowie von kritischem Umgang mit Informationen und Medien,
- Gestaltung eines Unterrichts, der die Interessen und Neigungen von Mädchen und Jungen in gleichem Maße anspricht und fördert.[20]

Die von mir in der 5.Klasse eingesetzten Spiele – vor allem das modifizierte Spiel „Freibad“ – leisten in Grundzügen einen Beitrag zur Ausprägung von Basisqualifikationen für eine allgemeine Studierfähigkeit wie:

- einen Sachverhalt präzise (und ohne Redundanz) auszudrücken,
- komplexe Sachtexte verstehend zu lesen,
- sicher mit mathematischen Symbolen und Modellen umzugehen.[21]

So besteht das Spiel „Freibad“ aus den Aufgabenfeldern Begriffe, Addition und Subtraktion, Größen und Knobeleien, die allesamt darauf abzielen, „im Kopfrechnen, in der Anwendung schriftlicher Rechenverfahren mit natürlichen Zahlen und Größen Sicherheit zu erreichen.“[22] Inhalt, Form und Formulierung der Fragen sind so mit den Schülern vereinbart worden, dass sich die Themenfelder oftmals kaum einem Gebiet allein zu ordnen lassen, sondern einander durchdringen und damit das komplexe Verständnis auf verschiedenen geistigen Ebenen fördern. Detaillierte Ausführungen zu diesem Spiel finden sich im nachfolgenden Kapitel 3 bei der praktischen Umsetzung des Themas im Unterricht.

Auch der Lehrplanabschnitt 2.1, in dem es um die konkreten Ziele und Aufgaben des Mathematikunterrichtes geht, deckt sich in weiten Teilen mit dem Anliegen der Unterrichtseinheit Spiele, denn darin wird „eine nachhaltige Erweiterung der Selbstkompetenz mit stark positiver Prägung der Schülerpersönlichkeit“ gefordert. „So wird von den Schülern beim Erlernen von Grundkenntnissen systematisches und gründliches Arbeiten verlangt. Desgleichen werden Hartnäckigkeit und Willensstärke beim Überwinden von Schwierigkeiten in komplexeren Aufgaben sowie die Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik kontinuierlich entwickelt.“[23]

Im Rahmen meiner Schwerpunktstunde im Bereich der Übungsspiele wurden die benannten Aspekte zur Entwicklung von Selbstkompetenz bestmöglich berücksichtigt. Außerdem hat diese Stunde, bei der die Schüler durch das Spiel „Freibad“ Unterrichtsinhaltein komplexer Form wiederholten, auch einen Beitrag zur Entwicklung von Methodenkompetenz geleistet. Gemeinsam mit den weiteren Spielen „Mathematisches Ruck-Zuck“, „Wer erhält die Mathe-Eins?“ oder „Lebendes Mühlenspiel“ sind Begriffe sinngemäß definiert, erhaltene Ergebnisse dem Sachverhalt entsprechend gewertet und Strategien entwickelt worden, die den weiteren Spielverlauf geprägt haben. Ausgewählte Kriterien der Methodenkompetenz werden im Thüringer Lehrplan wie folgt benannt:

Die Methodenkompetenz im Mathematikunterricht umfasst neben dem Beweisen und dem oben erläuterten Problemlösen weitere Fähigkeiten wie

- Begriffe exakt definieren,
- Zusammenhänge graphisch darstellen,
- Lösungswege bewusst auswählen und kritisch reflektieren,
- formal erhaltene Ergebnisse dem Sachverhalt entsprechend werten,
- Rechenhilfsmittel effektiv einsetzen.[24]

Interessant ist für den thematischen Kontext noch, dass beim Problemlösen „viele kreative Elemente wirksam werden.“24

Auch die Entwicklung von Sozialkompetenz wird neben der inhaltlich gesteuerten und angestrebten Erweiterung von Sachkompetenz im Lehrplan thematisiert: „Die Aufarbeitung und Lösung von Problemen ist in der Regel keine Aktivität der Einzelperson, sondern setzt Erfahrungsaustausch sowie interaktive Formen des Lernens voraus. Gruppen- und Teamarbeit beeinflussen das Sozialverhalten nachhaltig positiv.“24

Auch hier könnten die benannten Merkmale direkt Zielstellungen für spielerische Unterrichtseinheiten entnommen worden sein. Der Lehrplan verweist auch darauf, bestimmte Gesichtspunkte zur Entwicklung der angestrebten Kompetenzen unbedingt in der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen: „Die Schüler sollen Möglichkeiten erhalten, selbstständig Erfahrungen zu sammeln und praktische Handlungen auszuführen (auf Selbstständigkeit orientierter Unterricht). Durch den gezielten Einsatz unterschiedlicher Lern- und Sozialformen sollen die Schüler die Fähigkeit erwerben, miteinander zu lernen, zu arbeiten und zu leben, Verantwortung wahrzunehmen und solidarisch zu handeln. Die Schüler sollen Möglichkeiten erhalten, in täglichen, vielfältigen und komplexen Übungen ihr mathematisches Wissen und Können zu festigen und Wissen und Können aus verschiedenen Themenkreisen und Stoffgebieten miteinander zu verbinden.

Außerdem haben alle Schüler haben Anspruch darauf, ... optimal gefordert und gefördert zu werden. Deshalb sind ... Formen der inneren Differenzierung im Mathematikunterricht in die Planung einzubeziehen. Insbesondere sollen Differenzierungsmaßnahmen im Rahmen der Übungsformen erfolgen.[25] Viele Aspekte davon habe ich versucht, in den gehaltenen Stunden zu berücksichtigen. So wurden in Abhängigkeit des Schwierigkeitsgrades eines Spiels die Spielregeln z.B. beim „Lebendigen Mühlespiel“ variiert oder leistungsstarke Schüler beim Spiel „Freibad“ als Experten herangezogen, um Schiedsrichterentscheidungen zu treffen und ihnen damit ein höheres Maß an Verantwortung zu übertragen. Beim Spiel „Trio“ ging es nicht nur darum, sicher im Kopf rechnen zu können, sondern kreative Wege zur Lösung in möglichst kurzer Zeit zu beschreiten.

Weitere Unterrichtsstunden stehen als pädagogischer Freiraum zur Verfügung. Dieser gibt dem Lehrer die Möglichkeit, neue methodische Wege zu erproben.[26] An gleicher Stelle wird auf Unterrichtsprojekte und den Computereinsatz verwiesen, sicherlich könnten auch spielerische Formen an dieser Stelle beispielhaft benannt werden.

Insgesamt lässt das offen strukturierte Curriculum des Freistaates Thüringen für den gymnasialen Unterricht in Mathematik also reichlich Spielraum für den Einsatz alternativer und offener Unterrichtsformen. An vielen Stellen wird auf die Möglichkeit verwiesen, pädagogisch ungezwungen zu experimentieren, immer das Wohle und die individuelle Förderung der Schüler im Blickfeld. Trotzdem findet ein konkreter Verweis auf den spielerischen Medieneinsatz an keiner einzigen Stelle des Lehrplans statt, was vermuten lässt, dass Spiele im mathematischen Unterricht wenig Berücksichtigung finden. Leider messen viele Lehrerkollegen Spielen geringe Bedeutung bei der alltäglichen Unterrichtsgestaltung bei, wofür im Abschnitt 1.1 bereits Gründe angegeben wurden.

Doch dann bleibt auch fraglich mit welchen anderen Methoden die im Lehrplan verankerten Zielsetzungen der Klassenstufe 5 nach „Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit und Kooperationsbereitschaft“[27] erreicht werden sollen. Allein mit Partnerarbeitsphasen und Gruppenarbeiten wird dies nur schwerlich möglich sein. Es bleibt abzuwarten, ob die Neustrukturierung der Thüringer Oberstufe und die sukzessive erst danach eingeleitete Modifikation der Sekundarstufe I im Fach Mathematik spielerischen Elementen im Unterricht eine größere Bedeutung beimisst. Leider trägt der insgesamt magere theoretische Erkenntnisstand zu Spielen im Mathematikunterricht nicht zu einer Besserung der allgemeinen Situation bei. Im folgenden Abschnitt werden dieser magere theoretische Fundus analysiert und wesentliche Aspekte zu Spielen unter die Lupe genommen.

2.2 Der Spielbegriff im Kontext Schule

Babies spielen mit ihren Fingern und mit der Rassel, Kinder schaukeln, spielen mit Murmeln, mit Puppen, mit Autos, spielen Kriegen oder Verstecken, Musikinstrumente, Fußball, Theater, Schach oder Computerspiele, knobeln und lösen Kreuzworträtsel, Erwachsene spielen außerdem Lotto.“[28] Spiele besitzen eine große Handlungsbreite, sie vereinen ein weites Spektrum menschlicher Aktivitäten. Seit Jahrhunderten wird versucht, diese Vielfalt von Spielen unter eine definitorische Aussage zu bringen.

Scheuerl spricht vom Spiel „als einer nicht weiter ableitbaren primären Lebenskategorie“[29], von Sutton – Smith wird das Wesen von Spielen als „ein Teilbereich freigewählter Verhaltensformen, die einen selektiven Mechanismus einschließen, welcher die üblichen Machtbeziehungen umkehrt und damit dem Subjekt eine kontrollierbare und dialektische Simulation maßvoll unbewältigter Erregungen und Erregungsreduktionen des täglichen Lebens in einer entweder belebenden oder euphorischen Weise ermöglicht“[30], charakterisiert. Heute hat sich offene Definition des Begriffs Spiel durchgesetzt: „Spielen ein Urphänomen, das durch neun wiederkehrende zentrale Merkmale beschrieben werden kann:

1. Spielen erfordert einen freien Raum, weil es selbst frei von fremden Zwecken ist.
2. Spielen ist in sich zielgerichtet.
3. Spielen findet in einer Scheinwelt statt.
4. Spielabläufe sind mehrdeutig und offen.
5. Spielen schafft eine handelnde Auseinandersetzung mit Mitspielern oder dem Objekt.
6. Spielen erfordert Anerkennung von Spielregeln.
7. Im Spiel müssen gleiche Rechte- und Gewinn- oder Beteiligungschancen für alle Mitglieder bestehen.
8. Spiele erfüllen sich in der Gegenwart.
9. Spielen macht Spaß.[31]

Auf die zentrale Analyse der neun Kategorien soll an dieser Stelle verzichtet werden, weil es für diese Arbeit viel wertvoller ist, auf die Affinität von Spielen/Lernspielen im Lernumfeld Schule einzugehen.

Die lange Zeit in der Lehreraus- und -fortbildung arbeitende Grundschulpädagogin Inge Büchner bringt die nahe Verwandtschaft von Spielen und Lernspielen auf den Punkt: „Spielend lernen heißt eigentlich, ohne viel Mühe, ohne Stoff- und Leistungsdruck Wissen zu erwerben, Bekanntes und Unbekanntes zu erkennen, Neues zu erfahren. Und Spaß macht es, weil nicht vordergründig die Wissensvermittlung steht.“[32] Diese mit dem eben thematisierten Kriterienkatalog Hilbert Meyers eng kohärente Definition für Lernspiele lässt sich problemlos auch auf den gymnasialen Bereich übertragen. Eigentlich kann der Lernprozess der Schüler also komfortabler kaum sein: Neues und Unbekanntes wird ohne Mühe und mit viel Spaß von den Lernern erfahren. Und doch ergibt sich ein Widerspruch: Der Lehrer wird von der Zweckgebundenheit des Spiels geleitet, weil er seine Stunden- und Prozessziele zu erreichen sucht, während der Schüler spielerische Unterrichtsformen als zweckfrei erleben soll, um ohne Druck zu lernen. Können demnach Spiele in ihrer ganzen Vielfalt überhaupt Eingang in die Schule und den Mathematikunterricht finden?

Die Herausgeber des Friedrich-Jahresheftes XIII „Spielzeit“ gelangen zu folgendem Urteil: „Spielen ist nicht die Gegenwelt des Lernens, sondern ein Teil, eine Erscheinungsform von Lernen. Spiele sind ein Acker für Kreativität, für Intuition, aber auch für Konzentration und Ausdauer, für Phantasie und Intensität.“[33] Auch andere Pädagogen ersticken den Zweifel der aufgeworfenen Frage im Keim und plädieren genau wie die moderne Spielpädagogik für den Einsatz von Spielen im Fachunterricht: „Nicht dass der das Spiel organisierende Lehrer nicht mit ihm gewisse Ziele verknüpfen dürfte. Das alles stört den spielerischen Charakter so lange nicht, wie der Spielende selbst seine Freude allein aus dem Tun und seinem subjektiven Erfolgserlebnis ziehen kann.“[34]

Nun wird sicherlich jeder schon einmal beobachtet haben, dass ein Spiel für den einen noch lange keines für jeden anderen sein muss. Während ein Schüler lustvoll und stundenlang nahezu unerschöpflich an einem Zauberwürfel knobelt oder einen Lösungsansatz für den „Turm von Hanoi“ sucht, so sind diese Spiele für andere Schüler eher eine Qual und sie verlieren schnell das Interesse, weil Erfolgserlebnisse fehlen. Diese Erfahrung machte ich auch bei einigen meiner im Unterricht verwendeten Spiele. Beim mathematischen Ruck-Zuck, bei dem um das möglichst zügige und einfache Erklären eines mathematischen Begriffs ging (auf dem Niveau meiner Klassenstufe 5 z.B. Addition, Variable, Term, Gleichung, Quadrat, ´kleiner als` etc.) konnten einige Schüler gar nicht genug bekommen und wollten immer wieder spielen, während andere lieber stiller Beobachter des Treibens sein wollten oder darum baten, lieber das vorherige Spiel noch einmal zu wiederholen. Die Pädagogen Jörg Krampe und Rolf Mittelmann bezeichnen dieses Phänomen als die „subjektive Einstellung der Kinder zum Spiel“[35] und plädieren dafür, statt objektiver Merkmale des Spieles wie bei Hilbert Meyer besser subjektive Einstellungen der Schüler anzugeben, nach denen ein Schüler Tätigkeiten im Unterricht als Spiel auffasst. Aktivitäten des Mathematikunterrichts werden dann als Spiel wahrgenommen, wenn möglichst viele der folgenden Kriterien erfüllt sind:

Kriterium1: Dem Schüler sollte ein möglichst großer Freiraum für eigene Entscheidungen eingeräumt werden.

Kriterium2: Ein für den Mathematikunterricht unüblicher Handlungsablauf sollte dargestellt werden oder enthalten sein.

Kriterium3: Während des Handlungsablaufs sollten immer kleine Erfolgserlebnisse vermittelt werden.

Kriterium4: Das Spiel sollte optimal anpasst sein, d.h. vom Schwierigkeitsgrad und von der Lösungszeit so angelegt, dass sich jeder Schüler eine Erfolgschance ausrechnen kann.

Kriterium5: Der Spielablauf sollte nach leicht verständlichen Regeln konstruiert sein.

Kriterium6: Eine Vorstellung von einem Ziel, dass für jeden Schüler erstrebenswert ist, sollte vermittelt werden.

Kriterium7: Fehler dürfen gemacht werden, das Spiel sollte frei von Leistungsdruck sein.

Kriterium8: Das Spiel selbst sollte eine große Konvergenz zu bereits bekannten Spielen haben.

Kriterium9: Die Aktivität sollte dem Schüler Möglichkeiten zur Unterhaltung und Entspannung bieten und sich dadurch vom herkömmlichen Mathematikunterricht abheben.

Kriterium10: Die Aktivität sollte Spannung enthalten, z.B. in Form eines Wettkampfcharakters.35

Falls eine Aktivität im Mathematikunterricht viele der genannten Kriterien vereint und damit von den Schülern subjektiv als Spiel empfunden wird und an diese Aktivität noch dazu ein mathematischer Lerninhalt geknüpft ist, sprechen Krampe und Mittelmann von einem Mathematischen Lernspiel.[36] Im späteren Verlauf dieser Arbeit soll im Kapitel 3 exemplarisch untersucht werden, welche und wie viele Kriterien auf die von mir kreierten mathematischen Spielformen zutreffen und ob man sie nach Krampe und Mittelmann daher als Mathematische Lernspiele bezeichnen kann. Im nächsten Abschnitt sollen die Funktionen von Spielen für den Fachunterricht herausgehoben und Arten von mathematischen Lernspielen charakterisiert werden, bevor der dann erarbeitete theoretische Hintergrund als Grundlage für die praktische Erprobung der Unterrichtsreihe „Spiele“ dient.

2.3 Die Kategorien von Lernspielen

Unter Beachtung der Tatsache, dass bei Lernspielen mathematische Ziele bzw. Inhalte verfolgt werden, unterscheiden Krampe und Mittelmann zwei wesentliche Kategorien von Lernspielen:

- Spiele, die allgemeine mathematische Lernziele verfolgen:

Strategische und problemorientierte (Denk-)Spiele und

- Spiele, die Lerninhalte verfolgen: Übungsorientierte Spiele.[37]

Lernspielen werden im Wesentlichen vier Funktionen zugeschrieben:

Grundlagen schaffen, Fertigkeiten produktiv üben, Neues entdecken und Fähigkeiten zu erproben. Daneben fördert das Spiel auch nachhaltig und immanent das soziale Lernen der Beteiligten. Die vier benannten Funktionen können aber selten voneinander abgegrenzt werden, vielmehr sind sie als signifikante Markierungen in einem Netzwerk zu verstehen, die je nach Inhalt und Ausprägung einer Spielidee auf vielfältige Weise miteinander korrespondieren.[38]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Interdependentes Netzwerk der Funktionen von Lernspielen[39]

Im nächsten Abschnitt sollen Charakteristika und Merkmale der beiden Kategorien von Lernspielen erarbeitet werden. Analysiert man das Wesen von strategischen und problemorientierten Spielen genauer, stößt man auf alle Aktivitäten, die zum mathematischen Grundwerkzeug gehören. So sollen mit Hilfe dieser Spielform allgemeine Lernziele wie das Klassifizieren, Ordnen, Argumentieren, sich kreativ verhalten, Analogisieren, Formalisieren, kurzum also Fertigkeiten, die im Mathematikunterricht immer wieder gebraucht werden, erreicht werden. Im Grunde wird daher in erster Linie nicht das Vermitteln von Lerninhalten wie bei übungsorientierten Spielen angestrebt, auch wenn das sekundär nicht gänzlich ausgeschlossen sein muss. Die meisten Lernspiele berücksichtigen sowieso mehrere Lernziele und gelten daher als komplexe Lernspiele. Die Durchführung von strategischen und problemorientierten Spielen fördert neben den im Thüringer Lehrplan fest verankerten Säulen des Mathematikunterrichtes (vgl. Ziele und Aufgaben des Mathematikunterrichtes[40] ) wie Problemorientiertes Lernen, soziales Lernen oder dem Prinzip der Curriculumspirale (genetisches Prinzip) auch die mentale Stärke der Schüler, sich an komplexen mathematischen Sachlagen und Problemgehalten festzubeißen, ausdauernd nach Lösungen zu suchen und Vor- und Nachteile der beschrittenen Wege abzuwägen. Jeder kann entsprechend seinem mathematischen Kenntnisstand spielerische Erfolgserlebnisse verbuchen und erwirbt eine wesentliche Schlüsselqualifikation für das spätere Leben: Den unbedingten Willen und die Beharrlichkeit, Probleme multiperspektivisch zu erfassen und die bestmögliche Lösung dafür zu finden. Denn wie auch am Gutenberg-Gymnasium ist es in vielen Klassen unserer Gymnasien heute Gewohnheit, schon bei kleinen Lernschwellen schnell aufzugeben, ohne dem Problem überhaupt erst auf den Grund gegangen zu sein.

[...]


[1] Bücken, Hajo (1990): Das ganze Leben ist ein Spiel. S.13

[2] Bücken, Hajo (1990): S. 14

[3] Thiele, Rüdiger (1990): Spielend denken. Denkend spielen. S.58

[4] Huizinga, Johan (1994): Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. S.5

[5] Vernay, Rüdiger (1996): Mathematik lehren – Sammelband Spiele. S.1

[6] Thiele, Rüdiger (1990): S.56

[7] Thiele, Rüdiger (1990): S.58

[8] Scheuerl, H. (1968): Das Spiel. Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen. S.194

[9] Baer, Ulrich (1994): Ins Thema spielen. Motivierende Spiele zum Unterrichtseinstieg. S.18

[10] Baer, Ulrich (1994): S.18

[11] Gudjons, Herbert (1999): Pädagogisches Grundwissen. S.225

[12] Paradies/Meyer (1994): Alles nur Spielerei? Ansprüche an eine Spieldidaktik in der Sekundarstufe I. S.10-16

[13] Baer, Ulrich (1995) Spielpraxis. Eine Einführung in die Spielpädagogik. S.184

[14] Thüringer Kultusministerium (1999): Lehrplan für das Gymnasium: Mathematik. S.6

15 Thüringer Kultusministerium (1999): S. 14

[16] Trebbels, Dirk: Unter: www.ddesignmedia.de/Material/Unterricht/EWS/Lehrplan.pdf (Stand 28.12.07)

[17] Thüringer Kultusministerium (1999): S. 55

[18] Thüringer Kultusministerium (1999): S.1

[19] Thüringer Kultusministerium (1999): S.2

[20] Thüringer Kultusministerium (1999): S.6

[21] Thüringer Kultusministerium (1999): S.7

[22] Thüringer Kultusministerium (1999): S.14

[23] Thüringer Kultusministerium (1999): S.9

[24] Thüringer Kultusministerium (1999): S.10

[25] Thüringer Kultusministerium (1999): S.11

[26] Thüringer Kultusministerium (1999): S.10

[27] Thüringer Kultusministerium (1999): S.14

[28] Krampe, Jörg/Mittelmann Rolf (1987): Spielen im Mathematikunterricht. S.8

[29] Scheuerl, Hans: (1958): Die exemplarische Lehre. S. 104

[30] Sutton – Smith (1978): Die Dialektik des Spiels. S.64

[31] Meyer, Hilbert (1997): Unterrichtsmethoden Band II: Praxisband. S.342-343

[32] Büchner / Dalm / Albrecht (1993): Lernen und Spielen in der Grundstufe. S. 29

[33] Baer / Dietrich / Otto (1995): Spielzeit. Spielräume in der Schulwirklichkeit. S.1

[34] Maier / Plössl (1972): Mathematische Lernspiele. S.99

[35] Krampe, Jörg / Mittelmann Rolf (1987): S. 9-12

[36] Krampe, Jörg/Mittelmann Rolf (1987): S. 12

[37] Krampe, Jörg/Mittelmann Rolf (1987): S. 17

[38] Bobrowski / Forthaus (1998): Lernspiele im Mathematikunterricht. S. 7-8

[39] Bobrowski / Forthaus (1998): S. 8

[40] Thüringer Kultusministerium (1999): S. 9-10

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Spielerisch lernen - Eine Unterrichtsreihe zur Förderung der Kreativität und Selbsttätigkeit beim Rechnen mit Natürlichen Zahlen im Fach Mathematik der Klassenstufe 5
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Studienseminar Erfurt)
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
86
Katalognummer
V91860
ISBN (eBook)
9783638049399
ISBN (Buch)
9783638943963
Dateigröße
4088 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Spielerisch, Eine, Unterrichtsreihe, Förderung, Kreativität, Selbsttätigkeit, Rechnen, Natürlichen, Zahlen, Fach, Mathematik, Klassenstufe
Arbeit zitieren
Matthias Dietz (Autor:in), 2008, Spielerisch lernen - Eine Unterrichtsreihe zur Förderung der Kreativität und Selbsttätigkeit beim Rechnen mit Natürlichen Zahlen im Fach Mathematik der Klassenstufe 5, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91860

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