Von der Kritischen Theorie zur Kritischen Erziehungswissenschaft

Eine Spurensuche und -darstellung


Hausarbeit, 2008

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung und Fragestellungen

2 Kritische Theorie
2.1 Die Kritische Theorie als Vorläufer und Grundlagengeber
2.2 Die frühe Kritische Theorie bis
2.3 Die spätere Kritische Theorie ab
2.4 Nachkriegsjahre oder: am Vorabend der 1968er

3 Kritische Erziehungswissenschaft
3.1 Die Geburtsstunde der Kritischen Erziehungswissenschaft
3.2 Kritische Erziehungswissenschaft: Anknüpfungen an die Kritische Theorie

3 Abschließende Betrachtung

4 Verwendete Literatur

1 Einleitung und Fragestellung

„Die Kardinalfrage der Pädagogik seit der Aufklärung ist, ob die Menschengattung zur Vernunft erziehbar ist.“ (Kelle 1992: 39)

Diese zunächst quasi zusammenhangslos in den Raum geworfene Fragestellung, die neben der Formulierung „ob“ natürlich auch die Frage nach dem „wie“ kennt, erhielt mit den Inhalten und Darstellungen der Kritischen Theorie einen neuen, weiteren Bedeutungsgehalt. Eben einen solchen, der sich im weitesten Sinne um die Einheit der Vernunft sowie deren Probleme drehte und zunächst vornehmlich von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno[1] aufklärungskritisch betrachtet und bearbeitet wurde. Die späteren hierzu veröffentlichten, teils sehr komplexen Argumentationslinien in den Theorien von Adorno und später natürlich auch von Jürgen Habermas enthielten bzw. erzeugten dabei Fragen, die nun eben diese Einheit der Vernunft betrafen und sich dabei an drei wesentlichen Geltungsbereichen der Vernunft orientierten: dem Wahren, dem Richtigen und dem Schönen. (vgl. ebd.)

In der Pädagogik gibt es hierzu bis zum heutigen Tage einen ganz ähnlich lautenden Dreiklang in der Frage nach der „Befähigung des Menschen“ (ebd.): nämlich zum einen das Wahre zu erkennen, zum zweiten das Richtige zu tun und drittens das Schöne zu leben. Diese drei Komponenten werden dabei jedoch unter dem Begriff der „Bildung“ zusammengefasst, offensichtlich sehr unstrittig und eben auch in einer Aktualität, die „bis in neueste wissenschafts-theoretische Überlegungen von Erziehungswissenschaftlern“ (ebd.) hinein-reicht.

Die bisherigen kurzen Darstellungen festhaltend, möchte ich in meiner Hausarbeit ein besonderes Augenmerk auf die sich eben schon andeutenden, jedoch noch weit ausführlicher herauszuarbeitenden Begründungen der Kritischen Erziehungswissenschaft/Pädagogik legen. Eine ganz wesentliche Frage kann demnach bspw. lauten: Welche, evtl. sogar anhaltenden, Ideen und/oder Orientierungen hat die Kritische Erziehungswissenschaft bzw. Pädagogik also hervorgebracht?

Natürlich kann und soll dabei nicht einfach und ähnlich zusammenhangslos wie das eingangs gebrauchte Zitat eine herausgegriffene Thematik be- und abgehandelt werden. Auch zu meinem eigenen Verständnis und natürlich auch, um überhaupt annähernd in der Lage sein zu können, eine Kritische Erziehungswissenschaft darzustellen, möchte ich also insbesondere auf deren eigentliche Grundlagen und Wurzeln eingehen. Eine Darstellung der Kritischen Theorie kann hier also m.E. ebenso zu weiterem Verständnis beitragen, wie eine Untersuchung der eigentlichen Entstehungszeit der Kritischen Erziehungswissenschaft bzw. Pädagogik „Mitte der 1960er, Anfang der 1970er Jahre“. (Bernhard/Kremer/Rieß 2003: 8) So möchte ich – angesichts des allgemein und häufig betonten, so genannten „Paradigmenwechsels“ der ´68er-Generation – auch besonders der Zeit zu Ende der 1960er Jahre, aber auch den sich daran anschließenden weiteren Auswirkungen und Entwicklungen ausreichend Platz einräumen und hierbei nachfragen: Was ging damals denn überhaupt vor sich und was hat sich in der weiteren Folge überhaupt verändert und warum? Es wird in der weiteren Folge also auch um eine Art „Erbe“ der Generation von ´68 gehen müssen.

2 Kritische Theorie

2.1 Die Kritische Theorie als Vorläufer und Grundlagengeber

Bevor jedoch dieses eigentliche Hauptaugenmerk überhaupt erreicht werden kann, möchte ich zunächst die wesentlichen Grundzüge und Entwicklung der Kritischen Theorie, bei welcher auch ungleich früher anzusetzen ist, darstellen. In den folgenden Unterpunkten soll also zumindest der Versuch unternommen werden, die der späteren Kritischen Erziehungs-wissenschaft grundlegenden Überlegungen, Ideen, Veränderungen etc. herauszuarbeiten und darzustellen.

Als Auftakt ist dabei zunächst festzuhalten, dass die spätere Genese einer kritischen Pädagogik mit all ihren allgemein doch sehr bekannten Erscheinungen (u.a. bspw. die Bewegung der ´68er und eine so genannte außerparlamentarische Opposition) wesentlich „durch politisch-pädagogische Auseinandersetzungen in anderen historischen Epochen in ihren Grundlagen embryonal bereits vorbereitet“ (Bernhard/Kremer/Rieß 2003: 8) und erst „vor dem Hintergrund der Protestbewegungen gegen das politische Etablissement entzündet“ (ebd.) wurde. Die spätere Kritische Pädagogik ist dabei – dies bereits als Vorgriff auf in dieser Arbeit noch folgende Darstellungen – durch einen Bezug auf Bildungstheorien bürgerlicher Pädagogik auf der einen Seite und, in sehr entscheidendem Maße, auf proletarische Sozialisations- und Erziehungstheorien aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts auf der anderen Seite, gekennzeichnet. (vgl. ebd.)

Letztere entfalteten sich u.a. in revolutionären Pädagogikansätzen, in den „Bildungs-vorstellungen des Austromarxismus[[2] ] und den reformsozialistischen Reformkonzeptionen“ (Bernhard/Kremer/Rieß 2003: 8) ihre Wirkung und bezogen sich dabei (wie zumindest nach dem Titel „Austromarxismus“ bereits zu vermuten ist) auf Karl Marx und Veröffentlichungen bzw. Rezeptionen seiner Gesellschaftstheorien. Eben diese Theorien waren es auch, die einen Kreis von Wissenschaftlern – allen voran Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – am im Jahre 1930 gegründeten Institut für Sozialforschung in Frankfurt/Main in besonderer Weise interessierten. (vgl. Jansa 1999: 94 sowie Steinlechner 1992: 126) In ihrer Funktion für dieses Institut entwickelten Horkheimer und Adorno dabei „bereits in den 30er Jahren“ (Jansa 1999: 94) die Grundzüge der Kritischen Theorie.

Dabei muss jedoch zunächst erwähnt werden, dass die Kritische Theorie (und damit auch unmittelbar das daran angeknüpfte Wirken von Horkheimer und Adorno) in zwei wesentliche Phasen mit jeweils sehr unterschiedlichen Schwerpunkten unterteilt werden kann bzw. muss: eine frühe und eine spätere Kritische Theorie. (vgl. ebd.)

Die frühe Kritische Theorie war dabei wesentlich durch politische Versiertheit, eine „spezifische interdisziplinäre Wissenschaftsorganisation und eine mehr oder weniger starke empirische Orientierung“ (ebd.) gekennzeichnet. Ihr zeitlicher Umfang umfasst dabei – der vorliegenden Literatur folgend – die Jahre vor 1933.

Die sich anschließende, unter dem Eindruck des Nationalsozialismus stehende (welcher für Horkheimer wie Adorno auf Grund ihrer jüdischen Abstammung die schwerwiegenden Konsequenzen der Schließung des Instituts für Sozialforschung, also den Verlust ihrer Forschungsgrundlagen sowie obendrein eine Emigration bedeutete) spätere Kritische Theorie hingegen, wandelte sich zur „negativen Geschichtsphilosophie der Dialektik der Aufklärung.“ (ebd.) Auch der mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten/NSDAP verbundene abrupte Abbruch in der Weiterentwicklung von Ansätzen der sozialistischen Pädagogik der Weimarer Republik sowie von „Bildungsvorstellungen des Austromarxismus“ (Bernhard/Kremer/Rieß 2003: 8) kann und muss in diesem Zusammenhang genannt werden.

Eine zusätzliche, weitere Unterscheidung kann aber auch bei den Autoren bzw. Vertretern der Kritischen Theorie vorgenommen werden. (vgl. Jansa 1999: 94)

Zu einem ersten, inneren Kreis gehören insbesondere Adorno und Horkheimer, aber auch Herbert Marcuse. Für diesen inneren Autorenkreis sind vor allem die Auslegungen kenn-zeichnend, dass sich „Gesellschaft als ein total integrierter Herrschaftszusammenhang konstruiert“ (Jansa 1999: 94) und sich „Kulturindustrie als ein Mechanismus zur Transformation von Systemimperativen in individuelle Verhaltensdispositionen“ (ebd.) dargestellt habe.

Die Autoren des äußeren Kreises gehen bzw. gingen hingegen von einem Verständnis gesellschaftlicher Integration aus, welches ganz entscheidend durch Kompromisse zwischen sozialen Interessensgruppen gekennzeichnet ist. (vgl. ebd.) Nicht allein die „Verwertungs-logik des Kapitals“ sei nach Auffassung der „äußeren Autoren“ konstituierend und vorwärtstreibend für eine Gesellschaft, auch die über soziale Auseinandersetzungen, Konflikte und Konsense vermittelte „politische Kommunikation“ (ebd.) sei hierbei von großer Bedeutung. Zusätzlich wurde eine „Ambivalenz der Massenkultur“ (ebd.: 95) vertreten, welche sowohl fortschrittliche, wie auch rückschrittliche Elemente enthalte. Als ein weiterer Vorgriff auf noch darzustellende Zusammenhänge an späterer Stelle dieser Arbeit, kann in diesem Zusammenhang auf Jürgen Habermas hingewiesen werden, welcher den eben genannten zweiten Ansatz später zu einer „Theorie des kommunikativen Handelns“ verdichtet hat. (vgl. ebd.) In diesem Zusammenhang heißt es bspw., dass Habermas selbst betont, die „Geschichtsphilosophie der älteren Kritischen Theorie von Adorno und Habermas mittels Kommunikationstheorie überwinden zu wollen.“ (Kelle 1992: 20)

2.2 Die frühe Kritische Theorie bis 1933

Innerhalb des eben skizzierten inneren Autorenkreises (im Folgenden konkret bezogen auf Horkheimer und Adorno) und der ersten dargestellten Phase der Kritischen Theorie (d.h. also vor 1933) kann nun im Folgenden näher auf die Anfangsjahre eingegangen werden, wobei bei einer Betrachtung eben dieses inneren Autorenkreises jedoch zunächst eine kurze Einleitung zu den wesentlichen Autoren, Horkheimer und Adorno, hilfreich ist.

Horkheimers akademischer Weg ist dabei besonders durch seine früheren Untersuchungen über Immanuel Kant und dessen Kritik der Urteilskraft gekennzeichnet, über welchen und welche er im Jahr 1925 auch habilitierte. (vgl. Kelle 1992: 130) Ab 1926 übernahm Horkheimer eine Stelle als Privatdozent an der Frankfurter Universität und wurde im Jahr 1930 schließlich zum „Ordinarius für Sozialphilosophie“ (ebd.) berufen.

Adornos Weg, welcher bereits von 1921 bis 1924 an der Universität Frankfurt weilte und dabei ein Studium der Philosophie, Soziologie, Psychologie, aber auch der Musikwissenschaft erfolgreich abschloss, führte dagegen von 1925 bis 1928 zunächst nach Wien, wo er unter Albert Berg Komposition studierte. (vgl. Kelle 1992: 130) Im Jahr 1928 jedoch kehrte Adorno nach Frankfurt zurück – vermutlich auch, weil sich in seinem vorherigen Wohnort Wien der so genannte „Schönberg-Kreis“ weitgehend auflöste und Adorno zudem vermutlich auch die große Attraktivität von neuen exklusiven intellektuellen Zirkeln beeinflusste. (vgl. ebd.) In diesen Zirkeln, konkret dem so genannten „Kränzchen“ (ebd.), trafen sich von 1928 bis 1931 u.a. Max Horkheimer, Paul Tillich, eben auch Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal, Karl Mannheim, Kurt Rietzler, Adolph Löwe sowie Karl Mennicke zum regelmäßigen intellektuellen Austausch. (vgl. ebd.)

Insbesondere die Interessen, die Adorno bereits zu Schulzeiten bspw. Kants „Kritik der Reinen Vernunft“ schenkte, aber auch seine intellektuelle Sozialisation in den 1920er Jahren, welche wesentlich „stärker außer- als innerakademisch“ (ebd.) beeinflusst wurde, machten sich in der nun folgenden Zeit sehr stark bemerkbar. Die Beeinflussung durch „Marxismus, Psychoanalyse und moderne Kunst“ (ebd.) wirkte sich im Folgenden doch sehr wesentlich auf ein sehr spezifisches Bewusstsein, eine theoretische Avantgarde vertreten zu wollen, aus – welche dann auch im Jahr 1931 in einer Habilitation über „Ästhetik“ bei, eben schon genanntem, Paul Tillich ihren Ausdruck fand. (vgl. ebd.)

Schließlich erfolgte im Jahr 1930 die Gründung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt/Main, bei welchem sich für Horkheimer jedoch schon weit früher als für Adorno die Gelegenheit zur Mitarbeit andeutete. (vgl. Steinlechner 1992: 126) So soll Horkheimer bereits zu Ende der 1920er Jahre die Gewissheit gehabt haben, als neuer Direktor wirken zu können, während Adorno erst nach seiner Habilitation 1931 eine Stelle als Privatdozent übernahm bzw. vielmehr übernehmen konnte. (vgl. Kelle 1992: 131) Horkheimer konnte demgegenüber in seiner Funktion als Direktor die Arbeit des Instituts maßgeblich koordinieren, es weiterhin natürlich stärker in der Öffentlichkeit vertreten und ihm auch bereits eine gewisse Richtung vorgeben.[3]

In dieser, später nach dem Ort des Forschungsinstituts bezeichneten „Frankfurter Schule“, wurde nun in den Anfangsjahren versucht, die bereits angesprochenen Marx’schen Gesellschaftstheorien aufzugreifen und in philosophischer, historischer und auch psychoanalytischer Weise neu zu interpretieren – ganz entscheidend jedoch: ohne hierbei das Hauptaugenmerk auf die Bedeutung der Marx’schen Ausführungen als Weltanschauung (wie dies natürlich auch in Deutschland vor 1933 bzw. korrekt ausgedrückt: der damaligen Weimarer Republik diskutiert wurde) zu legen. Die Kritische Theorie, wie sie eben in diesen Anfangsjahren betrieben wurde, stellte dabei von ihrem Wissenschaftsansatz her eher eine Art von Überbau- und Bewusstseinstheorie dar. (vgl. Jansa 1999: 95) Das Interesse der Kritischen Theorie zielte so auf eine Erkenntnis, verankert in der versuchten Rekonstruktion des „dialektischen Zusammenhangs von Basis und Überbau“ (ebd.) innerhalb eines zu Anfang noch „relativ orthodoxen, aber stets parteipolitisch unabhängigen Marxismus“ (ebd.), ab.

Marx’ Ausführungen wurden also, anders als in manch anderen Rezeptionen aus dieser Zeit, im Wesentlichen als Grundlage für eine Kritik an der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft betrachtet. Dabei stellte die frühe Kritische Theorie eine Art Vermittlungs-theorie dar, welche insbesondere darauf Wert legte, keine Einzeltatsachen in „gesellschaftlichen und individuell-menschlichen Bereichen“ (ebd.) darzustellen, sondern eher zu einer „weitestgehende[n] Erhellung von wechselseitigen Beziehungen und ihren Auswirkungen zwischen Mensch und Gesellschaft“ (ebd.) beitragen wollte. Ganz entscheidend ist hierbei also zum einen die Anknüpfung an die von Marx vorgestellte Form des materialistischen Erkenntnisverfahrens anzuführen (es wurde also versucht den kritischen Marxismus zu einem interdisziplinären Forschungs- und Theoriekonzept auszubauen), zum anderen jedoch auch auf die Unterscheidung zwischen traditioneller und kritischer Theorie (wie dies von Horkheimer, aber auch Marcuse für das Programm einer Kritischen Theorie vorgeschlagen wurde) hinzuweisen. (vgl. Bernhard/Kremer/Rieß 2003: 10 sowie Steinlechner 1992: 127) Während sich die traditionelle Theorie so mehr und mehr vom wirklichen Geschichtsboden ablösen sollte und dadurch ihre Forschung losgelöst von historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten verfolgte, wollte die Kritische Theorie ihre Forschung auf den „vorhandenen Tendenzen des gesellschaftlichen Prozesses“ (Bernhard/Kremer/Rieß 2003: 10) – d.h. bestehend also aus konkreten materiellen Bedingungen des „unmittelbaren Lebens“ (ebd.) – aufbauen.

Indem sich die Kritische Theorie also u.a. gegen vorgefundene Situationen von „Ausbeutung und Unterdrückung“ (Jansa 1999: 95) wendete, musste sie sich in der Folge auch gegen eine Ordnung wenden, die solche Vorgänge unterstützt oder gar zu Tage fördert. Die Kritische Theorie formulierte also ein besonderes Interesse an „vernünftigen Zuständen“ (ebd.), welche sie auch durch ein Parteiergreifen für eine Verminderung von Herrschaft und Gewalt und, demgegenüber, einer Weiterentwicklung der Menschheit verdeutlichte.

Die starke Anlehnung an bzw. Interpretation von Karl Marx und seinen Gesellschaftstheorien (welche dabei später nicht von allen Vertretern der Kritischen Erziehungswissenschaft unbedingt mitgetragen wird[4] ) ist dabei also ein erster, wichtiger Grundstein, auf welcher die Kritische Theorie aufbaute. Einen zweiten, ebenfalls sehr wichtigen Grundstein fand sich dabei aber auch – angesichts der bereits skizzierten Lebensläufe und Studienfächer (bspw. Adorno: Psychologie) vielleicht wenig überraschend – in Teilen von Freuds Veröffentlichungen der „Psychoanalyse“.

Im Folgenden soll dieser, im ersten Augenblick vielleicht verwundernd oder zumindest unerwartet wirkende Rückgriff, auch im Bezug zur bereits erwähnten Anlehnung an Marx, näher erläutert werden. Um dies jedoch überhaupt angehen zu können, müssen zumindest die in den nachfolgenden Ausführungen genannten Bereiche, auf die sich die Kritische Theorie besonders fokussiert, genannt werden: Ökonomie, Kultur und letztlich das Individuum an sich.

Um nun eine Analyse und Kritik an der „ökonomischen Basis der Gesellschaft“ (Jansa 1999: 96) vornehmen zu können, verwendet die Kritische Theorie nun zum einen die Begriffe und Kategorien des „Historischen Materialismus“ (ebd.) von Marx. Dabei wird in einer Anknüpfung an diese marxistisch-geprägte Sichtweise nun anderseits auch unter psychoanalytischer Sicht eine Kritik vorgenommen bzw. vielmehr noch: versucht, beide Sichtweisen miteinander zu verknüpfen. Während traditionelle Theorien so lediglich auf gesellschaftliche Erscheinungen fixiert sind und diese versuchen abzubilden, beansprucht die Kritische Theorie geradezu das gesamte Wesen der Gesellschaft zu erkennen. (vgl. ebd.) Eine Verknüpfung von marxistisch bzw. psychoanalytisch ausgeprägten Herangehensweisen ergibt so bspw. zunächst eine (marxistisch ausgelegte) Untersuchung vorgefundener ökonomischer Zustände und in einem zweiten Schritt eine (auf Freuds „Psychoanalyse“ basierende) Untersuchung von hierbei eventuell auftretenden Folgezuständen. Durch diesen Zwei-Schritt könnte also eine kritische Betrachtung (nach den Vorstellungen der frühen Kritischen Theorie) der Gesellschaft erfolgen.

Um dies jedoch letztlich verwirklichen zu können, ist die Kritische Theorie geradezu gezwungen, die gesellschaftliche Welt (welche sie quasi als ihren Untersuchungsgegenstand sieht) als „Produkt von Arbeit“ (Jansa 1999: 96), von Arbeitsteilung (wie sie für bürgerliche Gesellschaften charakteristisch ist) sowie der dadurch entstandenen Produktionsverhältnisse zu betrachten. (vgl. ebd.) In einer so verstandenen und verfolgten Gesellschaftskritik steht nicht mehr rein eine Gesamtheit von Individuen im Fokus, sondern in weit größerem Maße die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter und in welchen die Menschen agieren können bzw. durch welche sie dabei auch ggf. eingeschränkt werden. (vgl. ebd.)

In Folge der Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse stellte die Kritische Theorie auf Grund der herrschenden Produktionsverhältnisse insbesondere eine „Vereinzelung der Individuen“ (ebd.) sowie stark verdinglichte Beziehungen der Menschen untereinander als Resultate hervor. Besonders das herrschende Tauschprinzip stand hierbei im Mittelpunkt des Interesses und der Argumentation, in welcher das ökonomische Prinzip des Tausches bspw. als ursächlich für eine Objektivierung, Reduktion oder gar Auflösung von Bindungen dargestellt wurde.[5] (vgl. ebd.) Eine wesentliche Grundlage bei der Umgestaltung der Gesellschaft zu, wie es die Kritische Theorie beabsichtigt, vernünftigen Verhältnissen, wird (aus den eben geschilderten Gründen folgend) in der Änderung der ökonomischen Verhältnisse gesehen. (vgl. ebd.) Ergänzend kam hierbei noch hinzu, dass sich insbesondere die Autoren bzw. Vertreter des inneren Kreises der Kritischen Theorie (dieser Definition nach also auch Adorno und Horkheimer) durch eine relativ große Skepsis gegenüber der zunehmenden technischen Entwicklung und dem wissenschaftlichen Fortschritt auszeichneten – was sie u.a. in einer Ablehnung gegenüber einem, ihrer Meinung nach, überzogenen „Technikoptimismus des in den zwanziger Jahren herrschenden sozialdemokratischen und kommunistischen Marxismus“ (ebd.) ausdrückten.

Zusammenfassend ist zur frühen Kritischen Theorie bis 1933 m.E. besonders die Tatsache, dass die Kritische Theorie zweierlei Absichten in einer Art Spagat zu verbinden versucht, zu nennen. So greift sie durchaus ideologiekritisch vorgefundene Theorien (insbesondere und bevorzugt kapitalistische, bürgerliche Gesellschaftsformen) und deren Erklärungsansätze, Begründungen, Rechtfertigungen zu gesellschaftlichen Hintergründen, Widersprüchen etc. auf, geht diesen nach und übt hieran ggf. Kritik. Gleichzeitig versucht sie jedoch, auf eine Veränderung dieses vorgefundenen, kritikwürdigen gesellschaftlichen Zustandes hinzuwirken – Analyse/Reflexion und gewünschtes bzw. versuchtes Einwirken treten also paarweise auf. In der frühen Kritischen Theorie war also ganz offensichtlich ein besonderes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis vorherrschend, dessen konkrete Eigenheiten und Details ich im nun folgenden Unterpunkt 2.3 darstellen möchte.

[...]


[1] Besonders ihr gemeinsam verfasster Band „Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.“, welcher im Jahre 1947 erschien, ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben.

[2] Als „Austromarxismus“ wird eine bis 1934 (Beendigung durch Anschluss an Hitler-Deutschland) in Österreich vorherrschende Ausprägung des Marxismus bezeichnet.

[3] In der vorliegenden Literatur (Kelle 1992) wird die Frage der Außendarstellung und Präsentation des Instituts als politisch (über)lebenswichtig in der Zeit des späteren Exils hervorgehoben. (vgl. Kelle 1992: 131) Horkheimers Talente und Fähigkeiten seien hierbei durchaus nützlich für ein hierfür benötigtes Organisationstalent gewesen. (vgl. ebd.)

[4] Verwiesen sei an dieser Stelle schon vorab auf Wolfgang Klafki verwiesen, welcher später als eher bürgerlich galt.

[5] In der weitergeführten Folge hierbei sogar als Ursache für eine schwindende Bedeutung des Individuums bis hin einer drohenden bzw. ausgelösten Entfremdung benannt.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Von der Kritischen Theorie zur Kritischen Erziehungswissenschaft
Untertitel
Eine Spurensuche und -darstellung
Hochschule
Universität Erfurt
Veranstaltung
Vertiefungsseminar Kritische Erziehungswissenschaft
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
34
Katalognummer
V91807
ISBN (eBook)
9783638056298
ISBN (Buch)
9783638947275
Dateigröße
508 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kritischen, Theorie, Kritischen, Erziehungswissenschaft, Vertiefungsseminar, Kritische, Erziehungswissenschaft, Horkheimer, Adorno, Habermas, Pädagogik
Arbeit zitieren
Ludwig Finster (Autor:in), 2008, Von der Kritischen Theorie zur Kritischen Erziehungswissenschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91807

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