Das Menschenbild und Krankheitsverständnis in den Konzepten der Validation und des Dementia Care Mapping


Diplomarbeit, 2002

59 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Hinführung zum Thema
1.2 Methodisches Vorgehen bei der Literaturrecherche
1.3 Aufbau und Argumentationslinie

2. Darstellung der Begrifflichkeiten
2.1 Menschenbild
2.1.1 Das Menschenbild der humanistischen Psychologie
2.2 Demenzbegriff
2.2.1 Psychophysiologische Erkenntnisse der Demenz
2.3 Verbindung der Konstrukte Menschenbild und Krankheitsverständnis

3. Vorstellung der Referenztheorie
3.1 Theorie der Persönlichkeit von C. Rogers
3.1.1 Begründung für die Auswahl
3.1.2 Vorstellung der Theorie
3.1.3 Darstellung der Begrifflichkeiten und der Konstrukte der Theorie Rogers

4. Vorstellung der Konzepte
4.1 Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen von Tom Kitwood
4.1.1 Erläuterungen zu elementaren Begriffen des Konzeptes
4.2 Validation – N. Feil
4.3 Theoretische Grundlagen der Validation und des Dementia Care Mappings in Bezug auf das Menschenbild

5. Das Menschenbild in den Konzepten von Tom Kitwood und Naomi Feil
5.1 Kategorienbildung zur Verwendung der Konstrukte
5.2 Analyse der Konzepte mittels der Kategorien
5.2.1 Das Selbst
5.2.2 Bedürfnisse und Verhalten
5.2.3 Entwicklung und Wahrnehmung
5.2.4 Hilfreiche Beziehungen

6. Das Krankheitsverständnis in den Konzepten von Tom Kitwood und Naomi Feil
6.1.1 Die Bedeutung von Demenz im personenzentrierten Ansatz von Kitwood
6.1.2 Bedeutung von Demenz im Konzept der Validation
6.1.3 Gegenüberstellung der Bedeutungen von Demenz bei Kitwood und Feil

7. Zusammenfassung der Ergebnisse

8. Diskussion

9. Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

Zur Erleichterung des Leseflusses wird für alle Personen und Gruppen die männliche Form gewählt, dabei sind immer beide Geschlechter gemeint. Ich verwende den Ausdruck „Betreuer“, wenn ich von Personen spreche, die in der Beziehung zum Dementierenden stehen. Damit sind ebenfalls professionell Pflegende gemeint. Mit professionell Pflegenden meine ich Personen, die nach dreijähriger Ausbildung das staatlich anerkannte Examen erworben haben. Der Begriff „Dementierende“, den ich in meiner Arbeit verwende, geht auf Corry Bosch zurück, die Demenz als Prozess versteht. Der Ausdruck „dement“ beinhalte die Gefahr, Demenz als einen statischen Zustand zu begreifen.[1] In der Bearbeitung des Krankheitsverständnisses von Feil, übernehme ich die von ihr genutzten Begrifflichkeiten, weil sie wichtig für die Analyse und Verdeutlichung ihres Verständnisses erscheinen.

1.1 Hinführung zum Thema

In meiner Arbeit mit Dementierenden im Altenheim fiel mir besonders auf, dass der Umgang mit dementierenden Personen sich deutlich von dem mit anderen Bewohnern unterschied. Ferner konnte man ein fühlbares Ungleichgewicht in diesen Beziehungen spüren. In der Pflege kommt der Beziehung besondere Bedeutung zu. Die Art der Beziehung unterscheidet sich zum einen darin, dass die Beteiligten sich nicht unbedingt frei gewählt haben, zum anderen ist die zu pflegende Person in der Befriedigung einiger seiner Bedürfnisse von der Person, die sie pflegt abhängig. In gewisser Weise herrscht in diesen Beziehungen jedoch eine Interdependenz, welche im Laufe meiner Ausführungen noch genauer zum Ausdruck kommt. Das Bewusstsein dieser Interdependenz ist Teil der Grundlage des Verhaltens in Beziehungen. Nicht nur, um Dementierende besser verstehen zu können, sondern, und das erscheint aufgrund der Wechselseitigkeit dieser Beziehung besonders wichtig, auch sich selbst besser kennen zu lernen. Rogers spricht hier von „Kongruenz“ als Grundhaltung in hilfreichen Beziehungen. „In diesem Merkmal spiegeln sich zwei Elemente wider, nämlich einerseits das Wahrnehmen und das Sensibelsein für eigene emotionale Erlebnisinhalte und andererseits der Ausdruck oder das Sichtbarwerden dieser Gefühle“.[2] Wie ich mich selbst wahrnehme, hat also Einfluss auf den Umgang mit anderen in Beziehungen. Die Frage danach, wie man sich selbst wahrnimmt, erfordert eine Auseinandersetzung mit dem Menschsein an sich. Dieses sind zum Beispiel Fragen nach Bedürfnissen, nach der Wahrnehmung, der Persönlichkeit und nach Verhalten. Mich selbst zu verstehen ermöglicht also andere zu verstehen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Konzepte zum Umgang mit Dementierenden beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Erkennen spezieller Bedürfnisse Dementierender und mit daraus resultierenden Handlungsvorschlägen für Betreuende. Das übergeordnete Ziel: den Dementierenden die Erhaltung der Identität oder des Selbst zu ermöglichen. „Schicksalhafte – also nicht frei gewählte und nicht rational verarbeitbare – Abhängigkeit bringt den Verlust des Erwachsenenseins mit sich: die Auflösung aller Errungenschaften, die das eigene Leben und die Identität ausmachen. Die Angst vor der Demenz ist damit die Angst vor der Auflösung des Selbst...“.

Kitwood misst der Beziehung zum Dementierenden eine relevante Rolle bezüglich der Entstehung und des Verlaufes der Demenz bei. Personsein zu erhalten ist hier zentraler Ansatzpunkt.[3] Dies wird im Verlauf der Arbeit deutlicher. Auch bei Feil spielt die Beziehung eine bedeutende Rolle. Die Validation beschreibt Techniken, welche u.a. das Selbstwertgefühl der Dementierenden stärken und unterstützend bei der Erlangung von Integrität wirken soll. Entscheidend ist hier das Verständnis der Bedürfnisse des Dementierenden, welche als Grundlage für ihr Verhalten angesehen werden.[4] Betreuende, welche die Validation anwenden, müssten über Erwachsenen – Intimität verfügen, eine Identität besitzen, so Feil. Mit Erlangung der Erwachsenen – Intimität sei der Validationsanwender in der Lage, Verantwortung für seine Gefühle zu übernehmen und keine Furcht vor Ablehnung zu haben.[5]

Die erwähnten Schwerpunkte dieser Konzepte machen die Frage nach dem zugrundeliegenden Menschenbild besonders interessant. Entgegen der „professionellen Distanz“, wird ein „In - Beziehung - treten“ vorausgesetzt, welches von Betreuenden in hohem Maße Selbstreflexion erfordert. „Das Menschenbild ist eine Vorstellung, ein Konzept davon, was den Menschen spezifisch ausmacht. Diese Vorstellung beeinflusst die Grundhaltung, mit der wir uns selbst und anderen begegnen“.[6]

Doch nicht nur das Menschenbild beeinflusst die innere Haltung gegenüber Dementierenden. Kitwood und Feil bringen das Verhalten der Betreuenden im Umgang mit Dementierenden ebenso mit ihrem Verständnis der Demenz, ihren Ursachen und den Verlauf beeinflussenden Faktoren in Zusammenhang. Aus diesem Grund schien es sinnvoll und spannend, Menschenbild und Krankheitsverständnis dieser Konzepte näher zu beleuchten.

Wie ich anfangs erwähnte, stellt die Pflegebeziehung, bzw. die Beziehung zum Dementierenden eine besondere dar. Es erfordert eine eingehendere Auseinandersetzung mit eigenen Werten und denen anderer, um dieser Beziehung gerecht werden zu können. Erst das öffnet die Tür zum Verständnis Dementierender. Das Ziel dieser Arbeit ist es, die gewählten Konzepte, welche zum Teil in der Praxis Verwendung finden, nach den zugrundeliegenden Werten, nach dem Verständnis der Demenz zu untersuchen und einen bewussten Umgang mit diesen Konzepten zu ermöglichen. Ferner kann sie dazu dienen, seiner eigenen Haltung und den eigenen Wertvorstellungen näher zu kommen.

1.2 Methodisches Vorgehen bei der Literaturrecherche

Die Literaturrecherche erfolgte hauptsächlich über die Opac - Kataloge der Fachhochschule Frankfurt und der Deutschen Bibliothek. Verwendete Suchbegriffe waren zum Beispiel: „Demenz“, „Dementia Care Mapping“, „Persönlichkeit“, „Menschenbild“, „Humanistisch“, „Sozialpsychologie“. Ferner bezog ich die Datenbank Gerolit sowie Ratschläge von Experten in meine Recherche ein. Als Hauptquellen verwendete ich „Demenz, der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen“ von Tom Kitwood, 2000, „Validation: ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen“ von Naomi Feil, 1999, „Validation in Anwendung und Beispielen“ von Naomi Feil, 2000. „Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen“ von Carl R. Rogers diente als Referenzliteratur.

Leider war es mir nicht möglich das Handbuch zum DCM – Verfahren in meiner Arbeit zu berücksichtigen. Ich trat mit Herrn Müller – Hergl, dem Herausgeber des Werkes von Kitwood, in Kontakt, der mir mitteilte, dass dieses Handbuch nur im Zusammenhang mit der Absolvierung eines DCM – Seminars zu bekommen sei.

1.3 Aufbau und Argumentationslinie

Zunächst erfolgen die Begriffsbestimmungen zu den in der Themenstellung direkt und indirekt enthaltenen Begriffen „Menschenbild“ und „Demenz“. In der Auseinandersetzung mit dem Demenzbegriff, stelle ich medizinische Aspekte sowie die psychosomatische Sicht der Demenz dar. Danach folgt eine Erläuterung zum Zusammenhang von Menschenbild und Krankheitsverständnis. Diese Erläuterung erfolgt anhand eines Beispieles aus dem Gebiet der psychischen Erkrankungen.

Der nächste Teil meiner Arbeit beginnt mit der Vorstellung der Referenztheorie. Dazu diente die „Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen“ von Carl R. Rogers. Die Begründung für diese Auswahl wird in der Arbeit dargelegt. Die Theorie Rogers ist im Vergleich zu den Konzepten sehr abstrakt. Daher halte ich eine intensivere und ausführlichere Beschreibung für erforderlich. Ich verwendete die Konstrukte seiner Theorie, welche sich in der Untersuchung der Konzepte als relevant herauskristallisiert haben. Im Folgenden stelle ich die Konzepte von Tom Kitwood und Naomi Feil vor.

Anhand der Theorie von Carl R. Rogers werde ich dann das Menschenbild des „Dementia Care Mappings“ von T. Kitwood und der „Validation“ von Naomi Feil untersuchen und vergleichend darstellen. Ich bilde zu diesem Zweck Kategorien, denen ich die einzelnen Konstrukte aus der Referenztheorie zugeordnet habe. Es folgt eine Vorstellung impliziter Thesen zum Menschen, die sich aus der Untersuchung ergeben.

Die Betrachtung des Krankheitsverständnisses erfolgt unter Berücksichtigung der Ausführungen zum Demenzbegriff und führt schließlich zu einer Gegenüberstellung der Krankheitsverständnisse von Kitwood und Feil, welche dazu dient, Unterschiede deutlich zu machen und vermeintliche Schwächen der Konzepte aufzuzeigen, die ich in einer Diskussion im Schlussteil aufgreife. Der Schlussteil beinhaltet ferner eine Zusammenfassung der Ergebnisse und Anregungen zur Verwendung dieser bis hin zu weiteren Fragestellungen, die sich ergeben haben.

2. Darstellung der Begrifflichkeiten

2.1 Menschenbild

Mit der Frage nach dem menschlichen Dasein beschäftigen sich, wie schon erwähnt, zahlreiche Wissenschaften (Philosophie, Biologie...). Die Schwerpunkte sind zwar verschieden, die wissenschaftlichen Erkenntnisse aber oft untrennbar miteinander verbunden. Die Psychosomatik ist ein Beispiel dafür. Sie verbindet naturwissenschaftliche mit psychischen Aspekten einer Krankheit.

Hinter jeder dieser wissenschaftlichen Disziplinen und ihren Denkrichtungen steht ein Menschenbild, welches Grundlage der Überlegungen ist. Damit sei nicht ausgeschlossen, dass aus sich gleichenden Menschenbildern unterschiedliche Überlegungen hinsichtlich des Menschseins entstehen.

Die Beschäftigung mit dem Menschenbild führt unweigerlich zur Untersuchung des Selbst, des Ich, der Persönlichkeit, all derer Begriffe, welche mit dem Menschsein zu tun haben. Zentral scheint hier der Begriff der „Seele“ als Untersuchungsgegenstand der Psychologie. Mit Seele ist die „Trägerin des Lebens“[7] gemeint. „Seelische Erscheinungen sind dann alle Lebensäußerungen: Wahrnehmen und Denken, Gefühl und Wille, Handeln und Sprechen gehören zu den wichtigsten dieser Lebensäußerungen“.[8] Die Seele und ihre Erscheinungen lassen sich, wie schon erwähnt, nicht getrennt von anderen Lebenserscheinungen ausmachen. So stellt sich immer wieder die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Körper und Seele.[9] Diese Frage wird auch in dieser Arbeit noch an Bedeutung gewinnen.

In der Psychologie ist es besonders das Teilgebiet der Persönlichkeitspsychologie, die bei der Definition ihres Gegenstandes, nämlich der Persönlichkeit, extrem abhängig ist von dem zugrundeliegenden Menschenbild. In der Persönlichkeitsforschung geht es darum, das Zusammenwirken der psychischen Teilfunktionen wie Wahrnehmung und Gedächtnis zu untersuchen. Persönlichkeitsforschung wurde von verschiedenen Denkrichtungen oder Schulen der Psychologie betrieben. „Persönlichkeitsforschung gehört zu dem Teil der psychologischen Wissenschaft, der das Individuum und seine einzigartigen Verhaltensweisen zu erfassen sucht“.[10] Über die Auffassung, der Mensch sei in seiner Persönlichkeit einzigartig, herrscht also Einigkeit. „Einzigartigkeit spielt auf ein Verhaltensmuster an, das ein einzelnes Individuum kenntlich macht. In der Regel handelt es sich um einen Komplex von Merkmalen, die in einer bestimmten Konstellation nur bei einem einzigen Individuum auftreten“.[11]

Entsprechend meiner Referenztheorie von Rogers, welche der humanistischen Psychologie zugeordnet wird, stelle ich im Folgenden deren Menschenbild vor.

2.1.1 Das Menschenbild der humanistischen Psychologie

Die humanistische Psychologie baut auf den Prinzipien kognitivistischer Ansätze auf.[12] Der Kognitivismus geht davon aus, dass der Mensch Einsicht und Voraussicht und daher auch Verantwortung und Entscheidungsfreiheiten besitzt. Sein zentraler Untersuchungsgegenstand ist das Bewusstsein.[13] In der humanistischen Psychologie spricht man vom „Selbst“ im Sinne einer Seele. „Die humanistische Psychologie stellte sich die Aufgabe, das Selbst zu definieren, zu untersuchen und dessen Verwirklichung zu beschreiben und zu fördern“.[14] Der Mensch wird in seiner Ganzheit betrachtet, deren innerpsychische und externe Teile in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander stehen. Der Mensch wird als biologisches, psychisches und soziales Wesen gesehen. Die wechselseitige Bezogenheit aller psychischen (kognitive, emotionale, somatische) Prozesse und die für ihn bedeutungsvolle Umgebung ist Gegenstand humanpsychologischer Forschung.[15] Trotz dieser Interdependenzen, strebt der Organismus nach Unabhängigkeit, nach Autonomie. Autonomie heißt hier, die Verantwortung für sich selbst und sein Leben zu übernehmen und sich dabei möglichst (und nicht vollständig) unabhängig von äußerer Kontrolle zu machen. Das bedeutet, sein Leben aktiv zu gestalten.[16] Die Autonomie ist jedoch nie ohne die Tatsache der sozialen Interdependenz zu betrachten. Das Selbst kann sich nur entwickeln und reifen durch Interaktionen. Das Streben nach Selbstverwirklichung oder auch Selbstaktualisierung wird neben primären Bedürfnissen (z.B. nach Schlaf, Nahrung) als grundlegende Antriebskraft menschlichen Handelns gesehen.[17] „Das „wahre Selbst“ stellt gewissermaßen einen Behälter dar, der mit nach Verwirklichung strebenden positiven Eigenschaften und echten Gefühlen gefüllt ist“.[18] „Der Glaube an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen bis ins hohe Alter hinein,“[19] geht mit dieser Annahme einher. Dabei setzt sich der Mensch aktiv mit der Umwelt und mit sich selbst auseinander und befindet sich also mehr oder weniger in einem kontinuierlichen Prozess der Wandlung, Reifung und Selbstverwirklichung.

Fundamental ist auch die Annahme, dass es im menschlichen Leben keinen Zufall gibt, sondern dass jedes psychische Geschehen zielgerichtet und bedeutungsvoll ist. Völker zitiert an dieser Stelle Brentano (1833-1917), dessen Lehre besagt, dass die Inhalte des Bewusstseins immer auf Objekte außerhalb des Bewusstseins gerichtet seien und somit eine Brücke zwischen innerer und äußerer Realität bildeten.[20] Das bedeutet, dass sich das Individuum nur im Wechselspiel mit seiner Umgebung zielgerichtet (Ziel der Selbstverwirklichung) verhalten kann. Hier wird der soziale Faktor des menschlichen Daseins nochmals hervorgehoben.

2.2 Demenzbegriff

Das Wort Demenz stammt aus dem Lateinischen. Es bedeutet geistlos, also einen Verlust intellektueller Fähigkeiten. Demenz bezeichnet eine Anzahl von Symptomen, keine einzelne Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation hat 1984 die Demenz definiert als „eine erworbene globale Beeinträchtigung der höheren Hirnfunktion einschließlich des Gedächtnisses, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, der Ausführung sensumotorischer und sozialer Fertigkeiten, der Sprache und Kommunikation sowie der Kontrolle emotionaler Reaktionen ohne ausgeprägte Bewusstseinsstörung“.[21]

Die diagnostischen Kriterien für eine Demenz erfolgen nach der „International Classification of Diseases“ (ICD -10, Weltgesundheitsorganisation, 1987) und dem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM – III – R, American Psychiatric Association, 1987).[22] ICD – 10 und DSM – III – R sind, nach Wächtler, weitgehend identisch, sodass ich mich in meiner Darstellung hauptsächlich auf die Definition nach ICD – 10 beziehe.

Die sogenannten Demenzerkrankungen zeichnen sich durch das Vorhandensein einer Demenz als Leitsymptom aus. Demenz kann aber auch sekundär als Folge einer Vielzahl von Erkrankungen auftreten. Beispiele hierfür sind Epilepsie, Schädel-Hirn-Trauma, Multiple Sklerose und Intoxikationen. Auch einige psychiatrische Erkrankungen zählen dazu, wie z.B. affektive Psychosen und Depressionen. Aufgrund ihres neurodegenerativen Charakters wird oft von einer Irreversibilität ausgegangen. Das kann sich allerdings im Laufe der Therapie ändern. Reversibilität und Irreversibilität der Störung sind für die Diagnose nicht ausschlaggebend. Der Begriff der Reversibilität wird jedoch kritisch betrachtet, da beobachtete Remissionen meist unvollständig waren.[23]

Es werden zwei Hauptformen der Demenz unterschieden, die vom Alzheimer – Typ (DAT) und die vaskuläre Demenz bzw. Multiinfarktdemenz. Die Diagnose impliziert eine schon längere Zeit bestehende (mindestens 6 Monate) Beeinträchtigung von Gedächtnisfunktionen, des Allgemeinwissens und der Fähigkeit, neue Informationen zu verarbeiten. Die Ausprägung der Beeinträchtigungen muss deutlich die Arbeitsfähigkeit oder die üblichen sozialen Tätigkeiten bzw. Beziehungen behindern. Dabei sind folgende Befunde auszuschließen:

- depressive Störung,
- Delir,
- leichte und mittelschwere Intelligenzminderung,
- Zustandsbilder kognitiver Schwäche aufgrund schwer gestörter sozialer Bedingungen mit mangelhaften Bildungsmöglichkeiten
- Latrogene psychische Störungen als Folge einer Medikation.[24]

Der DSM – III – R schließt Persönlichkeitsveränderungen als Kriterium ein und das Vorliegen mindestens eines der folgenden zwei Punkte:

1. Anamnese, körperliche Befunderhebung oder technische Zusatzuntersuchungen weisen auf das Vorliegen eines spezifischen organischen Faktors, der einen ätiologischen Zusammenhang mit der Störung nahe legt, hin.
2. Ein organischer Faktor vermag auch angenommen zu werden, falls eine nichtorganische psychische Störung ausgeschlossen werden kann.[25]

Bei der Demenz vom Alzheimer – Typ kommen zu diesen allgemeinen Kriterien für eine Demenz nach ICD – 10 folgende hinzu:

- Ein schleichender Beginn der Symptomatik mit langsamer Verschlechterung, ein Fehlen von Hinweisen auf andere Ursachen eines dementiellen Syndroms sowie
- das Fehlen eines apoplektischen Beginns und die Abwesenheit von neurologischen Herdzeichen.[26]
Bei vaskulärer Demenz sind im Gegensatz dazu,
- ein plötzlicher Beginn mit schrittweiser Verschlechterung und fluktuierendem Verlauf,
- das Vorliegen neurologischer Herdzeichen und – Symptome und Hinweise für eine bedeutsame zerebrovaskuläre Erkrankung Kriterien für die Diagnose.[27]

Es wird also immer eine hirnorganische Störung angenommen, wenn die Diagnose einer Demenzerkrankung gestellt wird. Es wird dabei meist auf die Ausprägung des hirnorganischen Abbaus oder der Veränderungen verwiesen, da viele dieser Befunde keine demenzspezifischen sind, sondern auch im normalen Alterungsprozess vorkommen können. Die Abgrenzung der Demenz zu normalen Veränderungen im Alter ist ein vieldiskutiertes Thema. Beyreuther u.a. stellen in ihrem Werk die Annahme vor, dass eine Interaktion verschiedener Faktoren (genetische Effekte, exogene Effekte definierter Dauer bzw. Krankheiten, akute, erheblich schädigende Ergebnisse) akkumulieren und abhängig von Zeit und Alter eine Demenzschwelle erreichten, welche die Diagnose Demenz erlaube. Diese Annahme sei allerdings noch wenig erforscht.[28]

2.2.1 Psychophysiologische Erkenntnisse der Demenz

Was sind also die Ursachen einer Demenz? Bezogen auf die Demenz vom Alzheimer – Typ wird die Abnahme der kortikalen Synapsendichte als ein frühes und erstrangiges morphologisches Korrelat gesehen. Aus diesem Grund liegt die Annahme nahe, dass am Beginn der Alzheimer – Demenz eine synaptische Schädigung steht. Die Amyloidablagerungen, welche in den Gehirnen von Alzheimer – Patienten gefunden werden, gelten nach heutiger Auffassung nicht mehr als Demenzursache, sondern vielmehr als Folge des demenzverursachenden Prozesses. Sie finden sich außerdem in z.T. erheblichem Ausmaß bei nichtdementen älteren Personen. Das Ausmaß degenerativer Veränderungen an Nervenfasern und Nervenzellen zeigt im statistischen Mittel eine gute Korrelation mit dem Auftreten und dem Schweregrad der Alzheimer – Demenz. Allerdings tritt eine über das normale Maß hinausgehende Degeneration erst im Spätstadium der Erkrankung auf.[29]

Es stellt sich also die Frage, was die Abnahme der kortikalen Synapsendichte beeinflusst. Die Leistungen des Gehirns stehen im Informationsaustausch zwischen Nervenzellen, welcher durch den Austausch von Überträgerstoffen stattfindet. Er findet im Bereich von spezialisierten Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, den sogenannten Synapsen statt. Diese Verbindungen unterliegen einem lebenslangen Auf- und Abbau, ein Vorgang, den man „Plastizität“ nennt. Bauer zitiert hier Hebb (1949 u.a.), der postuliert, dass der Gebrauch einer Synapse über ihre strukturelle Integrität entscheidet, dass also spezifisches Training bzw. spezifische Aktivität über Neubildung, Aufrechterhaltung oder Auflösung der Synapse entscheidet. Bauer nimmt nun an, und bezieht sich dabei auch auf tierexperimentelle Studien, dass psychosoziale Stimuli signifikante Effekte nicht nur auf die Synapsendichte, sondern auch auf die kortikale Ganglienzellzahl, auf die dendritische Arborisation (Verzweigung), auf die Amplituden hippokampaler postsynaptischer Feldpotentiale und auf die Lernfähigkeit haben.[30] „Demnach hat die Bedienung neuropsychologischer Funktionen, die das Individuum zur Adaption an seine Umwelt und zur Bewältigung seiner psychosozialen Umwelt einsetzt, Rückwirkungen auf die Morphologie von kortikalen Arealen, in denen diese Funktionen repräsentiert sind“.[31] Bauer geht von einer Begünstigung des dementiellen Abbaus durch Störungen zwischen Individuum und psychosozialer Umwelt aus.

Bauer stellt in seinem Werk ebenso Ergebnisse von Studien zu psychosomatischen Aspekten dar. Psychosomatik bezeichnet: „alle Prozesse, in denen die ersten Glieder einer Kette von Ereignissen subjektiv als Emotionen wahrgenommen und die nachfolgenden Glieder objektiv als Veränderungen der Körperfunktionen beobachtet werden...“.[32] Die Fixierung liegt hier in der Bedeutung des psychischen Geschehens, nicht so sehr in sozialen Zusammenhängen.[33] Die Synthese des in den Hirnen von Alzheimer – Patienten gebildeten Immunbotenstoffs Interleukin – 6, könne, so Bauer u.a. durch psychischen Stress induziert werden. Er beschreibt dazu eine Studie mit erkrankten Patienten welche die klinische Diagnose einer wahrscheinlichen Alzheimer – Demenz erfüllten sowie Patienten mit einer vaskulären Demenz. Untersuchungsergebnisse waren:

- Bei den Alzheimer – Patienten:

Vor Einsetzen erster kognitiver Symptome der Erkrankung ließ sich eine jahrelange Deaktivierungsentwicklung finden, die durch Behütung, Fremdbestimmung und schließlich Motivationsverlust charakterisiert ist.

Die vergleichende Analyse der an

- vaskulärer Demenz erkrankten Patienten zeigte:

die prämorbiden Persönlichkeiten sind häufig von einem ausgeprägten Kontrollbedürfnis gegenüber Bezugspersonen bestimmt. Im zeitlichen Vorfeld der Erkrankung findet häufig ein Kontrollverlust statt, der in der Regel dadurch zustande kommt, dass Bezugspersonen sich ihrer bisherigen Rolle und damit der Kontrolle entziehen.

Beide Patientengruppen mussten vor Beginn der Erkrankung eine lang anhaltende Stress – Situation aushalten. Sie mussten beide mit Veränderungen der gewohnten Situation klarkommen. Bauer geht nun davon aus, dass ein Mangel an Bewältigungsmöglichkeiten bestand und folglich die Situation als Bedrohung empfunden wurde. Dieser Stress habe möglicherweise direkte neurodegenerative Effekte (er zitiert an dieser Stelle Sypolsky); außerdem nimmt er an, dass Stress auch zu einer Verminderung der sogenannten kognitiven Reservekapazität führe. Dieser Reservekapazität maß David Rothschild (Neuropathologe und Psychiater) große Bedeutung bei. Er war der Überzeugung, dass mittels dieser Reservekapazität Nichtdementierende in der Lage seien, die Veränderungen bei der Alzheimer – Demenz zu kompensieren.[34]

Wenn Bauer den Mangel an Bewältigungsmöglichkeiten ursächlich für die Entstehung von Stress sieht, der letztendlich psychosomatische Prozesse in Gang setzt, hieße das, dass die Bildung der Persönlichkeit präventive Maßnahmen darstellten.

2.3 Verbindung der Konstrukte Menschenbild und Krankheitsverständnis

In welcher Weise beruht das Verständnis von Krankheit auf dem Menschenbild? Die Definitionen von Krankheit unterscheiden sich in ihrer Schwerpunktsetzung. Da gibt es die medizinisch – biologische, die psychologische und die soziale Sicht von Krankheit. Die Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation umfasst alle drei genannten Schwerpunkte: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“[35] Die verschiedenen Sichtweisen von Krankheit schließen sich also nicht gegenseitig aus, sondern sie betrachten das Phänomen Krankheit aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Sie sind daher alle mehr oder weniger zutreffend und miteinander kombinierbar.[36]

Betrachtet man nun den Menschen in seiner Ganzheit als biologisches, psychisches und soziales Wesen, wird der Grundbezug zum Verständnis von Krankheit deutlich. Aus humanpsychologischer Sicht seien diese innerpsychischen und externen Teile voneinander abhängig.[37] Das heißt, dass eine biologische Veränderung, welche durch eine körperliche Krankheit bewirkt wird, seelische und soziale Auswirkungen haben kann und umgekehrt. Wenn von Ganzheit gesprochen wird, von Teilen, welche interdependent sind, kann davon ausgegangen werden, dass eine Situation, die Teile dieser Ganzheit bedrohen oder in ihrem Prozess stören, zu Krankheit führen kann. Betrachtet man einige Thesen über den Menschen aus der Sicht der humanistischen Psychologie, so käme der Selbstverwirklichung hohe Bedeutung zu. „Das Streben nach Selbstverwirklichung, oder auch Selbstaktualisierung wird neben primären Bedürfnissen (z.B. nach Schlaf, Nahrung) als grundlegende Antriebskraft menschlichen Handelns gesehen“.[38] Nach Rogers kann diese Selbstaktualisierung behindert werden. Dabei spielen die sogenannten Bewertungsbedingungen eine Rolle, welche vom sozialen Umfeld vermittelt werden. Werden sie zu integrierten Werten, so können sie dazu führen, dass Selbsterfahrungen allein deshalb gemieden oder angestrebt werden, weil sie als mehr oder weniger wertvoll für die Selbstbeachtung des Individuums eingeschätzt werden. Tatsächlich folgt die Einschätzung einer Erfahrung nicht im Sinne der Selbstaktualisierung, sondern aufgrund der Bewertungsbedingungen. Interessanterweise gründet diese Verhaltensweise nicht auf der grundlegenden Tendenz zur Aktualisierung und ist daher auch dem Organismus nicht förderlich. Sie hindert das Individuum daran, autonom und frei zu handeln.[39] Das Zusammenspiel zwischen Psyche und sozialem Umfeld wird hier eindeutig. Die Verbindung zur Krankheit, hier am Beispiel psychischer Krankheit, liefert Paulus in seinem Bericht über Selbstverwirklichung als psychische Gesundheit. Er sieht die Selbstverwirklichung als einen grundlegenden Aspekt psychischer Gesundheit an.[40] „Die Selbstgestaltung repräsentiert also einen elementar wichtigen Aspekt menschlichen Lebens...“.[41] Paulus bemerkt kritisch, dass die Selbstverwirklichung und die soziale Anpassung sich im Wege stehen könnten. Die Frage, die sich für mich stellt, ist, inwieweit soziale Anpassung, welche mit den Bewertungsbedingungen zusammenhängt und Selbstverwirklichung nebeneinander stehen können, ohne das Individuum in seiner psychischen Gesundheit zu beeinträchtigen. Diese zwei Bedürfnisse müssen sich nicht gegenseitig ausschließen; so könnte man davon ausgehen, dass soziale Anpassung dazu benutzt, nicht unbedingt gebraucht, wird, sich selbst zu verwirklichen.

Meine Ausführung stellt nur ein Beispiel für den Bezug des Krankheitsverständnisses zum Menschenbild dar. Es sollte verdeutlicht werden, dass das Bild vom Menschen eng mit dem Verständnis von Krankheit in Zusammenhang steht. „Das Denken des Menschen kreist um seinen Körper, um körperliche Gesundheit und Krankheit. Oft ist es das Verhalten der Menschen, das über ihr körperliches Wohlbefinden entscheidet“.[42]

3. Vorstellung der Referenztheorie

3.1 Theorie der Persönlichkeit von C. Rogers

3.1.1 Begründung für die Auswahl

In den Konzepten von Kitwood und Feil stehen Beziehungen im Mittelpunkt der Ausführungen. Die Basis von Rogers Theorien sind ebenfalls Beziehungen. Rogers ist Begründer der „klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie“, welche später als personenzentrierter Ansatz bezeichnet wird, weil Rogers von einer Übertragbarkeit auf andere Beziehungen als der zwischen Therapeut und Klient ausgeht. Kitwood folgt in seinem Konzept der Psychotherapie nach Rogers. Er transformiert den personenzentrierten Ansatz auf sein Konzept zum Umgang mit Dementierenden. Das Ziel seines Konzeptes differiert allerdings zu dem der Psychotherapie. Während die Psychotherapie das Ziel der Heilung, im Sinne einer annähernd „voll entwickelten Persönlichkeit“[43] verfolgt, besteht sein Ziel in der Erhaltung des Personenseins dementierender Menschen. Man kann daher von einem pflegetherapeutischen Ansatz sprechen, dessen Ziel in der Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung liegt.

Feils Ansatz ist ebenfalls pflegetherapeutisch. Sie selbst benennt einige Ziele, welche Validation mit der Psychotherapie gemein hätten: „Selbstvertrauen steigern, Wohlbefinden stärken und die Bewältigung von Stress.“[44]

Eine psychotherapeutische Theorie zum Vergleich und zur Analyse zweier pflegetherapeutischer Ansätze zu verwenden, erscheint mir sinnvoll. Einige Kernpunkte der Konzepte in Bezug zur Theorie stelle ich in anknüpfender Tabelle vor. Die Richtschnur von Konzepten und Theorien sind das Ziel und die Verfahren, um zu diesem Ziel zu gelangen. Eine Übersicht dieser Hauptelemente der Theorie von Rogers als Referenztheorie sowie der zu vergleichenden Konzepte von Kitwood und Feil in folgender Tabelle dargestellt.

Übersicht der Gemeinsamkeiten der Theorie von Rogers und den Konzepten von Naomi Feil und Tom Kitwood: eine tabellarische Darstellung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein weiterer Grund für meine Auswahl ergibt sich aus dem Bestandteil meiner Untersuchung; das Menschenbild. Die Theorie Rogers wird der Humanpsychologie zugeordnet. Die humanistische Psychologie geht von Interdependenzen psychischer Prozesse und der sozialen Umgebung des Menschen aus. Er wird als soziales Wesen verstanden, das immer in Interaktion mit anderen steht. Dies sind Aspekte, welche auch in den Konzepten von Feil und Kitwood zu finden sind, wie sich herausstellen wird. Es erscheint mir wichtig, eine Theorie zu verwenden, welche sich nicht grundlegend von den zu untersuchenden Konzepten unterscheidet. Dies ermöglicht das Hervorheben von Aspekten anhand von Parallelen.

3.1.2 Vorstellung der Theorie

Carl Rogers (1902 – 1986), amerikanischer Psychologe und Begründer der personenzentrierten Gesprächsführung, stellt in seinem Konzept wichtige Voraussetzungen für erfolgreiche therapeutische Beratung heraus. Die theoretischen Grundlagen und Annahmen zu diesem Konzept beschreibt er in seiner „Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen“. Rogers wird der humanistischen Psychologie zugeordnet, welche sich mit der Erforschung menschlichen Lebens unter dem Aspekt der Selbstverwirklichung befasst. Ihr zentraler Untersuchungsgegenstand ist das Bewusstsein mit besonderer Betonung auf der Entwicklung über die gesamte Lebensspanne. Die Verhaltenstherapie konzentriert sich am Behaviorismus und damit am äußeren Verhalten (Reaktionen / Reflexe) einer Person. Die Idee einer kontinuierlichen und phasentypischen Entwicklung, wie sie die Psychoanalyse kennt ist ihr fremd.[45] Es geht also in der Humanpsychologie um die Entwicklung über die gesamte Lebensspanne mit dem Augenmerk auf der Selbstverwirklichung des Menschen. Aber nicht nur innere Möglichkeiten der Entfaltung kommen hier zum Tragen. Es wird angenommen, dass äußere Faktoren im Sinne einer Wechselbeziehung zur Entfaltung und Entwicklung eines Menschen beitragen. Rogers betont hier ganz besonders die Bedeutung von sozialen Beziehungen auf die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Seine Intention liegt in der Darstellung von Aspekten eines zwischenmenschlichen Beziehungsangebotes für therapeutisch wirksame Veränderungen.[46]

Seine Vorstellung von der Entwicklung der Persönlichkeit beinhaltet neben Motivationskonzepten, die mit Begriffen wie Bedürfnisreduzierung, Spannungsreduzierung und Triebreduzierung arbeiten, ebenso das Bedürfnis nach Wachstum; Wachstum im Sinne von freudvoller Spannung, Tendenz zu Kreativität und effektivem Handeln.[47] Er spricht hier von der grundlegenden Aktualisierungstendenz, welche dem Organismus innewohnt und als Antrieb für das Selbst dient. Als Subsystem dieser fungiert die Tendenz zur Selbstaktualisierung. In dieser Neigung symbolisiert sich das, was Rogers das Selbst nennt. Es besteht also eine Tendenz zur Entwicklung und Entfaltung des Selbst. Diese Entfaltung und Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess, der im Austausch mit anderen stattfindet. Für Rogers ist ein „In – Beziehung – sein Grundlage eines Sich – selbst – Erfahrens“.[48] Rogers sieht den Menschen also als soziales Wesen und richtet daher sein Augenmerk auf die Beziehung. „... und dass der innere Kern der menschlichen Persönlichkeit der Organismus selbst ist, der in seinem Wesen sowohl selbsterhaltend als auch sozial ist“.[49] Er konzentriert sich nicht nur auf die Beziehung zwischen Therapeut und Klient, sondern räumt eine Übertragbarkeit auf zwischenmenschliche Beziehungen im Allgemeinen ein. „... erkenne ich, dass alles, was ich gelernt habe , in allen meinen mitmenschlichen Beziehungen – nicht nur im Umgang mit problembeladenen Klienten – anwendbar ist“.[50]

Der Begriff Personenzentriert macht dies deutlich. Ursprünglich verwendete Rogers die Bezeichnung „nicht-direktiv“, was eine Gegenposition zu direktiven Ansätzen in der Psychotherapie deutlich machen sollte. Mit direktiven Ansätzen sind verhaltenstherapeutische und psychoanalytische Therapien gemeint. „Beim direktiven Vorgehen steht die Sache (das Problem, das Thema, der Inhalt) im Vordergrund“.[51] Der Therapeut agiert aus seiner Erfahrung und seiner kompetenten Position heraus. Er gibt Ratschläge zum Finden einer Lösung.[52] Das nicht – direktive Vorgehen stellt das Erleben der Person in den Mittelpunkt des Interesses. Dieses Vorgehen berücksichtigt die Andersartigkeit der Wahrnehmung von Individuen und macht die Person zum Experten seiner Selbst. „Er sieht in der Person des Menschen selbst die Autorität, nicht in Methoden und nicht in Experten“.[53]

3.1.3 Darstellung der Begrifflichkeiten und der Konstrukte der Theorie Rogers

3.1.3.1 Aktualisierungstendenz

- Tendenz zur Selbstaktualisierung

Die Aktualisierungstendenz bezeichnet Rogers als Grundnatur des menschlichen Organismus. Das Selbst wird gewissermaßen angetrieben von der Tendenz zur „Entfaltung aller Kräfte, die zur Erhaltung oder dem Wachstum des Organismus dienen.“[54] Die bewussten Anteile des Selbst sind als Abbild der intrapsychischen Erlebenswelt ohne eigenständige Funktion zu betrachten.[55] Sie ist als grundsätzliches Bedürfnis zu verstehen. „Alle organischen und psychischen Bedürfnisse lassen sich als Teilaspekte dieses einen grundsätzlichen Bedürfnisses beschreiben“.[56] Die Aktualisierungstendenz kann im Widerspruch zum Selbstkonzept stehen. Wenn beispielsweise die Erfahrung gemacht wird, dass für ein bestimmtes Gefühl, die Liebe von Seiten der Bezugsperson entzogen wird, wird dieses Gefühl unterdrückt, obwohl es im Selbstkonzept verankert ist.

Die Tendenz zur Selbstaktualisierung ist das Subsystem der Aktualisierungstendenz. Es ist die Kraft, die einen Drang zur Selbstverwirklichung hat. Selbstverwirklichung beinhaltet die Kongruenz zwischen Erfahrung und Selbst.

Folglich kann also die Aktualisierungstendenz auch im Widerspruch zu seinem Subsystem stehen.

3.1.3.2 Selbst und damit zusammenhängende Konstrukte

- Selbstkonzept
- Selbststruktur
- Selbsterfahrung

Diese Begriffe bezeichnen eine organisierte, in sich geschlossene Gestalt. Sie setzt sich zusammen aus Wahrnehmungen des Ich, Wahrnehmungen von Beziehungen des Ich zur Außenwelt und verschiedenen Lebensaspekten, einschließlich deren Erfahrungen und den damit verbundenen Werten. Rogers versteht das Selbst als Prozess, der nicht unbedingt im Gewahrsein (Bewusstsein) abläuft. Demzufolge ist das Selbst keine statische Erscheinung, sondern veränderbar. Rogers spricht von der Selbststruktur, wenn auf das Selbst von einem äußeren Bezugsrahmen aus geblickt wird.[57] Die Selbsterfahrung ist jenes Ereignis, welches individuell in das Selbst integriert wird. „Selbsterfahrung geschieht durch Interaktion mit der Umwelt und ganz besonders durch zwischenmenschliche Erfahrungen. Anhand der Selbsterfahrungen entwickelt das Individuum ein Bild von sich selbst, eine Sichtweise seiner selbst, welches Rogers das Selbstkonzept nennt“.[58]

3.1.3.3 Erfahrung und damit zusammenhängende Konstrukte

- Erlebnis, Erfahrung
- Gefühl / Erleben eines Gefühls

Der Begriff Erlebnis beschreibt Ereignisse, welche sich innerhalb des Organismus abspielen. Diese Ereignisse können gewahr sein, können sich aber auch auf einer Ebene unterhalb des Gewahrseins befinden.

Das heißt, die Ereignisse auf der Ebene der Gewahrwerdung treten zu diesem bestimmten Zeitpunkt nicht in den Mittelpunkt. Ein Beispiel dafür ist der Hunger, der nicht mehr wahrgenommen wird, wenn andere Ereignisse im Zentrum des Interesses stehen. Etwas erleben bezeichnet folglich, dass die sensorischen und physiologischen Einflüsse, die in einem bestimmten Augenblick vorhanden sind, den Organismus erreichen. Die Erfahrung schließt den Einfluss der Erinnerungen vergangener Erfahrungen ein, sofern sie in diesem Augenblick aktiv sind. Die Erfahrung kann gewahr, aber auch nur der Gewahrwerdung zugänglich sein.

Erlebnisse beziehen sich also auf den Augenblick, Erfahrungen beziehen die Vergangenheit ein. Gefühle sind emotional gefärbte Erfahrungen einschließlich ihrer individuellen Bedeutung. Sie können ebenfalls der Gewahrwerdung zugänglich, oder aber schon gewahr sein.[59]

[...]


[1] Vgl. Bosch 1998, S.17

[2] Bauer, R. 1997, S.53

[3] Vgl. Müller – Hergl, in Kitwood 2000, S.9

[4] Vgl. Feil 1999, S.37

[5] Vgl. Feil 1999, S.37

[6] Wieninger in Bauer, Jehl 2000, S.48

[7] Schönpflug 1997, S.15

[8] Ebd., S.15

[9] Vgl. ebd. S.15

[10] Fisseni 1984, S.3

[11] Ebd., S.9

[12] Vgl. Schönpflug 1997, S.40

[13] Vgl. ebd., S.54

[14] Kreuter-Szabo 1988, S.12

[15] Vgl. Völker 1980, S.20

[16] Vgl. ebd., S.17

[17] Vgl. ebd., S.17

[18] Kreuter-Szabo 1988, S.14

[19] Schönpflug 1997, S.55

[20] Vgl. Völker 1980, S.18

[21] Vgl. Von Scheidt, Eikelbeck 1995, S.109

[22] Vgl. Wächtler 1997, S.20

[23] Vgl. ebd., 17-21

[24] Wächtler 1997, S.18

[25] Vgl. ebd., S.18

[26] Vgl. Bauer, J. 1994, S.10

[27] Vgl. Wächtler 1997, S.19

[28] Vgl. Beyreuther, Einhäupl, Förstl u.a. 2002, S.9

[29] Vgl. Bauer, J. 1994, S.44-50

[30] Vgl. Bauer, J. 1994, S.57-58

[31] Ebd., S.58

[32] Wesiack 1974, S.13

[33] Vgl., Waller 1985, S.20

[34] Vgl. zu diesem Abschnitt, Bauer, J. 1994, S.59 - 65

[35] Waller 1993, S.10

[36] Vgl. ebd., S.16

[37] Vgl. Völker 1980, S.20

[38] Vgl. ebd., S.17

[39] Vgl. Rogers 1991, S.36

[40] Vgl. Paulus in Meyer – Cording, Speierer 1990, S.26

[41] Paulus, in ebd., S.27

[42] Schönpflug 1997, S.22

[43] Rogers 1991, S.59

[44] Feil 1999, S.102

[45] Vgl. zu diesem Absatz Schönpflug 1997, S.54 - 57

[46] Vgl. Beck 1991, S.88, zit. nach Kriz 1985

[47] Vgl. Rogers, Stevens 2001, S.22

[48] Beck 1991, S.98

[49] Rogers 2000, S.100/101

[50] Ebd., S.46

[51] Schmid 1989, S.40

[52] Vgl. ebd., S.42

[53] Schmid 1989, S.97

[54] Vgl. Rogers 2001, S.41

[55] Vgl. Kreuter-Szabo 1988, S.15

[56] Kreuter-Szabo 1988, S.103

[57] Vgl. Rogers 1991, S.26

[58] Vgl. ebd., S.49

[59] Vgl. Rogers 1991, S.23

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Das Menschenbild und Krankheitsverständnis in den Konzepten der Validation und des Dementia Care Mapping
Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main  (Pflegewissenschaft)
Veranstaltung
Pflegewissenschaft
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
59
Katalognummer
V9175
ISBN (eBook)
9783638159487
ISBN (Buch)
9783656062721
Dateigröße
617 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
DCM, Validation, Demenz, Personenzentriert
Arbeit zitieren
Susanne Claus (Autor:in), 2002, Das Menschenbild und Krankheitsverständnis in den Konzepten der Validation und des Dementia Care Mapping, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9175

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