Entstehung, Gegenwart und Zukunft des Radikalen Konstruktivismus


Hausarbeit, 2002

23 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Wurzeln des Radikalen Konstruktivismus
2.1 Die Vorsokratiker
2.2 Giambattista Vico
2.3 Jean Piaget
2.4 Kybernetik und Systemtheorie
2.5 Hirnforschung

3. Der Radikale Konstruktivismus - Viabilität als Maßstab des Handelns

4. Wissenschaft verläuft in Kontroversen - Kritik am Radikalen Konstruktivismus
4.1 Das Problem der Viabilität als Maßstab des Handelns
4.2 Das Argument des ethischen Vorteils
4.3 Selbstanwendung und Selbstwiderlegung

5. Zukunftskonstruktionen
5.1 Solide Grundlage schaffen
5.2 Realen Gegner benennen
5.3 Entglorifizierung von Trivialem
5.4 Zentrale Begriffe und Sachverhalte klären
5.5 Mehr Homogenität

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ich werde mich in dieser Arbeit mit der noch recht jungen Theorie des Radikalen Konstruktivismus auseinandersetzen. Mitte der 70er Jahre des 20. Jh. entstand diese spezielle Art des konstruktivistischen Denkens und schlug „große Wellen“, die über die Scientific Community hinaus bis in die Alltagsvorstellungen der Menschen reichten. Im wissenschaftlichen Bereich bedeuteten die neuen, skeptisch geprägten, Überlegungen und Postulate der Anhänger des Radikalen Konstruktivismus (RK) zwar keinen Paradigmenwechsel (dazu später mehr), sie sorgten allerdings gerade in den Medien- und Kommunikationswissenschaften nachhaltig für große Veränderungen in Bezug auf Theorien- und Modellbildungen. Der RK lieferte beispielsweise die Grundlagen für die Entwicklung eines komplett neuen Konzepts zur Bestimmung und Analyse von Kommunikations- und Medienereignissen. In wie weit beeinflussen Medien das Erkennen und die Vorstellung der Wirklichkeit? Für diese und ähnliche zentrale Fragen in den Medienwissenschaften gab der RK neue Antwortmöglichkeiten, die klassische, behavioristische Erklärungen (scheinbar) obsolet machten. Das macht diesen Diskurs für mich so interessant und daher habe ich meinen Themenfokus in dieser Arbeit entsprechend gesetzt. Gerade vor dem Hintergrund seiner Popularität ist es sehr spannend zu beobachten, dass der RK höchst umstritten ist und kontrovers diskutiert wird. Wie ich im Folgenden zeigen werde, gibt es ausreichend Grundlage für berechtigte Kritik.

Meine Herangehensweise an das vorliegende Thema ist eine philosophische, da ich der Auffassung bin, dass diese es am Besten ermöglicht, die Probleme und Widersprüche in den Grundstrukturen des RK aufzuzeigen, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Eine Gefahr, die bei weniger generalistischen Disziplinen eher gegeben ist. Außerdem, ermöglicht eine solche Herangehensweise die optimale Verknüpfung von Erkenntnissen aus den verschiedensten Bereichen, dies wird der interdisziplinären Beschaffenheit des RK m.E. am besten gerecht.

Das Ziel meiner Arbeit ist es, die wichtigsten Kritikpunkte am RK aufzuzeigen und daraus Ansätze zu entwickeln, die sich auf die zukünftige Entwicklung dieses Diskurses beziehen. Diese Vorschläge und Anregungen zur zukünftigen Entwicklung des RK formuliere ich in Kapitel 5 - „Zukunftskonstruktionen“. Da sich Aussagen über die Zukunft immer schwer gestalten und ich mich natürlich nicht in Spekulationen ergehen werde, stützen sich die hier getätigten Aussagen auf die in Kapitel 4 - „Wissenschaft verläuft in Kontroversen - Kritik am Radikalen Konstruktivismus“ dargestellten Kritikpunkte. Kapitel 4 und 5 bilden also sozusagen die inhaltliche Einheit der Sollensproblematik.

Kapitel 2 - „Die Wurzeln des Radikalen Konstruktivismus“ vermittelt das nötige historische Fundament, um die inhaltliche Entstehung und Entwicklung des Diskurses bis zum heutigen Tag nachvollziehbar zu machen. In Kapitel 3 - „Der Radikale Konstruktivismus - Viabilität als Maßstab des Handelns“ beschreibe ich daran anschließend den momentanen Ist- Zustand des Diskurses. Dieses Kapitel liefert somit nicht nur die Möglichkeit, sich mit meiner Auffassung des RK vertraut zu machen, sondern ist im Kontext meiner Ausarbeitung dahingehend zentral, als dass es das Bindeglied zwischen Vergangenem und Zukünftigem darstellt.

Schreibt man über den Konstruktivismus im Allgemeinen, oder den Radikalen Konstruktivismus im Besonderen, so steht man in gleicher Weise vor dem Problem der Definition des zu behandelnden Objekts. Denn beide Themenkomplexe stellen jeweils kein einheitliches Theoriegebäude dar (vgl. Schmidt 1994, 3 f.), sondern sind als durchweg heterogener Widerstreit von verschiedenen Denkern aus den unterschiedlichsten Disziplinen aufzufassen. So werde ich die Bezeichnung „Der Radikale Konstruktivismus“ dann auch dementsprechend in dieser Ausarbeitung verwenden: Als Bezeichnung für einen interdisziplinären Diskurs, der keines Falls als abgeschlossen verstanden werden darf.1

Da ich der Auffassung bin, dass man sich im Zuge von wissenschaftlichen Diskursen durchaus einer objektiven Wahrheit (zumindest) annähern kann und ich diesen Anspruch auch in den folgenden Ausführungen vertrete, lässt sich die Position, die ich in dieser Arbeit einnehme, als realistisch bezeichnen.

2. Die Wurzeln des Radikalen Konstruktivismus

In diesem Kapitel werde ich kurz den Ursprung des RK skizzieren. Dabei geht es mir nicht so sehr um die Beschreibung historischer Kontexte im Sinne einer chronologischen Auflistung, sondern vielmehr um die Darstellung der inhaltlichen Wurzeln des Diskurses. Diese Form der Aufarbeitung erlaubt es einen zentralen Punkt des RK besser darzustellen, seine Trans- und Interdisziplinarität und somit seine Verwandtschaft zu anderen Theorien und Denkmodellen.

Der Begriff des RK wurde 1974 vom österreichischen Philosophen und Psychologen Ernst von Glasersfeld in den allgemeinen konstruktivistischen Diskurs eingeführt (vgl. auch Schmidt 1994, 4). Im Zuge der Etablierung dieses Denkstils entbrannten bald heftige Auseinandersetzungen zwischen Vertretern des Realismus und solchen mit einer (radikal-) konstruktivistischen Weltanschauung. Diese beiden Modelle standen (und stehen) sich auf Grund ihrer unterschiedlichen Auffassung in Bezug auf das Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit diametral gegenüber. Hier nun die wichtigsten Einflüsse, die Ernst von Glasersfeld dazu bewegten, seinen RK zu formulieren.

2.1 Die Vorsokratiker

Die Auffassung, dass es logisch unmöglich sei, die Welt objektiv zu erkennen (so wie sie wirklich ist), lässt sich mindestens bis ins Jahr 6 v. Chr. zurückverfolgen. Die verschiedensten Philosophen beschäftigten sich bereits zu dieser Zeit mit dem Problem des Zugangs zur Wirklichkeit. Und so kam unter anderen Xenophanes zu dem Schluss, dass selbst wenn ein Mensch jemals die Welt so erkennen sollte, wie sie wirklich ist, er dieses selbst doch nie wissen könne (vgl. Glasersfeld 1998a, 36). Glasersfeld leitete hieraus seine Überzeugung ab, dass ein Mensch nicht vor seine Erfahrung zurückgehen kann und dass deshalb Erkenntnis niemals die Repräsentation einer objektiven Welt sein kann. Diese Auffassung widersprach jener der klassischen (realistischen) Erkenntnistheoretiker und stellt eine Grundannahme des RK dar.

2.2 Giambattista Vico

Vico ist für den Diskurs des RK deshalb so bedeutsam, weil er Wo kommt der Radikale Konstruktivismus her, wo geht er hin? Seite 6 ebenfalls mit der philosophischen Tradition gebrochen hat, Erkenntnis als Repräsentation einer vom Beobachter unabhängigen Realität zu betrachten (Glasersfeld 1992, 21 ff.). Er bereichert aber nach Glasersfeld Ansicht das von den Vorsokratikern formulierte Problem vom mangelnden Zugang zur Wirklichkeit um eine weitere, bedeutende Einsicht. Das erkennende Subjekt rückt bei Vico erstmals als Wissensproduzent ins Zentrum der Betrachtung. Ein Gedanke, der vorher noch nicht formuliert worden war und im RK zum Postulat der kognitiven Autonomie weiter entwickelt wurde. Vico formulierte mit seinen Überlegungen den frühesten erkenntnistheoretischen Konstruktivismus und leistete einen enormen Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie eine vom Subjekt selbst erzeugte Welt stabil und verlässlich sein könne.

2.3 Jean Piaget

Entgegen Vico war Piaget nicht an einer erkenntnistheoretischen Sichtweise der Dinge interessiert, er entwickelte seinen Konstruktivismus auf einer biologischen Grundlage. Piaget ging davon aus, dass sich Organismen anpassen, wenn ihr inneres Gleichgewicht durch sogenannte Perturbationen gestört wird. Die biologische Anpassung, die daraufhin erfolgt, kommt nicht durch die Abbildung einer ontologischen Realität im Subjekt zustande, sondern durch dessen Bemühungen, die aufgetretenen Perturbationen möglichst effektiv zu „umschiffen“, um sich so seine Lebensfähigkeit zu erhalten. Glasersfeld arbeitete diesen Gedanken in die Grundstrukturen seines RK ein und bezeichnet ihn als Aufbau einer gangbaren oder viablen Handlungs- und Denkweise.

Von Glasersfelds RK baut zu einem großen Teil auf den Überlegungen Piagets genetischer Erkenntnistheorie auf. Eine nicht ganz unumstrittene Grundlage.

2.4 Kybernetik und Systemtheorie

Als weitere wichtige Quelle für die Überlegungen von Ernst von Glasersfeld muss die Kybernetik genannt werden. Diese lieferte ihm mit ihren mathematischen Beschreibungen und modellartigen Erklärungen dynamischer (komplexer) Systeme und den daraus hervorgehenden Theorien zur Selbstregulierung wichtige Erklärungen, um seinen RK zu formulieren. Die grundlegenden Themen der Kybernetik zweiter Ordnung: Die Selbstreferenz und die Geschlossenheit von Systemen sind elementarer Bestandteil des RK. Als einer der wichtigsten Forscher auf dem Feld der Kybernetik, der den RK enorm voran gebracht hat, ist sicherlich Heinz von Foerster zu nennen.

2.5 Hirnforschung

Nicht zu vergessen sind an dieser Stelle natürlich auch noch die Ausarbeitungen der Biologen und Erkenntnistheoretiker Francisco J. Varela und Humberto R. Maturana, die mit ihrem 1970 erschienen Buch „Autopoiesis und Kogn ition“ das Konzept der Autopoiese in den Diskurs um den RK einbrachten. Autopoietische Systeme sind laut der beiden Autoren selbstreferentiell aufgebaut und selbsterhaltend. Diese Konzeption diente Glasersfeld als Grundlage für die Entwicklung seines Prinzips der Viabilität, auf das ich im Folgenden noch näher eingehen werde.

Aus diesem kurzen Abriss der Entstehung des RK werden (mindestens) zwei Dinge ersichtlich. Zum einen ist schon in Bezug auf seine Entstehung deutlich die Interdisziplinarität erkennbar, die den Diskurs so kennzeichnet: Philosophen, Neuro-Biologen/Neuro-Physiologen, Pädagogen und Kybernetiker (u.v.m.), alle haben sie wichtige Beiträge für die Entstehung und Entwicklung des RK geliefert. Zum anderen wird erkennbar, dass Glasersfeld nicht ganz bei null angefangen hat, als er seine Theorie formulierte. Er sagt selbst:

Ich lege Wert auf die Feststellung, daß die konstruktivistische Denkweise keine neue Erfindung ist; und ich selbst habe mich lediglich bemüht, die Gedanken anderer zu koordinieren. (Glasersfeld 1992, 20) Eine Feststellung, die dazu führt, dass ihm manche Kritiker Eklektizismus bzw. das Schaffen einer „Patch -Work-Theorie“ vorwerfen.

Zu was genau Ernst von Glasersfeld die verschiedenen Fragmente und Ideen der oben aufgeführten Disziplinen synergetisch zusammengeführt hat, zeige ich im nächsten Kapitel.

3. Der Radikale Konstruktivismus - Viabilität als Maßstab des Handelns

Die beiden Fragen, die in diesem Kapitel beantwortet werden sollen, lauten: Was ist der RK, und was behaupten seine Anhänger? Das Ergebnis der Beantwortung dieser Fragen wird meinen Selektionsfokus in Bezug auf den RK verdeutlichen und die Grundlage der sich in den folgenden Kapiteln anschließenden kontroversen Kritik darstellen.

Den besten Einstieg zur Beantwortung der ersten Frage liefert Eckard König, wenn er auf einen Artikel Ernst von Glasersfelds Bezug nimmt und schreibt: Von Glasersfeld bezeichnet den Radikalen Konstruktivismus als ‚Wissenstheorie’: D.h. Gegenstand des Radikalen Konstruktivismus ist menschliches Wissen. (1998b, 537) Diese Definition trifft den Kern des RK, bedarf allerdings einiger Ausweitungen. Denn es werden im RK sowohl Aussagen zu allen Prozessen gemacht, die dem Wissen vorgeordnet sind, als auch Handlungstheorien entwickelt, die das Handeln im Alltag genau so betreffen, wie z.B. das wissenschaftliche Forschen. Also auch ethische Fragen, die in den Bereich der Wissenschaftstheorie hineinreichen, spielen eine durchaus wichtige Rolle. Dem obigen Zitat muss außerdem noch hinzugefügt werden, dass sich der RK in seinen Betrachtungen keinesfalls auf menschliche Lebewesen beschränkt. Im Diskurs geläufig ist vielmehr eine, an die Ergebnisse der Systemtheorie anknüpfende Unterscheidung in System und Umwelt, nicht mehr in Subjekt und Objekt. Diese Systeme können, je nach Denker und Disziplin, ganz unterschiedlich definiert sein: Menschen, Tiere, soziale oder auch mediale Systeme sind gleichermaßen mögliche Gegenstände einer Betrachtung. Im Zentrum der folgenden Ausführungen wird der Mensch als lebendes Subjekt (bzw. lebendes, kognitives System) stehen. Ich möchte nun nach diesem kurzen Einstieg zur zweiten der oben aufgeworfenen Fragen kommen und die Darstellung des Diskurses dadurch konkretisieren, dass ich die Thesen und Annahmen seiner Anhänger aufzeige.

Am Sinnvollsten ist es m.E., den RK ausgehend von den biologischen und neuro-physiologischen Tatsachen2 zu entwickeln, die ihm zugrunde liegen.

[...]


1 Warum ich der Auffassung bin, den Diskurs als noch nicht abgeschlossen zu bezeichnen, erläutere ich in Kapitel 5.

2 Anhänger des RK müssten hier konsequenter Weise von viablen Wirklichkeitskonstruktionen sprechen.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Entstehung, Gegenwart und Zukunft des Radikalen Konstruktivismus
Hochschule
Universität Siegen  (Institut für Medienforschung)
Veranstaltung
Einführung in den Medienstudiengang
Note
2,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
23
Katalognummer
V9160
ISBN (eBook)
9783638159340
ISBN (Buch)
9783638640886
Dateigröße
661 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, Konstruktivismus
Arbeit zitieren
Fabian Kockartz (Autor:in), 2002, Entstehung, Gegenwart und Zukunft des Radikalen Konstruktivismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9160

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