Wie demokratisch ist die direkte Demokratie in der Schweiz?

Die Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung"


Hausarbeit, 2020

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das halbdirektdemokratische Politiksystem der Schweiz

3. Die „Masseneinwanderungsinitiative“ (MEI)

4. Bewertung der Demokratiequalität der MEI

5. Vorschläge zur Reformierung der Volksinitiative

6. Fazit

Literatur

1. Einleitung

Direktdemokratische Institutionen haben in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erhalten – und das nicht nur in der Schweiz, einem Land mit viel direktdemokratischer Erfahrung, sondern weltweit. Dieses gestiegene Interesse schlägt sich in einer wachsenden Anzahl politikwissenschaftlicher Literatur zum Thema „direkte Demokratie“ nieder. (Vgl. Barankay et al. 2003: 169ff.) In der jüngeren Vergangenheit wurden in der Schweiz mehrere grundrechtsproblematische Volksinitiativen von der Stimmbevölkerung akzeptiert. Damit gerät das direktdemokratische Instrument zunehmend in Konflikt mit den Normen des internationalen Völkerrechts. (Vgl. Vatter 2018: 403) Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Hausarbeit die Demokratiequalität des unmittelbaren Mitwirkungsinstruments der Volksinitiative in der Schweiz. Dazu wird beispielhaft die Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“, auch „Masseneinwanderungsinitiative“ (MEI) genannt (Vatter 2018: 7, 544), betrachtet. Schwerpunkt der Betrachtung ist die direkte Demokratie auf Schweizer Bundesebene und genauer die Volksinitiative, da es sich bei der hier untersuchten MEI um eine solche handelt. Die MEI wurde in einer Volksabstimmung am 9. Februar 2014 mit einer knappen Mehrheit von 50,3% angenommen (vgl. Tschentscher/ Minder 2014: 175f.) und gilt als grundrechtsproblematisch (vgl. Vatter 2018: 544). Um einen ganzheitlichen Blick auf das Thema zu werfen, werden zur Bewertung der Demokratiequalität der MEI die „klassischen drei Dimensionen eines politischen Systems“ (Merkel/ Ritzi 2017a: 238) betrachtet: Die Input-Dimension untersucht das Antragsquorum und den Abstimmungsgegenstand. Die Throughput-Dimension eruiert, ob Beteiligungs- und Zustimmungsquoren bestehen, also ob Mindestzahlen für abgegebene Stimmen vorgeschrieben sind. In derselben Dimension wird betrachtet, inwiefern eine Vorabprüfung der Volksinitiative vor der Abstimmung erfolgt. Die Output-Dimension erfragt, ob das Ergebnis der Abstimmung eine Benachteiligung für eine Bevölkerungsgruppe darstellt und ob die Souveränität des Volkes gewahrt wird. (Vgl. Merkel/ Ritzi 2017a: 239–247) Die Demokratiequalität der MEI wird schließlich einer Bewertung nach normativen Gesichtspunkten unterzogen.

In Anlehnung an Linder verwendet die vorliegende Hausarbeit den Begriff der direkten Demokratie dann, wenn von Volksrechten oder deren Gebrauch die Rede ist (vgl. Linder 2012: 264). Der Begriff „halbdirekte Demokratie“ bezeichnet das schweizerische politische Entscheidungssystem, „in welchem Regierung, Parlament und Volk zusammenwirken.“ (Linder 2012: 264)

2. Das halbdirektdemokratische Politiksystem der Schweiz

Dieses Kapitel soll einen kurzen Überblick über das politische Entscheidungssystem der Schweiz bieten. Das gesamte politische System detailliert darzulegen, ist an dieser Stelle nicht möglich. Für eine ausführliche Darstellung sei beispielsweise auf Linder (2012) oder Vatter (2018) verwiesen. In diesem Abschnitt werden lediglich die für die vorliegende Arbeit relevanten Aspekte des politischen Systems der Schweiz behandelt. Bei der Betrachtung der direkten Demokratie der schweizerischen Bundesebene wird schwerpunktmäßig die Volksinitiative vorgestellt, da es sich bei der zu untersuchenden MEI um eine solche handelt.

Das schweizerische Regierungssystem lässt sich nicht so einfach in die dichotomen Kategorien des parlamentarischen oder präsidentiellen Regierungssystems einordnen (vgl. Vatter 2018: 43). Vatter bezeichnet es stattdessen als „versammlungs-unabhängiges Direktorialsystem“ (2018: 50), Linder verwendet den Begriff der Konkordanzdemokratie (vgl. Linder 2012: 58). Der Bundesrat besteht aus sieben gleichberechtigten Mitgliedern und bildet die Exekutive: Sie fungiert „als kollektives Staatsoberhaupt, als Bundesregierung sowie als Spitze der sieben Departemente (Ministerien)“ (Vatter 2018: 50). Der Bundesrat wird alle vier Jahre von der Vereinigten Bundesversammlung aus National- und Ständerat gewählt (vgl. Vatter 2018: 50). Die Bundesversammlung stellt das schweizerische Parlament dar, wobei National- und Ständerat zwei gleichberechtigte Kammern sind. Der Nationalrat bildet mit 200 Volksvertretern die Volkskammer, die Kantone sind mit 46 Abgeordneten im Ständerat vertreten. (Vgl. Vatter 2018: 50f.)

Als oberste rechtsprechende Bundesbehörde bildet das schweizerische Bundes-gericht neben der Exekutive (Bundesrat) und Legislative (Bundesversammlung) die dritte klassische Staatsgewalt im Politiksystem der Schweiz. Das Bundesgericht ist insofern teilweise an der Politikgestaltung beteiligt, als dass es durch Rechtsprechung unklare Regelungen klarstellt, welche sich als Folge der konkordanzdemokratischen Strukturen ergeben können. Allerdings hat das oberste Gericht lediglich beschränkte Kompetenzen hinsichtlich der Verfassungs-gerichtsbarkeit. (Vgl. Vatter 2018: 495)

Im Politiksystem der Schweiz wird die repräsentative Demokratie durch direkt-demokratische Elemente ergänzt. Hier wird das Prinzip der direkten Demokratie so konsequent umgesetzt wie in keinem anderen Land der Welt. Im Unterschied zu parlamentarischen Demokratien trifft die eidgenössische Bevölkerung in allen Fragen bezüglich der schweizerischen Verfassung die schlussendliche Entscheidung. Auch steht dem Volk die Nachentscheidung über vom Parlament getroffene Entscheide als Instrument der direkten Mitwirkung zur Verfügung. (Vgl. Vatter 2018: 361) Das politische System, das sich daraus in der Schweiz entwickelt hat, ist „ein System der halbdirekten Demokratie […], bei dem Exekutive, Legislative und Souverän eng zusammenwirken.“ (Vatter 2018: 361) Grundsätzlich kennt die schweizerische Verfassung das obligatorische Gesetzes-referendum, das fakultative Referendum sowie die Volksinitiative auf Total- oder Teilrevision der Bundesverfassung als Instrumente der direkten Mitbestimmung der Bürger1 (vgl. Merkel/ Ritzi 2017b: 14). Mit diesen drei Mitwirkungsmöglichkeiten können die Schweizer in erheblichem Maße Einfluss auf Entscheidungen der Bundespolitik zu zahlreichen Themen in allen relevanten Politikbereichen nehmen. Die Volksinitiative ist die am häufigsten genutzte Art der direktdemokratischen Partizipation und kann von der stimmberechtigten Bevölkerung, Organisationen oder Verbänden initiiert werden. Zur Lancierung einer Volksinitiative ist die Sammlung von 100.000 Unterschriften in einem Zeitraum von 18 Monaten notwendig. (Vgl. Mayer 2017: 51ff.) Bei Einhaltung dieser Vorgaben wird die Initiative im Parlament u. a. hinsichtlich der Verfassungskonformität und der Vereinbarkeit mit internationalem Recht geprüft, wobei ein Urteil des Bundesrats berücksichtigt wird (vgl. Mayer 2017: 53, 64). Bei Rechtsmängeln kann das Parlament eine Volksinitiative für ungültig erklären. Diese Kompetenz hat die Bundes-versammlung bislang jedoch lediglich sehr zurückhaltend genutzt. (Vgl. Linder 2012: 276) Stattdessen vertrauen Regierung und Parlament darauf, dass das Stimmvolk „politisch fragwürdige oder rechtlich fehlerhafte Begehren ablehnt.“ (Linder 2012: 277) Allerdings wurde dieses Vertrauen durch die Annahme beispielsweise der Minarett- und der Ausschaffungsinitiative im Jahr 2009 bzw. 2010 beschädigt (vgl. Linder 2012: 277). Auch die Annahme der MEI 2014 dürfte diesem Vertrauensvorschuss geschadet haben.

Erfüllt die Initiative alle Kriterien, „kommt es meist zwei bis drei Jahre später zur Abstimmung über eine Vorlage und/oder gegebenenfalls über einen von der Bundesversammlung zur Abstimmung vorgelegten Gegenentwurf.“ (Mayer 2017: 53) Im Vorfeld der Abstimmung über eine Volksinitiative erhalten alle Stimmbürger eine Informationsbroschüre, in der der Bundesrat Erläuterungen zur Abstimmung zusammenfasst. Dieses Abstimmungsbüchlein umfasst den Abstimmungstext der Initiative, die Stellungnahme des Bundesrats sowie Gegenargumente der parlamentarischen Minderheit oder des Initiativkomitees. (Vgl. Linder 2012: 298) Zur Annahme einer Volksinitiative ist die doppelte Mehrheit aus Volks- und Ständemehr erforderlich, also die Zustimmung einer Mehrheit der Bürger und der Kantone (vgl. Mayer 2017: 53).

3. Die „Masseneinwanderungsinitiative“ (MEI)

Am 9. Februar 2014 wurde die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ der Schweizer Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt. Die Stimmbeteiligung lag an diesem Tag bei 56,57% (vgl. Swissvotes o. J.) und war damit so hoch wie lange nicht. Eine knappe Mehrheit von 50,3% der Stimmberechtigten akzeptierte die Initiative. (Vgl. Tschentscher/ Minder 2014: 175f.) Im Gegensatz zur knappen Annahme durch die Stimmbevölkerung war die Annahme durch 17 der 26 Kantone deutlicher (vgl. Swissvotes o. J.). Dabei traten einige – teils bekannte – Unterschiede im Wahlverhalten auf: Zum einen tat sich der sogenannte „Röstigraben“ zwischen den 18 deutschsprachigen und den vier französisch-sprachigen Kantonen der Schweiz auf (vgl. Tschentscher/ Minder 2014; Brügger et al. 2009). Letztere lehnten die Volksinitiative durchweg ab, während die deutschsprachigen Kantone die Vorlage mehrheitlich annahmen. Auch gab es erhebliche Stadt-Land-Unterschiede: Die städtische Bevölkerung stimmte dem Gesetzesvorschlag nur mit 41,5% zu, ländliche Gemeinden hingegen mit 57,6%. Die Bundesstadt Bern wies mit 72,3% die höchste Ablehnungsquote auf. (Vgl. Tschentscher/ Minder 2014: 176) Paradox erscheint, „dass die Zustimmung zur Initiative – abgesehen von wenigen Ausnahmen – umso höher ausfiel, je niedriger [Herv. i. O.] der Ausländeranteil einer Region ist.“ (Tschentscher/ Minder 2014: 176)

Fast alle politischen Parteien der Schweiz, Wirtschaftsunternehmen, Arbeit-nehmerverbände sowie die Mehrzahl der Medien hatten den stimmberechtigten Bürgern eine Ablehnung der Initiative empfohlen (vgl. Tschentscher/ Minder 2014: 177). „Eine solche Diskrepanz zwischen fast einhelliger Abstimmungsempfehlung und Stimmverhalten der Mehrheit hat es in Europaangelegenheiten zuletzt bei der EWR-Abstimmung (1992) gegeben.“ (Tschentscher/ Minder 2014: 177) Während der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 abgelehnt wurde, hatten einzelne bilaterale Integrationsmaßnahmen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) über die Jahre hinweg Zustimmung gefunden (vgl. Tschentscher/ Minder 2014: 176f.). Obwohl die Masseneinwanderungsinitiative im Gegensatz zum Personen-freizügigkeitsabkommen mit der EU steht (vgl. Tschentscher/ Minder 2014: 178) und das Abkommen eine besagte einzelne Integrationsmaßnahme darstellt, wurde die MEI angenommen. Das Votum ist somit „eine Zäsur im Abstimmungsverhalten zur Europapolitik.“ (Tschentscher/ Minder 2014: 176)

[...]


1 Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich in geschlechtsspezifischen Personen-bezeichnungen differenziert. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate weibliche Form gleichberechtigt ein.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Wie demokratisch ist die direkte Demokratie in der Schweiz?
Untertitel
Die Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung"
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Institut für Politische Wissenschaft)
Veranstaltung
Direkte Demokratie – Theorie und Praxis
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
18
Katalognummer
V912525
ISBN (eBook)
9783346232731
ISBN (Buch)
9783346232748
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Direkte Demokratie, Schweiz, Volksinitiative, Referendum, Volksabstimmung, MEI, Masseneinwanderungsinitiative
Arbeit zitieren
Anna-Louisa Lobergh (Autor:in), 2020, Wie demokratisch ist die direkte Demokratie in der Schweiz?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/912525

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