Milieuspezifische Bildungsgenese


Examensarbeit, 2007

82 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1 Fragestellung und Forschungsansatz
1.2 Aufbau der Arbeit
1.3 Feldtheorien
1.4 Die Entstehung eines Feldes

2. Was sind Milieus?
2.1 Der Milieubegriff
2.1.1 Milieuformation
2.1.2 Die innere und äußere Form eines Milieus
2.2 Raumstrukturen
2.3 Competition and Communication or the struggle for existence
2.4 Bildungsinhalte sozialer Milieus
2.5 Zwischenfazit

3. Humanökologische Sichtweise sozialer Milieus
3.1 Die Verhaltensformel
3.2 Determinanten milieuspezifischen Verhaltens I
3.3 Der Lebensraum
3.4 Determinanten milieuspezifischen Verhaltens II
3.5 Zwischenfazit

4. Milieuspezifische Bildungsgenese
4.1. Handlungsanforderungen der unterschiedlichen Milieus
4.2 Milieuspezifische Tätigkeiten
4.3 Bildungsgenese mittels Kapitalakkumulation
4.3.1 Kulturelles Kapital
4.3.2 Soziales Kapital
4.4 Milieuspezifisches Bildungspotential

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Fragestellung und Forschungsansatz

The Special Rapporteur [on the right to education, UN; d.V.] notes that the successful reform of the German education system as a whole presupposes both reforms of content and structure. Seven pri- orities should be highlighted [...] (5) structures should give anyone a chance to develop his and her own potential, through strengthened kindergarten opportunities, introduction of full-day schools, and abandoning the multi-track school system. Regarding the latter, it should be noted that [...] the discussion of the multi-track system, which appears extremely selective to the Special Rapporteur, seems to trigger great anxiety and resistance, especially anxiety over the loss of privilege for those who benefit most from the current system (Munoz 2007, S. 13f.).

Vom 13. bis 21. Februar 2006 besuchte der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vernor Munoz, die Bundesrepublik Deutschland. In seiner in diesem Zusammenhang am 9. März 2007 vor der Generalver- sammlung der UN veröffentlichten Resolution stellt er fest, dass das dreig- liedrige Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland als ungerecht an- gesehen werden müsse. Kinder sozial schwacher Familien, Kinder, deren Muttersprache nicht deutsch ist, und lernbehinderte Kinder werden nicht adäquat gefördert. Munoz verweist auf die Erfahrungen anderer Länder, die konsequenter vorschulische Bildung vermitteln, vermehrt auf Ganz- tagsschulen und/oder Gesamtschulen setzen und somit die persönlichen Stärken der Kinder gezielter fördern können.

Letztendlich beanstandet Munoz an einigen Stellen seiner Resolution, dass es scheinbar von privilegierten Milieus erwünscht wird, eben benannte Ungleichheiten bestehen zu lassen.

Abermals steht also die hohe Selektivität des deutschen Schulsystems in der Kritik. Bereits durch die Ergebnisse des erstmals im Jahr 2000 im dreijährigen Turnus stattfindenden Programms zur Schülerbeurteilung der OECD, Program for International Student Assessment (PISA), wurde die- se Kritik deutlich. Anders als in den 60er Jahren, als die am stärksten be- nachteiligte idealtypische Figur der katholischen Arbeitertochter vom Lan- de zur Disposition stand, geht es in der heutigen Debatte um Kinder bil- dungsferner Schichten - um Kinder, deren Eltern einen relativ niedrigen Bildungsstand aufweisen, und um Kinder mit Migrationshintergrund (vgl. Georg, Werner 2006).

Es ist zudem erneut die Frage aufgekommen, wie Bildungsinhalte eigent- lich vermittelt werden. Für die Autorin ist interessant, was eigentlich unter Bildung verstanden wird und wie Bildungsinhalte entstehen. Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst der allgemein vorherrschende funktionale Bildungsbegriff erläutert werden. Dieser bezeichnet allgemein einen funktionalen Prozess, an dessen Ende Bildungsabschlüsse erreicht werden. Beispielsweise sind Jugendliche mit dem Abschluss des Gymna- siums befähigt, zu studieren. Bildung ist also nach dieser Definition ein persönliches Gut. Dieser funktionale Bildungsbegriff versteht Bildung als Kapital, dass auf dem Arbeitsmarkt eingelöst werden kann. Somit wird über Bildungsprozesse eine gesellschaftliche Stellung erreicht.

Im Gegensatz hierzu wird in dieser Arbeit Bildung als ein sozial-räumlicher Prozess verstanden. Bildung findet im gesamten Lebensraum eines Indi- viduums statt und ist demnach ein erfahrungsweltlicher Entwicklungsgang. Ein erfahrungsweltlicher Bildungsbegriff versteht Bildung nicht allein als persönliches Gut, sondern vielmehr als Produkt einer milieuspezifischen Erfahrungswelt. Diese Sichtweise fasst Bildung als einen (Lern-) Prozess der Wissensvermittlung auf, der sich im gesamtgesellschaftlichen Umfeld des Kindes vollzieht; somit wird unter Bildung ein „allgemeiner Bildungs- prozess [verstanden], der neben instrumentellen und leistungsorientierten Bildungsorientierungen erfahrungsbezogene Bildungsbedürfnisse bein- haltet“ (Grundmann/ Groh-Samberg/ Bittlingmayer 2003, S. 26). Der erfah- rungsweltliche Bildungsbegriff beinhaltet zwar ebenfalls die über das Bil- dungssystem erlangten Bildungsabschlüsse; allerdings wird hier Bildung nicht als reine Schulbildung verstanden, sondern vielmehr als ein Prozess, der in den Lebensräumen der Milieuteilnehmer stattfindet.

Im Blickpunkt stehen hier die sozialen Räume,1 in denen Bildungsinhalte vermittelt werden, wie zum Beispiel Familien.

Ob Eltern ihre Kinder eher zum kreativen Spielen anhalten oder verlan- gen, dass ihre Kinder lernen, sich selbst zu beschäftigen, hängt eng mit den Bildungsinhalten zusammen, die in spezifischen Milieus vermittelt werden sollen.

Somit wird deutlich, dass Bildung eben nicht nur in Bildungsinstitutionen stattfindet, sondern ebenso im alltäglichen Miteinander. In diesem Zu- sammenhang ist es für die folgende Arbeit interessant, welche Erwartun- gen unterschiedliche Milieus an Bildung haben, d.h., was in den unter- schiedlichen Milieus unter Bildung verstanden wird und was Bildung ge- nau bedeutet. Um den Prozess einer milieuspezifischen Bildungsgenese zu analysieren, müssen die sozialen Räume der Milieuteilnehmer und die in diesen Räumen vorherrschenden Tätigkeiten untersucht werden. Ein erfahrungsweltlicher Bildungsprozess beinhaltet die Tatsache, dass der Prozess der Bildung in unterschiedlichen Milieus aufgrund unterschiedli- cher Milieufaktoren divergiert.

Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit lautet demnach:

Wie formatieren sich in bestimmten Räumen soziale Milieus und wie entstehen milieuspezifische Bildungsinhalte? Eng verknüpft hiermit ist die Frage, wie bestehende Ungleichheitsstrukturen durch Sozialisationsprozesse reproduziert werden.

In der Tradition einer sozialstrukturell orientierten Milieuforschung werden eben diese Handlungsfelder und die damit zusammenhängenden milieuspezifischen Handlungsbefähigungen dargestellt.

Um milieuspezifische Bildungsprozesse untersuchen zu können, müssen soziale Strukturierungsprozesse aufgedeckt werden. Hierzu wird in dieser Arbeit untersucht, wie sich in sozialen Räumen soziale Verhältnisse formatieren. Diese sozialen Verhältnisse, in denen Kinder aufwachsen und über die Bildungsinhalte transformiert werden, lassen Rückschlüsse auf die spezifischen Fähigkeiten der Milieuteilnehmer zu.

Um herauszustellen, in wie fern Individuen über ihr direktes Umfeld geprägt werden und somit Bildungsprozesse sozial-räumlich determiniert werden, wird der Schwerpunkt auf die Theorien der sozialstrukturellen Sozialisationsforschung gelegt.

Vertreter dieser Richtung verbinden die individuellen Entwicklungsprozesse der Milieuteilnehmer und die sozialen Verhältnisse, in denen sie sozialisiert werden. Somit werden individuelle Entwicklungsprozesse mit den sozial-räumlichen Umweltbedingungen verknüpft, da soziale Strukturen nicht losgelöst von einer individuellen Persönlichkeitsentwicklung und damit einhergehend einer Entwicklung individueller Bildungsprozesse gesehen werden können. Gleichwohl kann nicht außer Acht gelassen werden, dass soziale Strukturen einem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess unterliegen und somit neben Sozialisationsprozessen und Entwicklungsprozessen auch Selektionsprozesse offen legen:

Sozialstrukturanalyse ist eine Form der Gesellschaftsanalyse, bei der der vertikale Aspekt der Sozialstruktur und damit Fragen sozialer Ungleichheit eine große Rolle spielen (Schäfers 2002, S. 5).

Infolgedessen wird in dieser Arbeit eine sozial-räumliche Analyse von Bildungsprozessen thematisiert, die auch auf die vorherrschenden bildungspolitischen Selektionsmechanismen des deutschen Bildungssystems eingeht; sozialstrukturelle Selektionsprozesse werden hier besonders deutlich. Der Autor wird also unweigerlich auf die Sozialisationsaspekte eingehen müssen, die in der Schule vorherrschen.

Die Schule bildet einen wichtigen Erfahrungsraum im Lebensraum eines Individuums. Und gerade am Beispiel des Schulsystems und der Frage, welche Milieuteilnehmer welche Schulform besuchen, offenbart sich die Differenz zwischen den erfahrungsweltlichen Bildungsinhalten und den in- stitutionellen Bildungsinhalten. Somit wird verständlich, weshalb in der Familie Tätigkeiten und Fähigkeiten erwünscht sind, die an der Schule weniger gefragt sind:

In Familien und Gleichaltrigengruppen herrschen […] erfahrungsbezogene Bildungsinhalte und Strategien vor, die mit den in der Schule dominieren- den Leistungs- und Qualifikationsanforderungen auf sehr unterschiedliche Weise zusammentreffen (Grundmann/ Groh-Samberg/ Bittlingmayer 2003, S. 25).

So lernt jedes Kind in seiner Gleichaltrigengruppe sowie im Elternhaus Strukturen und normative Verbindlichkeiten kennen, die es auf das Leben vorbereiten sollen. Die Leistungsanforderungen und Bildungsstrategien der Institution Schule unterscheiden sich je nach Bildungsintensität der Milieus von diesen erfahrungsbezogenen Bildungsstrategien der Familien. Da sich spezifische Bildungsaspirationen innerhalb von Familien vererben lassen, wird auch der Zugang zu Bildungsinstitutionen milieuspezifisch determiniert. Wie u.a. in den PISA-Studien deutlich wurde, hat der Bil- dungsgrad der Eltern hier essentiellen Einfluss auf die Bildungschancen der Kinder:

Der Bildungsgrad der Eltern hat immer noch wesentlichen Einfluss auf den Schulabschluss der Jugendlichen. […] Bildung wird demnach in Deutschland weiterhin sozial vererbt. Im Rahmen der Analysen von PISA 2003 hat sich gezeigt, dass die Schichtzugehörigkeit sogar einen stärkeren Einfluss auf die besuchte Schulform hat als die tatsächlich erbrachten Schulleistungen der Jugendlichen (Shell Jugendstudie 2006, S. 66).

Der Bildungsgrad der Eltern wirkt sich in vielfältiger Weise auf die Ent- wicklung ihres Kindes aus. Beispielsweise werden Eltern mit einem hohen Bildungsabschluss ihre Kinder eher anhalten, ein Musikinstrument zu er- lernen. Der Anspruch an das, was Bildung leisten soll und was das eigene Kind lernen soll, hängt eng mit den eigenen Erfahrungen, den Bildungsin- halten der Milieuteilnehmer und mit dem Bildungsabschluss der Eltern zu- sammen.

Infolgedessen werden in sozialen Milieus Bildungsaspirationen über So- zialisationsprozesse vererbt, was wiederum vorherrschende Selektions- prozesse untermauert. Die Entwicklung einer milieuspezifischen Bildungs- genese wird in der vorliegenden Arbeit verbunden mit einer Analyse der Ungleichheitsstrukturen des deutschen Bildungssystems. Die Autorin ver- tritt die These, dass die „Verbindungen zwischen Lebensbereichen die Entwicklung ebenso entscheidend beeinflussen können wie Ereignisse in einem bestimmten Lebensbereich. Die Fähigkeit eines Kindes, das Lesen zu erlernen, kann von Existenz und Art der Beziehung zwischen Schule und Elternhaus ebenso abhängig sein wie von der Lernmethode“ (Bron- fenbrenner 1981, S. 19).

1.2 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in folgende Untersuchungsschritte: In Kapitel 1.3 und 1.4 werden die einen milieuspezifischen Lebensraum bestimmenden Lebensbereiche oder Felder erstmals angeführt. Somit lassen sich die so- zio-ökologischen Bereiche, in denen Milieubildung stattfindet, genauer be- zeichnen. Es wird auf die Verknüpfung des physikalischen mit dem sozi- alwissenschaftlichen Feldbegriff verwiesen. So lassen sich die Wechsel- wirkungen der Milieuteilnehmer untereinander beschreiben.

Im 2. Kapitel wird der Frage nachgegangen, was wir unter dem Terminus Milieu verstehen. Hierzu werden Milieufaktoren vorgestellt und die Begriffe Milieu, Klasse und Schicht voneinander abgegrenzt. Es werden die SINUS-Milieus vorgestellt, um einen Einblick in divergente Milieutypen und die Lebensziele und Lebensstile dieser Milieuteilnehmer zu liefern, die bereits auf die Bildungsinhalte der Milieus verweisen. Die Autorin rekurriert auf die SINUS-Milieutypen, da diese am bekanntesten sind und einen guten Überblick über differente Milieus liefern.2

Durkheims Milieubegriff verweist hier darauf, wie sich einzelne Milieus voneinander abgrenzen lassen. Es wird deutlich, wie sich Individuen in ihrem Lebensraum verorten und welche Bildungsinhalte in milieuspezifischen Lebensräumen auftreten.

Im 3. Kapitel geht es um die Bewegungen innerhalb eines milieuspezifi- schen Lebensraumes. Zur Analyse milieuspezifischer Handlungsmuster wird auf die eingangs erwähnte Feldtheorie Lewins eingegangen. Es wird aufgezeigt, auf welche (sozialen) Barrieren Individuen in ihrer Entwicklung treffen können. Barrieren begrenzen milieuspezifische Bildungsaspiratio- nen.

Im 4. Kapitel werden die ein Milieu definierenden Tätigkeiten mittels eines Tätigkeitskonzepts erläutert. Es wird der Frage nachgegangen, was das Wesen der Tätigkeit ist und inwiefern spezifische Tätigkeiten bewusst- seinsbildende Prozesse in sich bergen und somit Bildungsprozesse ent- stehen lassen. Die unterschiedlichen Tätigkeiten verweisen auf die diver- genten Handlungsspielräume, die aufgrund unterschiedlicher Kapitalaus- stattung in spezifischen Milieus vorherrschen. Die Akkommodation des kulturellen und sozialen Kapitals sowie die Tätigkeitsvermittlung nach Leontjew lassen spezifische Handlungsbefähigungen der Milieus erken- nen. Diese Befähigungen wiederum lassen milieuspezifisches Bildungs- potential fassbar werden.

Handlungsbefähigung besagt, in welcher Weise Akteure Strategien entwickeln, zwischen ihren Möglichkeiten und den kulturellen Ansprüchen der Gesellschaft zu vermitteln (vgl. Grundmann/ Dravenau/ Bittlingmayer 2006). Es wird auf die Studien des Forschungsprojekts Milieuspezifische Handlungsbefähigung eingegangen, um die individuellen Fähigkeiten der Milieuteilnehmer zu verdeutlichen. Somit können Rückschlüsse auf eine milieuspezifische Bildungsgenese gezogen werden.

Kapitel 5 fasst den Gang der Untersuchung zusammen und stellt die wesentlichen Resultate vor.

1.3 Feldtheorien

Zur genaueren Untersuchung eines milieuspezifischen Lebensraumes gehört die Betrachtung der diesen Raum bildenden Felder wie z.B. Jugendclubs und Sportvereine, in denen sich Individuen aufhalten können und in denen spezifische Bildungsinhalte vermittelt werden.

Hierzu gibt die Feldtheorie Kurt Lewins einen Operationsansatz. Kurt Le- win gilt als einer der wichtigsten Repräsentanten der Gestaltpsychologie.3 Mit dem Begriff Feld werden hier Lebensbereiche bezeichnet, die den Le- bensraum eines Individuums definieren. So werden bestimmte Lebensbe- reiche - gerade solche, die gesellschaftlich angesehen sind, wie be- stimmte Arten der Gemeinschaftspflege mittels Kulturvereinen - von bil- dungsnahen Milieuteilnehmern eher erreicht als von bildungsfernen. Eine wichtige Erkenntnis der Feldtheorie ist, dass die Beziehungen der Indivi- duen zu ihrer Umwelt und somit auch zu anderen Milieuteilnehmern be- deutenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung haben.

So wird „ein Objekt nie als solches wahrgenommen […], sondern immer im totalen Zusammenhang mit seinem Umfeld, in dem es steht. Die Beziehungen zwischen den Komponenten eines Wahrnehmungsfeldes machen die Wahrnehmung aus, und nicht die Charakteristika des einzelnen Objekts“ (Correll 1976, S. 86).

In der Feldtheorie wird somit ein Zusammenhang zwischen individueller Entwicklung und sozialer Interaktion deutlich.

Lewin geht davon aus, „dass sich Persönlichkeit nur aus der wechselseiti- gen Beeinflussung von Personen in sozialen Handlungsbezügen erklären [lässt]. Dabei konzentriert er sich nicht […] auf die objektive, räumliche Struktur der Umwelt, sondern auf die spezifische Wahrnehmung der Umwelt durch die beteiligten Akteure, die letztlich dafür verantwortlich ist, welche Bedeutung diese ihrem Handeln in sozialen Situationen beimessen“ (Grundmann 2007, S. 3).

Zur detaillierten Bestimmung eines Lebensraumes werden in Kapitel 3 die Determinanten der Feldtheorie ausführlicher vorgestellt, mit denen sich die Bewegungen innerhalb sozialer Räume erklären lassen. Dann wird auch deutlich werden, dass bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eben nur von bestimmten Milieuteilnehmern erreicht werden können.

1.4 Die Entstehung eines Feldes

Feldtheorien gibt es in der Physik, in der Psychologie, Soziologie und Pädagogik. So beschreibt Newton beispielsweise in seinen Gravitationsgesetzen die Erdanziehungskraft: Zwei physikalische Körper ziehen sich an, die Anziehungskraft nimmt hierbei mit dem Quadrat der Entfernung ab. Beide Körper befinden sich in ihrem Feld; Felder werden über ihre Kraft definiert und wirken gegenseitig aufeinander ein:

Stellt man sich einen […] Körper als im Raum schwebend vor (vergleichbar der Sonne im Weltall), dann übt dieser Körper in alle Richtungen die glei- che Anziehungskraft aus. Ein zweiter Körper […], der in den Bereich dieses ersten Körpers gebracht wird, wird also in gerader Linie in Richtung auf den Körper angezogen. Diese Linien sind die Kraftlinien des Schwerefeldes. Sie sind darstellbar als Pfeile (Vektoren), die aus allen Richtungen kommend auf den Körper (Sonne) weisen. Natürlich sind es gedachte Linien, die aber anzeigen, wie sich ein Körper verhalten würde, der in dieses Schwerefeld kommt. Mit zunehmender Entfernung werden sie weniger dicht. Das Feld wird also durch Richtung und Dichte der Kraftlinien bestimmt (Lück 1996, S. 7).

Erst wenn ein Körper in das Kraftfeld eines anderen Körpers gelangt, wird die Funktion des Feldes deutlich. Analog zu physikalischen Feldern und den in diesen Feldern herrschenden Zwangsbedingungen ist der Mensch ebenfalls in bestimmten (Lebens) Bereichen Kräften ausgesetzt und von spezifische Bereiche dominierenden Tätigkeiten, Normen und Handlungsabläufen beeinflusst. Somit sind soziale „Kräftefelder […] insofern elektromagnetischen Kräftefeldern vergleichbar, allerdings nicht im Sinne eines einheitlichen Bauplans, der alle seine Teile determiniert, sondern einer von den Akteuren gestalteten Spannung und Dialektik von Beziehungen“ (Vester/ von Oertzen/ Geiling 2001, S. 23).

Zur Präzisierung einer Milieudefinition ist der Begriff des Feldes daher sehr nützlich; er definiert die psychosozialen Kräfte, die auf Individuen einwirken:

Bevor sie in sichtbare Handlungen eintreten, sind die Personen und sozia- len Gruppen schon durch unsichtbare Beziehungen, Einschätzungen und Kräfteverhältnisse aufeinander ausgerichtet (Vester/ von Oertzen/ Geiling 2001, S. 23).

Gleichzeitig wird ein Zusammenhang zwischen individueller Entwicklung und zwischenmenschlichen Beziehungen deutlich, da Felder einen sozia- len Raum strukturieren, „an dem Menschen leicht direkte Interaktion mit anderen aufnehmen können. Tätigkeit (oder Aktivität), Rolle und zwi- schenmenschliche Beziehung“ (Bronfenbrenner 1981, S. 38) sind hierbei die tragenden Elemente.

Mit Hilfe der Feldtheorie können die in einem Lebensraum wirkenden Kräfte auf alltägliche Verhaltensstrukturen bezogen werden. Als Entwick- lungspsychologe sieht Lewin die Aufgabe der Psychologie darin, „dieses psychologische Feld als die Bedingungsgrundlage des Verhaltens eines Individuums für jeden Zeitpunkt seiner Entwicklung zu ‚rekonstruieren‛ “ (Lang 1979, S. 51). Im Fokus steht der Lebensraum, in dem sich Menschen aufhalten. In diesem Lebensraum finden nun Bildungsprozesse statt.

Je nachdem, in welchem Milieu Individuen sozialisiert werden, werden unterschiedliche Bildungsinhalte vermittelt. Im Prozess einer spezifischen Bildungsgenese wird somit deutlich, inwiefern Milieus Bildungserwartun- gen stützen (können) oder nicht. Wie entstehen nun Milieus und worin unterscheiden sie sich? Dieser Frage wird im folgenden Kapitel nachge- gangen.

2. Was sind Milieus?

2.1 Der Milieubegriff

Das folgende Kapitel befasst sich mit dem Milieubegriff und sozialstruktureller Milieuforschung. Als Milieu wird im Allgemeinen die Einheit der geographischen, kulturellen und sozialen Lebensumstände, die ein Individuum bzw. eine Gruppe von Individuen prägen, bezeichnet. Milieu bezeichnet „gemeinhin die besondere soziale Umwelt, in deren Mitte (`au milieu`) Menschen leben, wohnen und tätig sind und die ihrem Habitus4 entspricht“ (Vester/ von Oertzen/ Geiling 2001, S. 168).

Zu unterscheiden sind soziale, kulturelle, materielle und natürliche Milieu- faktoren. Natürliche Milieufaktoren sind Umweltbedingungen und Land- schaftseigenschaften, die ganz bestimmte Verhaltensweisen hervorrufen bzw. stützen. So erscheint es für einen Bewohner einer ländlichen Ge- gend nahe liegender, sich im Wandern zu üben und die Freiheit der Be- wegung zu spüren als für einen Stadtbewohner. Materielle Milieufaktoren sind die in einem Wohngebiet überwiegenden Infrastrukturen und die öko- nomischen Ressourcen der Milieus. Museen, Theater und Ausstellungs- räume, deren Zugang und Erreichbarkeit werden unter kulturellen Milieu- faktoren begriffen. Soziale Milieufaktoren erscheinen schwerer greifbar, sie umfassen das soziale Klima; menschlichen Zusammenhalt und Inter- esse für die Belange der Mitmenschen, das über soziale Institutionen, Le- sewerkstätten, Volkshochschulen u.a. manifestiert wird.

Die unterschiedlichen Milieufaktoren beeinflussen das Denken, Handeln und die Wahrnehmung der Milieumitglieder, insbesondere ihre Möglichkeiten, sich zu entfalten, sich zu bilden. Mitglieder eines bestimmten Milieus haben demnach ähnliche Lebensziele und Lebensstile (vgl. Hradil 1992). Die Lebensstil- und Ungleichheitsforschung hat zu Beginn der 80er Jahre den Milieubegriff wieder entdeckt. In den 60er und 70er Jahren dominierten die Forschungsfelder Klasse und Schicht die soziologischen Interessen; zudem war der Einfluss der Industrie- und Arbeitswelt für die sozialstrukturelle Sozialisationsforschung interessanter.

Bis zum Beginn der 80er Jahre wurde sozio-kulturellen Erscheinungen in der deutschen Soziologie nur begrenzter Eigenwert zugemessen. Ausnahmen bildeten nur bestimmte abweichende und randständige Subkulturen (z.B. jugendliche Banden, die Drogenszene, Kriminelle):

Der Grund für diese Geringschätzung lag vor allem darin, dass man es bis in die 70er Jahre hinein für ausgemacht hielt, dass in modernen Industriegesellschaften alle anderen Lebensweisen hinter den industriell geprägten zurücktreten würden (Hradil 1992, S. 15).

Die ausgewiesene Dominanz der industriellen Kultur ist aber nicht allein ausschlaggebend für spezifische Lebensentwürfe und deren Entstehung. Vielmehr sind der Einfluss, den Milieufaktoren auf Milieumitglieder aus- üben, und in diesem Zusammenhang auch die Bildungsaspirationen, die in spezifischen Milieus vorherrschen, von existentieller Bedeutung für die Lebenswege der Milieuteilnehmer. Welcher Bildungsanspruch in welchem Milieu vorherrscht, hängt im Wesentlichen von den spezifischen Erfahrun- gen der Mitglieder mit eben dem unter Bildung verstandenen und trans- formierten Wissen, basierend auf Erfahrung, zusammen. Somit entstehen unterschiedliche Milieus, die sich wieder über ihre Lebensräume und Lebensmöglichkeiten reproduzieren. Was für Milieus können nun unterschieden werden? In diesem Zusam- menhang müssen zunächst die Begriffe Klasse, Schicht und Milieu erläu- tert werden.

Der Begriff Klasse verhält sich zu dem Terminus Milieu wie Form zu Inhalt: Milieus werden u.a. auch durch ihre Klassenlage bestimmt und separiert, bilden aber dezidiertere Lebensräume als dies Klassen tun. Mit dem Klas- senbegriff sind im Allgemeinen Bevölkerungsgruppierungen gemeint, die eine gleiche sozialstrukturelle Position in der Gesellschaft und wirtschaft- lich eine ähnliche Stellung einnehmen, also analoge Eigentumsverhältnis- se aufweisen. Beispiel hierfür ist die Klasse der Beamten. Der Klassenbe- griff, in seiner politischen und soziologischen Bedeutung, ist auf Karl Marx und Friedrich Engels zurückzuführen, die im Jahrhundert der Industrialisie- rung zwischen Bourgeoisie (Kapitalistenklasse) und Proletariat (Arbeiter- klasse) unterscheiden. Der Begriff soziale Schicht verweist in Anlehnung an den Klassenbegriff auf die Wertigkeit, die unterschiedliche Klassen durch ihre Lage in der Gesellschaft und somit durch ihre Möglichkeit, Ein- fluss auf gesellschaftliche Prozesse ausüben zu können, haben; Stratifi- kation ermöglicht eine hierarchische Untergliederung der Gesellschaft. Diese Untergliederung erfolgt über Einkommensverhältnisse, Berufstypen und Bildungsaspirationen. Dem Milieubegriff wird eine für die Sozialisati- onsforschung interessante Vermittlerinstanz zwischen den eben ange- führten Begriffen zuteil:

Das `soziale Milieu` ist seit dem Ausgang der siebziger Jahre wieder in die soziologische und die öffentliche Sprache zurückgekehrt. Es hat dort den Platz eingenommen, den zuvor die Konzepte der sozialen Schicht oder Klasse innehatten. […] Bereits in unserem Alltagsverständnis verstehen wir Milieu als einen Zusammenhang, der verschiedene soziale Instanzen oder Ebenen miteinander verbindet (Vester/ von Oertzen/ Geiling 2001, S. 167 f.).

Somit kann ein Zusammenhang zwischen Gruppierungen der Gesellschaft mittels ihrer Einkommensverhältnisse, ihres Berufszweiges (Klassen) und einer hierarchischen Untergliederung der Gesellschaft (Schicht) im Kontext einer Ungleichheitsforschung hergestellt werden.

Zurück zur Fragestellung: Welche Milieutypen gibt es? Hierzu werden je nach Forschungsinteresse unterschiedliche Milieustufungen angeführt. Im Zuge des in den 80er Jahre einsetzenden, steigenden Interesses an einer Milieu- und Lebensstilforschung5 werden unterschiedliche Typologisierun- gen vorgenommen (vgl. Hradil 1992). Am bekanntesten sind die Studien des Sinus-Institutes, die die so genannten SINUS-Milieus hervorbrachten. Die Studien wurden von Vertretern der Konsumsoziologie entwickelt, um Kaufentscheidungen der Konsumenten bestimmen zu können (vgl. Hradil 1992, http://www.sinus-sociovision.de). In qualitativen Leitfadeninterviews wurden Zusammenhänge zwischen sozialstrukturellen Merkmalen, spezi- fischen Normen, Grundeinstellungen, Lebenszielen und sozialer Lage der Gesellschaftsmitglieder hergestellt; diese Befunde wurden quantifiziert und mittels Cluster-Analyse acht Milieus definiert. Hierbei waren insbe- sondere die Werthaltungen der Befragten typenbildend (vgl. Hradil 1992), weshalb hier bereits die unterschiedlichen Bildungsinhalte der Milieuteil- nehmer deutlich werden. Die Milieutypologie des Sinus-Institutes wird in Tabelle 1 dargestellt.

Tabelle 1

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Darstellung nach Hradil 1992.

In dieser Arbeit werden primär bildungsferne Milieus und bildungsnahe Milieus unterschieden, d.h., als Maßstab gilt, in welcher Intensität Bildungsprozesse stattfinden, welche Bildungsinhalte überwiegen und welche Bildungsabschlüsse in den Milieus am häufigsten erzielt werden. Die in Tabelle 1 aufgeführten milieutypischen Lebensziele und Lebensstile beinhalten bereits milieuspezifische Bildungsinhalte.6

2.1.1 Milieuformation

Um gesellschaftliche Entwicklungsprozesse zu untersuchen, müssen Milieus auf ihre (beziehungsstiftenden) Kräfte untersucht werden:

Die Elemente, aus denen sich dieses (das innere soziale; d.V.) Milieu zu- sammensetzt, gehören zwei Gattungen an: es sind Personen und Dinge. Unter den Dingen sind außer den der Gesellschaft einverleibten materiellen Objekte die Produkte früherer sozialer Tätigkeit zu verstehen, das gesatzte Recht, die geltende Moral […] Doch ist es klar, dass der Anstoß, der die sozialen Umbildungen auslöst, weder von der einen noch der von der an- deren Seite ausgehen kann; denn sie bergen beide keine bewegende Kraft in sich […] Als aktiver Faktor bleibt also nur das eigentlich menschliche Mi- lieu übrig (Durkheim 1961, S. 195).

Der Begriff Milieu ist bereits den Verfechtern der französischen Aufklärung bekannt, im sozialwissenschaftlichen Diskurs räumte Durkheim ihm eine zentrale Position ein (vgl. Hradil 1992). Demnach lassen sich individuelle Entwicklungsprozesse nicht losgelöst von dem Ort ihrer Entstehung und Umsetzung untersuchen. Eben durch milieuspezifische Handlungsweisen der Individuen ist es möglich, gesellschaftliche Prozesse aufzudecken.

Durkheims Soziologie ist weitgehend geprägt durch den in französischer Tradition stehenden rationalistischen Positivismus und organizistischen Strukturalismus; Gesellschaft wird als eine Wirklichkeit sui generis begriffen, zu unterscheiden vom rein individuellen Handeln der Akteure. Sie ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder:

Ein Ganzes ist nicht mit der Summe seiner Teile identisch, obgleich es ohne die Teile nicht wäre. Genauso gilt, wenn Menschen sich unter einer bestimmten Form und unter dauerhaften Bindungen zusammenfügen, so bilden sie ein neues Sein, das seine eigene Natur und seine eigenen Gesetzte hat (Durkheim 1981, S. 33).

[...]


1 Mit dem Terminus sozialer Raum wird in der Soziologie ein durch soziale Beziehungen und Korrelationen entstehendes System (Familie, Freundschaft, Arbeitskollegen) be- zeichnet.

2 Dennoch sind die SINUS-Milieus mit einem gewissen Vorbehalt für diese Arbeit zu betrachten, da ihre Typologisierung aus Studien der Konsum- und Marketingforschung stammen. Nichtsdestoweniger liefern sie eine brauchbare Übersicht über eine Vielzahl von Lebenszielen und Lebensstilen der Milieuteilnehmer und verdeutlichen somit bereits milieutypische Bildungsaspirationen.

3 Die Anhänger der Gestaltpsychologie beschäftigen sich mit der Art und Weise, wie Menschen Dinge wahrnehmen. Sie untersuchen die kognitiven Mechanismen, die es Menschen ermöglichen, Dinge festzustellen und einzuordnen. Weitere wichtige Vertreter der Gestaltpsychologie sind Wertheimer, Köhler und Koffka.

4 Unter Habitus sind auf Erfahrungen beruhende Handlungsoptionen zu verstehen, die Individuen sich während ihrer Sozialisation aneignen; hiermit sind milieuspezifische Dis- positionen gemeint, die als „kreative Organisationsprinzipien nicht vollständig determi- nierbarer Handlungspotenziale dienen“ (Bittlingmayer/ Eickelpasch/ Kastner 2002, S. 30).

5 In Anlehnung an Georg Simmel und Max Weber verweist der Begriff Lebensstil auf eine funk- tionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, die dem Einzelnen eine „aktive Stilisierung des eigenen Lebens“ (Hradil 1992, S. 29) zuerkennt und somit Handlungsspielräume eröffnet, die milieuübergreifend sind.

6 Näheres zu den Bildungsinhalten einzelner Milieus siehe Kapitel 2.4.

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Milieuspezifische Bildungsgenese
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Soziologie)
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
82
Katalognummer
V90806
ISBN (eBook)
9783638033473
ISBN (Buch)
9783656449102
Dateigröße
1032 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Milieuspezifische, Bildungsgenese
Arbeit zitieren
Manuela Gerlach (Autor:in), 2007, Milieuspezifische Bildungsgenese, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90806

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