John Lockes Identitätsbegriff und dessen Rezeption bei Leibniz, Hume und Singer


Bachelorarbeit, 2015

37 Seiten, Note: 1,8

Marco Hoffmann (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. John Lockes Identitätsbegriff
2.1 Lockes allgemeine Theorie der Identität
2.2 Personale Identität bei Locke
2.3 Die Hintergründe zur Lockeschen Identitätstheorie
2.4 Die Kernthesen in Lockes Identitätskonzept und deren Einordnung

3. Gottfried W. Leibniz
3.1 Leibniz und Locke
3.2 Leibniz und die Grundlagen seines Identitätsbegriffs
3.3 Leibniz und Locke über personale Identität

4. David Hume
4.1 Hume und seine Auffassung von Identität
4.2 Personale Identität bei Hume
4.3 Einordnung der Identitätstheorie Humes und über Bezüge zu Locke

5. Peter Singer
5.1 Zur Auswahl Peter Singers
5.2 Singers Grundposition und der Einfluss Lockes
5.3 Die Konsequenzen des Lockeschen Personenbegriffs bei Singer

6. Lockes Identitätskonzept vor seinem Rezeptionshintergrund

7. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Die Identität ist die Geschichte, die jeder von sich selbst erzählt“1. In dieser Form unternimmt der Soziologe Jean-Claude Kaufmann eine Näherbestimmung des Begriffs Identität. Nun verwenden wir den Identitätsbegriff aber durchaus in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen und bezeichnen damit eigentlich grundlegend verschiedene Dinge. Darunter befinden sich zum einen die von Kaufmanns Definition erfassten Menschen, aber eben auch Tiere und sogar unbelebte Objekte. Insofern verstehen wir Identität vielmehr als die Geschichte, die einem jedem Ding auch unausgesprochen innewohnt und doch genau das zu erzählen hat, worin dessen Einzigartigkeit besteht.

Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, dem so vielfältig übertragbaren und – wohl dadurch bedingt – gleichzeitig in seiner Bestimmung auch so unklaren Phänomen der Identität von philosophischer Seite zu begegnen. Um zu untersuchen, welche Erkenntnisse die Philosophie in dieser Frage beisteuern kann, sollen zunächst die Ausführungen John Lockes dienen. Dieser hat nicht nur eine grundlegende Definition des Identitätsbegriffs geliefert. Sein Konzept zum Thema Identität war zudem äußerst einflussreich und weist eine lange Rezeptionsgeschichte auf.

Aus einer Reihe von Philosophen, bei denen Lockes Ansätze auf fruchtbaren Boden fielen, wird hier die Auseinandersetzung von Wilhelm W. Leibniz, David Hume und Peter Singer mit der Lockeschen Basistheorie im Vordergrund stehen. Durch ihre je individuelle Perspektive sollen sie einen Teil dazu beitragen, den Blick auf Lockes Ausführungen zum Identitätsbegriff weiter zu schärfen. Gleichzeitig präsentieren sich ihre Konzepte, obwohl sie inhaltliche Bezugspunkte zu Locke aufweisen, auch durchaus als selbstständige Theorien und sollen so auch dargestellt werden. Anhand ausgewählter Philosophen wird nun also untersucht, welche Facetten der Lockeschen Theorie sich standhaft gegen Kritiker behaupten konnten, durch welche Argumente sie möglicherweise eingeschränkt oder erweitert werden sollte und welche möglichen Folgen die Akzeptanz der von Locke geprägten Begriffsdefinitionen ganz konkret haben kann.

Daneben soll aber v.a. untersucht werden, welche Früchte der Lockesche Input bei anderen Philosophen getragen hat und in welchem Lichte dieser wiederum Lockes Theorie rückwirkend erscheinen lässt.

Insofern möchte diese Arbeit nachweisen, dass John Locke bei der philosophischen Erschließung des Identitätsbegriffs essentielle Kategorien geliefert hat und deren Bedeutung klar benennen.

2. John Lockes Identitätsbegriff

2.1 Lockes allgemeine Theorie der Identität

„Wir betrachten ein Ding als zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort existierend und vergleichen es dann mit sich selbst, wie es zu anderer Zeit existiert; danach bilden wir die Ideen der Identität und Verschiedenheit“2. Gleich zu Beginn des Kapitels „Über Identität und Verschiedenheit“ formuliert John Locke mit diesen Worten seinen Identitätsbegriff. In aller Kürze spricht er mit diesem Satz essentielle Bestandteile seiner Theorie der Identität an. Zum einen findet sich hier bereits die grundlegende Bedingung, dass ein Ding nur dann als identisch zu betrachten ist, wenn es über die Zeit hinweg, d.h. zu zwei verschiedenen Zeitpunkten betrachtet, jeweils als dasselbe Ding zu identifizieren ist. Zum anderen kommt noch hinzu, dass dieses Ding in dem Moment der Betrachtung auch nur mit sich selbst identisch ist und mit keinem ihm noch so ähnelnden Ding an einem anderen Ort. Indirekt spricht er damit aber auch an, dass es sich bei den ,,Ideen der Identität und Verschiedenheit“ natürlich stets um Zuschreibungen handelt und diese aus der Wahrnehmung resultieren und anhand bestimmter Merkmale begründet werden. Locke geht also empirisch vor und unterscheidet dabei innere und äußere Wahrnehmungen, durch deren Verarbeitung die Ideen erst entstehen.3 Um den Zustand der Identität festzustellen, muss die jeweilige Beobachtung eines Dings daher auch immer mit der Idee, d.h. dem Bild, das sich der Beobachter zuvor von diesem gemacht hat, übereinstimmen. Trifft dies zu, wird es als mit sich selbst über die Zeit hinweg identisch wahrgenommen.4 Im weiteren Verlauf schließt Locke dann aus diesen Vorbemerkungen, dass die Existenz jedes Dinges auch immer nur einen Anfang hat und zwei Dinge niemals denselben Anfang haben können. Um die Identität eines Dinges zu überprüfen, kann dessen Anfang also daraufhin untersucht werden, ob es bei diesem eine zeitliche und räumliche Übereinstimmung zu dem Dasein eines ihm zugeordneten bzw. mit ihm verglichenen Dinges gibt.5

Locke führt an dieser Stelle auch eine noch genauere Bestimmung ein, indem er davon spricht, dass es überhaupt nur drei Arten von Substanzen gibt, von denen der Mensch Ideen besitzt. Diese sind für ihn Gott, endliche vernunftbegabte Wesen und Körper. In Bezug auf deren Identität steht diese für ihn bei Gott als Wesen, das mit seinen Worten „ohne einen Anfang, ewig, unveränderlich und allgegenwärtig“6 ist, dadurch auch zweifelsfrei fest. Die Identität der endlichen geistigen Wesen verbindet er in diesem Zusammenhang nochmals mit dem Beginn ihrer Existenz und verweist darauf, dass der zeitliche und räumliche Kontext in dem sie ihren Anfang genommen haben, für deren Identität bestimmend ist und bleibt. Dieselbe Bedingung überträgt er letztlich auch auf die Körper, bei denen er dann von Identität spricht, solange deren Materie im Hinblick auf deren ursprüngliche Zusammensetzung weder Teile abgegeben noch hinzugewonnen hat.7

Zur richtigen Unterscheidung zwischen der Identität von lebenden Wesen und unbelebten Körpern verweist er in der Folge auf das ,,principium individuationis“.8 Demzufolge beruht die Identität von Körpern, wie bereits gesagt, auf deren gleichbleibender, d.h. über die Zeit hinweg unveränderter Masse. Bei lebenden Wesen jedoch bleibt die Identität unangetastet von gelegentlichen Veränderungen der Materie bzw. der äußeren Erscheinungsform. Locke veranschaulicht dies am Wachstum einer Eiche und eines Pferdes, die während ihres Daseins schließlich trotz immenser Veränderungen der Masse als mit ihrer ursprünglichen Erscheinungsform identisch wahrgenommen und bezeichnet werden. Hierzu kommt es laut Locke, da man den Begriff Identität bei unbelebten Körpern und belebten Wesen nicht auf denselben Aspekt ihrer Existenz anwendet. Denn bei Pflanzen und Tieren ist es für Locke keine konstante, aber willkürliche Zusammensetzung ihrer Teile, die für die Frage der Identität relevant ist. Vielmehr ist ausschlaggebend, ob diese Teile sich zweckmäßig und organisiert zusammenfinden, um eine in ihrer Organisation gleichbleibende Lebensform zu bilden. Daher bedeutet auch ein Austausch dieser Teile keine Gefahr für die Identität des Lebwesens, da neue Komponenten an der Organisation desselben Lebens teilnehmen. Die Identität von Lebewesen besteht für Locke also geradezu in deren Stoffwechselprozessen. Tiere und Pflanzen unterscheiden sich nach Locke in dieser Beziehung lediglich durch den Aspekt der Bewegung, welche der tierischen Lebensform innewohnt und dort zeitgleich mit der zweckorientierten Organisation ihrer Bestandteile einsetzt.9

2.2 Personale Identität bei Locke

Ähnlich seiner Definition der Identität bei Tieren sieht John Locke den Fall beim Menschen gelegen. Auch hier finden eine Veränderung der Erscheinungsform und ein Austausch seiner Bestandteile in Form des Stoffwechsels im Laufe seines Lebens statt. Was all dies im stetigen Wandel jedoch zusammenhält, ist auch hier eine zweckorientierte Organisation aller Teile. Die Identität des Menschen macht Locke also erneut an der systematischen Zusammenkunft und der gemeinsamen Mitwirkung seiner Bestandteile, am Leben ein und desselben Individuums fest.

Da sich Locke gegen die Vorstellung wehrt, dass die Identität allein anhand des Geistes eines Menschen festzumachen sei, verweist er hier in diesem Zusammenhang deutlich auch auf die körperliche Komponente der Menschenidentität. Körper und Geist gemeinsam machen für ihn also die Identität des Menschen aus.10 Hier fällt besonders auf, dass Locke eindringlich dazu anhält, in der Diskussion um die Frage der Identität sehr genau auf die jeweiligen Formulierungen zu achten. Geradezu in Form eines Appells weist er darauf hin, dass ein Großteil der Probleme und Verwirrungen zu diesem Thema auf falschem Gebrauch der entscheidenden Bezeichnungen beruhen.11 So sind beispielsweise die Begriffe Substanz, Mensch und Person voneinander verschieden und rufen unterschiedliche Vorstellungen hervor.

Daher muss auch bei einer Bestimmung ihrer Identität berücksichtigt werden, dass der zu bildende Identitätsbegriff sich an den Vorstellungen orientiert, die mit diesen Begriffen verknüpft sind. 12

So geht Locke in der Folge ganz explizit auch auf den Begriff ,Person‘ und seine Idee von diesem ein. Er entwickelt eine genau auf den Terminus ,Person‘ zugeschnittene Herangehensweise zur Bestimmung der Identität. Eine Person ist nach Locke ein Wesen, das vernunftbegabt ist und sich ein eigenes Bild von sich selbst machen kann. Dies bedeutet, dass eine Person dazu fähig sein muss, sich anhand eigener Gedanken – über zeitliche und räumliche Veränderungen hinweg – als ein und dasselbe vernunftbegabte Individuum zu begreifen. Eine Person muss sich also darüber bewusst sein, welche Handlungen und Gedanken sie sich selbst zuzuordnen hat.

Den größten und wichtigsten Platz in Lockes Theorie der personalen Identität nimmt sodann auch dieses Bewusstsein der Person ein. Die Identität einer Person liegt für Locke einzig in ihrem Bewusstsein begründet. Die bewusste Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen und v.a. die Zuschreibung all dessen zu ein und demselben Ich bildet eine Art „Identitätsgerüst“ für ein vernunftbegabtes Wesen. Anhand dessen kann es sich zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten seines Selbst versichern und bildet so ein Selbstbewusstsein aus, das genau dem Umfang seiner bewussten Wahrnehmung entspricht.

Bleibt dieses Bewusstsein also mit sich identisch, so bleibt auch die Identität der Person erhalten, die daran gekoppelt ist. Auch eine Veränderung der Substanz berührt die Identität des Bewusstseins und damit die personale Identität nicht. Als Beispiel hierfür führt Locke den Verlust eines Körperteils an, durch den die materielle Substanz zwar nicht mehr dieselbe ist, die Identität der Person bleibt davon jedoch unbeeinflusst. Ob eine Veränderung nun aber bei der körperlichen oder der geistigen Substanz eintritt, ist für die Frage der Personenidentität belanglos, solange nur die Einheit des Bewusstseins gewährleistet ist.13

Deutlich von der Personenidentität ist also diejenige Identität zu unterscheiden, die nur am Begriff ,Mensch‘ festgemacht wird. Insofern gilt nach Locke, „dasselbe Leben stifte die Einheit des Menschen, dasselbe Bewusstsein die Einheit der Person“14.

2.3 Die Hintergründe zur Lockeschen Identitätstheorie

Anhand Lockes Ausführungen, z.B. in Bezug auf die Rolle des Bewusstseins für die Strafbemessung vor Gericht, lässt sich eine versteckte Intention hinter seiner Theorie erschließen.15 Denn es stellt sich heraus, dass Locke mit seinem Konzept der personalen Identität ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen hatte, das auf den Dogmen einer christlichen Weltanschauung fußt. Als Ausdruck dessen ist Lockes Bestreben zu deuten, eine Theorie der Personenidentität zu entwickeln, die darlegt, wie eines Tages die gesamte Person auferstehen kann, sodass letztlich Gott über sie richtet. Wichtig ist ihm dabei v.a., dass die Person in ihrer Gesamtheit wiederaufersteht, sodass sie mit dem Ich identisch ist, als das sie zuvor gelebt hat.16

Schließlich muss Gott bei der Beurteilung alles in die Waagschale legen können, was dieser Person anhand ihrer Bewusstseinsinhalte zuzuschreiben ist. Dies bedeutet, dass der Zusammensetzung ihres Bewusstseins nichts hinzugefügt sein und nichts fehlen darf, was sie von der Person unterscheiden würde, die sie zu Lebzeiten gewesen war. Gewährleistet sieht Locke dies durch die Kontinuität des Bewusstseins, welche die Identität bewahrt. Wohlgemerkt ist es hierfür aber weder erforderlich, dass die rein numerische Identität des Leibes bewahrt wird, noch dass eine geistige Substanz im Sinne einer Seele in gleichbleibender Form bestehen bleibt.17

Insofern hat das Bewusstsein in der Situation vor dem göttlichen Richter sogar eine doppelte Funktion. Zum einen dient es zur Identifikation der Person und ihrer gerechten Urteilsbemessung. Zum anderen wird das Urteil dadurch aber auch für die Person selbst nachvollziehbar, da nichts das Urteil beeinflussen könnte, das ihr nicht vollkommen bewusst wäre.

Zusätzlich liegt hierin auch die Begründung für das Bestreben des Selbst, die eigenen Taten und Gedanken bewusst zu verfolgen und immer auf sich zu beziehen. Denn der Antrieb dafür ist laut Locke die Sorge um das zukünftige eigene Wohl. Als Grundlage für das Urteil, das Gott eines Tages einmal über jeden fällen wird, dienen ihm die bewussten Taten und Gedanken der Person. Daher ist das Bewusstsein auch so sehr bestrebt in seiner Zuordnung möglichst exakt zu arbeiten, damit das Selbst im Hinblick auf die anstehende göttliche Verhandlung einen Überblick behält und sich wohlmöglich schon auf das einstellen kann, was es nach dem Tode erwarten wird.18 Ganz abgesehen davon sei an dieser Stelle noch ein anderer Hintergrund zur Entstehung der Lockeschen Identitätstheorie kurz erwähnt. Diese kann nämlich klar mit dem Identitätskonzept von René Descartes in Verbindung gebracht werden. Bei Descartes gewährleistete noch die Seele als geistige und immer denkende göttliche Substanz die Identität der Person. Er betrachtete die Substanz der Seele also als den Hort des Bewusstseins. Wohingegen Locke nun das Bewusstsein selbst, vom Wandel der Substanzen unabhängig, als alleinigen Träger der personalen Identität ausgemacht hat. Die Einheit des Bewusstseins und nicht wie für Descartes die der Substanz, ist für Locke maßgeblich identitätserhaltend.19

Es lässt sich also festhalten, dass Locke in dieser Hinsicht die Ansichten Descartes aufgegriffen und weiterentwickelt hat. Dazu gehört auch, dass Locke im Gegensatz zu Descartes u.a. zu dem Ergebnis kommt, dass für den Erhalt der Personenidentität nicht ausschlaggebend ist, ohne Unterbrechung bewusste Gedanken fassen zu können.20

2.4 Die Kernthesen in Lockes Identitätskonzept und deren Einordnung

Über eine zunächst allgemein gehaltene Definition von Identität arbeitet sich Locke innerhalb des behandelten Kapitels an eine grundlegende Bestimmung der personalen Identität heran, die den eigentlichen Kernpunkt seines Konzepts bildet. In den Mittelpunkt seiner weiteren Behandlung der Personenidentität rückt dann sehr schnell auch der Begriff des ,Selbstbewusstseins‘. Personale Identität und das Bewusstsein des Selbst werden so in dieser Form und v.a. in dieser zentralen Stellung zuallererst bei John Locke besprochen.21

Dabei entsteht nach Locke Bewusstsein um einen selbst ausschließlich aus der Erfahrung. Dies zeigt, wie fest verankert Lockes gesamte Theorie auf den Grundsätzen des Empirismus steht. Alle Erfahrungen speisen sich für ihn entweder aus äußeren, passiv erhaltenen oder inneren, aktiv forcierten Wahrnehmungen.22 Gräbt man aber noch etwas tiefer und betrachtet die Hintergründe von Lockes Theorie, ergibt sich auch ein Bild über deren zugrundeliegenden Absichten. Denn es bleibt festzustellen, dass Locke die Identität von Personen deshalb möglichst einwandfrei begründen möchte, weil sich daraus auch moralisches Handeln, Schuld und Strafe exakt einem Individuum zuordnen lassen.23

Jedoch nicht nur für alltägliche irdische Gerichtsverhandlungen ist dieser Umstand für Locke von Relevanz, sondern gerade auch für den Tag des „Jüngsten Gerichts“. An diesem liegen nach seiner Vorstellung einmal alle Taten und Gedanken der Person vor dem göttlichen Richter ausgebreitet. Es ist daher Lockes ganz besondere Bestrebung, in der Zuordnungsfrage aller moralisch relevanten Taten und Gedanken durch deren dauerhafte Personenbindung größtmögliche Klarheit zu schaffen.

3. Gottfried W. Leibniz

3.1 Leibniz und Locke

Gottfried Wilhelm Leibniz war ein direkter Zeitgenosse Lockes. Den im Jahr 1646 geborenen Leibniz trennt von Lockes Geburtsjahr 1632 zwar mehr als ein Jahrzehnt, ihre philosophischen Schaffenszeiten überlagerten sich jedoch noch in weiten Teilen, bevor Locke 1704 und Leibniz 1716 verstarben.24

Daraus erhält die Rezeption durch Leibniz eine besondere Note. Denn die Punkte, die von Leibniz in seinem Werk ,,Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ in Bezug auf Locke angesprochen werden, müssen im Lichte der zeitlichen Übereinstimmung beider und ihres Weltbildes gesehen werden. Leibniz geht dort im 27.Kapitel explizit auf Lockes Identitätsbegriff ein und übernimmt sogar eine ähnliche Argumentationsstruktur und Kapitelunterteilung, wie sie Locke bei ,,Identität und Verschiedenheit“ vorgenommen hat.25

Insofern besteht letztlich die Brisanz darin, dass sich hier ein Philosoph der Theorie Lockes annimmt, der durch dieselbe Zeit geprägt wurde. Ausdruck dessen ist v.a. die Tatsache, dass Leibniz wie auch Locke in ihren Theorien stets darum bemüht sind, die Aufrechterhaltung christlicher Glaubensgrundsätze zu gewährleisten.26 Interessant wird also zu sehen sein, wie Lockes Auffassungen hier eine direkte Antwort erfahren.

3.2 Leibniz und die Grundlagen seines Identitätsbegriffs

Um zu verstehen wie Leibniz zu Lockes Identitätsbegriff seinerseits Stellung bezieht, ist es sinnvoll sich das allgemeine Gedankensystem genauer anzusehen, in welches Leibniz seine Thesen einbettet. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Monadenlehre von Leibniz. Als Monade bezeichnet er eine einfache immaterielle Substanz bzw. eine Seele. Alle Monaden nehmen hierbei das gesamte Universum aus ihrer je individuellen Sichtweise wahr – ohne dabei jedoch untereinander in Kontakt zu stehen bzw. sich gegenseitig zu beeinflussen.27 Die Monaden sind nach Leibniz die letzten Kleinstbestandteile aus dem das Universum besteht und damit selbst in ihrer Existenz nicht begrenzt und keinen Veränderungen unterworfen. Monaden bilden das Universum und registrieren zudem auch die Geschehnisse in ihm.28 Hierin liegt jedoch insofern eine Wertung vor, als dass die Monaden des menschlichen Geistes zu einer weitaus differenzierteren Wahrnehmung fähig sind als andere Monaden.29 Als „Urmonade“ sieht Leibniz Gott gegeben, wobei alle anderen Monaden zugleich auch Ausdruck göttlicher Wirkkraft sind.30

Hieraus ergibt sich für Leibniz, dass alles was der seelischen Substanz widerfährt, entweder bereits in ihrer Natur so angelegt war oder durch einen direkten Eingriff Gottes beeinflusst wurde. Aus diesem Grund sieht er auch die Unsterblichkeit der Seele als gegeben an, da ihre göttliche Substanz ohne Zutun Gottes ewig und unveränderbar ist.31

In Bezug auf Locke konnte bereits gezeigt werden, dass dieser bei der Ausarbeitung seines Identitätskonzepts empirisch vorgegangen ist. Genau gegen diese empirisch gestützte Argumentation wendet sich nun Leibniz.32

So sieht er im Gegensatz zu Locke auch bei unbelebten Körpern ein inneres Prinzip wirksam, dass ihre Unterscheidbarkeit ermöglicht. Nicht nur anhand äußerer Kriterien und räumlicher bzw. zeitlicher Anhaltspunkte sind für Leibniz daher Körper zu unterscheiden. Zugleich wendet er sich mit demselben Argument auch gegen Lockes Bestimmung der Identität lebendiger Wesen. Eine Identitätszuschreibung lediglich aufgrund der zweckorientierten Organisation der Teile und ihrer offensichtlichen Teilnahme an ein und demselben Leben, lässt Leibniz ohne das Vorhandensein eines inneren Prinzips auch hier nicht gelten.33

Den Grund dafür offenbart wiederum ein Verweis auf seine Monadenlehre. Um Identität aufzuweisen und v.a. um sie beizubehalten, muss es etwas Substantielles geben, das selbst unveränderlich ist. Dieses „Etwas“ sind für Leibniz die Monaden, also eine immaterielle Substanz, welche die Identität sozusagen „konserviert“.34

3.3 Leibniz und Locke über personale Identität

Leibniz stimmt mit Locke dahingehend überein, dass beide im Bewusstsein die Grundlage für die personale Identität gegeben sehen.35 Durch die inneren und äußeren Wahrnehmungen generiert die Person bei Locke Erfahrungen und durch die weitere Verarbeitung dieser Informationen entsteht bei der Person ein Bild von sich selbst in der Zeit und damit Identität. Nun möchte Leibniz von hier an noch einen Schritt weitergehen. In dem von Locke beschriebenen Selbst sieht Leibniz nur ein „empirisches Ich“ gegeben. Er möchte aber den genauen Ursprung dieses Ichs und die exakten Gesetzmäßigkeiten kennen, anhand derer es durch die Verbindung einzelner Wahrnehmungen letztlich erst konstruiert wird und als ein einziges Selbst erscheint.

[...]


1 S. Kaufmann, Jean-Claude: ,,Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität“. UVK Verlagsgesellschaft. Konstanz, 2005. S.157.

2 S. Locke, John: ,,Versuch über den menschlichen Verstand“. Zweites Buch, XXVII. Kapitel: „Über Identität und Verschiedenheit“. Felix Meiner Verlag. Hamburg, 1981. S. 410.

3 Vgl. Gordijn, Bert: „Die Person und die Unbestimmbarkeit ihrer Grenzen. Eine grundlegende Kritik an der Debatte über Personenidentität“. Europäischer Verlag der Wissenschaften. Frankfurt am Main, 1996. S. 51.

4 Vgl. Locke (1981), S. 410.

5 Vgl. ebd., S. 410f.

6 S. ebd., S. 411.

7 Vgl. ebd., S. 411.

8 Vgl. ebd., S. 412.

9 Vgl. ebd., S. 413f.

10 Vgl. ebd., S. 415.

11 Vgl. ebd., S. 437f..

12 Vgl. ebd., S. 416.

13 Vgl. ebd., S. 419f.

14 Vgl. Thiel, Udo: ,,Lockes Theorie der personalen Identität im Kontext der zeitgenössischen britischen Philosophie“. Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn, 1983, S. 55.

15 Vgl. Locke (1981), S. 431f.

16 Vgl. Gordijn (1996), S. 49f.

17 Vgl. Thiel (1983), S. 174.

18 Vgl. ebd., S. 150f.

19 Vgl. Hauser, Christian: ,,Selbstbewusstsein und personal Identität: Positionen und Aporien ihrer vorkantischen Geschichte; Locke, Leibniz, Hume und Tetens“. Frommann-Holzboog. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1994. S. 34.

20 Vgl. ebd., S. 39.

21 Vgl. ebd., S. 35f.; vgl. Sturma, Dieter: „Grundzüge einer naturalistischen Theorie personaler Identität“. In: „Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Hrsg. v. Prof. Dr. Andrea Esser, Dr. Axel Honneth (u.a.). 56. Jahrgang, Heft 1. Akademie Verlag, 2008. S. 572.

22 Vgl. Hauser (1994), S. 41.

23 Vgl. ebd., S. 39.

24 Preußner, Dr. Andreas; Meerbusch, Prof. Dr. Wolfgang Krewani: In: Handwörterbuch Philosophie. Hrsg. v. Wulff D. Rehfus. Vandenhoeck und Ruprecht. Göttingen 2003. S. 146; S. 153.

25 Vgl. Leibniz, Gottfried W.: ,,Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand“. Zweites Buch, XXVII. Kapitel: „Was Identität oder Verschiedenheit ist“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt, 1959. S. 391f.; Gordijn (1996), S. 70f.

26 Vgl. Gordijn (1996), S. 62.

27 Philosophisches Wörterbuch. Hrsg. von Martin Gessmann. Alfred Körner Verlag. Stuttgart, 2009. S. 499.

28 Kather, Regina: ,,Person. Zur Begründung menschlicher Identität“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt, 2007. S. 36.

29 Vgl. Hauser (1994), S. 89.

30 Wörterbuch der philosophischen Begriffe: ,,Monade“. Hrsg. Vo n Arnim Regenbogen und Uwe Meyer. Felix Meiner Verlag. Hamburg, 1998. S. 426.

31 Vgl. Gordijn (1996), S. 64f.

32 Vgl. Hauser (1994), S. 54.

33 Vgl. Leibniz (1959), S. 395f.

34 Vgl. Hauser (1994), 58f.

35 Vgl. Leibniz (1959), S. 405.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
John Lockes Identitätsbegriff und dessen Rezeption bei Leibniz, Hume und Singer
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,8
Autor
Jahr
2015
Seiten
37
Katalognummer
V906683
ISBN (eBook)
9783346206534
ISBN (Buch)
9783346206541
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Philosophie, Identitätsbegriff, John Locke, Hume, Singer, Leibniz, personale Identität
Arbeit zitieren
Marco Hoffmann (Autor:in), 2015, John Lockes Identitätsbegriff und dessen Rezeption bei Leibniz, Hume und Singer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/906683

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