Konfliktpotentiale in der Flüchtlingshilfe

Auf dem Weg zu einer professionellen Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen nach Silvia Staub-Bernasconi


Seminararbeit, 2008

47 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

TEIL 1
1. Begrifflichkeiten
1.1 Asyl
1.1 Personenkreis Flüchtlinge
2. Soziale Arbeit mit Flüchtlingen
3. Theorie der Sozialen Arbeit nach Silvia Staub-Bernasconi
3.1 Das theoretische Fundament
3.1.1 Historischer Hintergrund/ Wurzeln
3.1.2 Drei Paradigmen Sozialer Arbeit
3.1.3 Metatheoretische Ebene
3.2.4 Objekttheoretische Ebene
3.1.5 Ethische Ebene
3.1.6 Fazit
3.2 Das Grundgerüst
3.2.1 Funktion Sozialer Arbeit
3.2.2 Allgemeine Handlungstheorie (handlungstheoretische Ebene)
3.2.3 Spezielle Handlungstheorien (handlungstheoretische Ebene)

TEIL 2
1. Lebenssituation von Flüchtlingen in Deutschland
1.1 „Lebensgefühl Flüchtling“
1.2 Rechtliche Situation der Flüchtlinge in Deutschland
1.2.1 Nationale und Internationale Regelungen
1.2.2 Lebensbereiche
1.2.3 Folgen für die Lebenssituation und Soziale Arbeit
1.2.4 Staatlich geförderte Lügen
1.2.5 Exkurs: Illegalität
1.3 Politische/ Gesellschaftliche Situation
1.4 Fazit
2. Strukturmerkmale Sozialer Arbeit
2.1 Drei potentielle Spannungsfelder
2.2 Das Doppelte Mandat/ Trippelmandat
3. Schlussfolgerungen

TEIL 3
1. Voraussetzungen für eine professionelle Praxis
1.1 Flächendeckende Flüchtlingssozialarbeit
1.2 Professionelle Maßstäbe
1.3 Wissenschaftliche Herangehensweise
1.4 Mehrdimensionale Intervention
1.4.1 Lebenssituation
1.4.2 Strukturmerkmale Sozialer Arbeit

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Seit meinem Praxissemester im Bereich der Flüchtlingshilfe ist es ein Bereich, der mich sehr interessiert. Vor meinem Praktikum wusste ich nicht viel über Flüchtlinge und hatte auch im Studium noch nie über die Soziale Arbeit mit ihnen gehört. Da ich natürlich in den sechs Monaten meines Praktikum auf vielerlei Konfliktpotentiale gestoßen bin, war es mir wichtig diese im Rahmen dieser Hausarbeit näher zu untersuchen. Ich glaube dass dies ein Teilgebiet der Sozialen Arbeit ist, das besonderen Spannungen und Herausforderungen ausgesetzt ist. Warum dies so ist, welche Herausforderungen bzw. Konfliktpotentiale es gibt, wie diese entstehen und wie die Soziale Arbeit darauf reagieren kann, möchte ich in dieser Arbeit versuchen zu klären.

Meine anfängliche These, dass vor allem kulturelle Differenzen die Konfliktpotentiale in diesem Arbeitsfeld bieten widerlegte sich nach und nach, je mehr ich mich in dieses Themengebiet einlas und reflexiv über meine Erfahrungen im Praxissemester nachdache. Ich erkannte, dass vor allem die rechtlichen und politischen Bedingungen, die in Deutschland für Flüchtlinge herrschen, die Interaktion zwischen SozialarbeiterInnen und Flüchtlingen ungemein prägen. Einen mindestens ebenso großen Einfluss haben sozialarbeiterische Strukturmerkmale, allen voran die Funktion der Sozialen Arbeit als vermittelnde Instanz, zwischen Individuum und Gesellschaft. Silvia Staub-Bernasconi hat mit ihrer Theorie der Sozialen Arbeit, das Gewicht dieser Funktion sowohl für die Theorie, als auch für die Praxis aufgezeigt. Sie geht davon aus, dass Soziale Arbeit genau dort einsetzt, so die Interaktion zwischen dem Individuum und der Gesellschaft problembehaftet ist. Damit bieten ihre theoretischen Abhandlungen meiner Meinung nach gute Erklärungsansätze, für die vorhandenen Spannungsfelder in der Flüchtlingshilfe und welche Schlüsse man daraus für eine effektive sozialarbeiterische Praxis ziehen kann. Daher habe ich mich für den Einbezug ihrer Theorie entschieden.

Der erste Teil dieser Arbeit wird theoretische Vorannahmen behandeln, sozusagen das theoretische Konstrukt bilden. Hier werde ich Begriffe wie Flüchtling, Asylsuchender etc. voneinander abgrenzen und erklären. Folgend werde ich eine kurze Einführung in das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen geben. Um diesen Abschnitt der Arbeit abzuschließen werde ich dann einen Überblick über die Theorie der Sozialen Arbeit nach Staub-Bernasconi geben. Dies ist ein wichtiger Teil der Arbeit, da dieser die Grundlage für die weiteren Ausführungen in Teil zwei und drei bildet.

Im zweiten Teil dieser Arbeit möchte ich darauf eingehen, welche besonderen Herausforderungen/ Spannungen/ Konfliktpotentiale die Soziale Arbeit mit Flüchtlingen in sich birgt. Hierbei erhebe ich jedoch nicht den Anspruch, eine vollständige Beschreibung zu liefern, da der Rahmen dieser Arbeit dies nicht zulassen würde. Ich werde verschiedene „Quellen“ der Konfliktpotentiale benennen, und die daraus folgenden (potentiellen) Schwierigkeiten für die Flüchtlingshilfe beschreiben. „Quellen“ die hier genannt und erklärt werden sollen, sind die Lebenssituation von Flüchtlingen, die sich vor allem aus den in Deutschland für Flüchtlinge geltenden rechtlichen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ergibt, und wesentliche Strukturmerkmale der Sozialen Arbeit. Da die Arbeit einen begrenzten Umfang hat habe ich mich entschieden, mich auf diese beiden Quellen zu konzentrieren.

Im dritten und letzten Teil dieser Arbeit werde ich versuchen, aus den in Teil zwei gewonnenen Erkenntnissen, sowie den theoretischen Annahmen Staub-Bernasconis, Handlungsansätze für eine effektive Praxis der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen zu formulieren. Auch hier soll jedoch keine Vollständigkeit angestrebt werden, sondern es soll lediglich aufgezeigt werden, dass es trotz vieler Spannungsfelder Handlungsansätze gibt, die eine effektive Flüchtlingshilfe ermöglichen.

TEIL 1

Der theoretische Rahmen

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist dieser Teil ein wichtiger Bestandteil der Arbeit, da er die Grundlage, für die weiteren Ausführungen in Teil zwei und drei der Arbeit bildet. Da Sprache immer etwas Komplexes ist und Begriffen verschiedene Bedeutungen zugemessen werden können, möchte ich in einem ersten Schritt Begrifflichkeiten die in dieser Arbeit eine zentrale Rolle spielen und deren Verwendung kurz erläutern. In einem zweiten Schritt werde ich das Arbeitsfeld Flüchtlingssozialarbeit beschreiben und im dritten Schritt möchte ich einen Überblick über die Theorie der Sozialen Arbeit nach Silvia Staub-Bernasconi geben.

1. Begrifflichkeiten

1.1 Asyl

„Asyl“ bedeutet im eigentlichen Sinne Freistätte oder Zufluchtsort[1]. Ein Asyl soll Menschen Schutz bieten, die ohne diesen Schutz ihre Lebensaufgaben nicht mehr bewältigen könnten, da die unter einer Art von Bedrohung oder Verfolgung leiden[2]. Wenn in der Fachliteratur über Asyl gesprochen wird, ist jedoch meist politisches Asyl gemeint. Politisches Asyl bietet Schutz für Personen, die wegen ihrer politischen Überzeugung, Zugehörigkeit zu einer Rasse, Nationalität, Geschlecht, oder Religion verfolgt werden. Von ihnen kann in Deutschland das so genannte politische Asyl beantragen werden, das in Artikel 16a im Grundgesetz geregelt ist.

1.1 Personenkreis Flüchtlinge

Wenn die Rede von Flüchtlingen ist werden schwirren oft Begriffe wie Asylsuchender und Asylbewerber durch den Raum. Die Verwendung unterschiedlicher Begriffe für ein uns dieselbe Person lösen oft Verwirrung aus und sorgen für unklaren Umgang mit diesen Begriffen. Um Licht ins Dunkel dieser Begriffsverwirrung zu bringen möchte ich nun auf verschiedene Titel eingehen, die Personen, die aus ihrem Heimatland geflohen sind, um in einem anderen Land Asyl zu suchen auferlegt bekommen.

Flüchtling:

Als Flüchtling gelten laut der GFK (Genfer Flüchtlings Konvention) eine Person, die „aus der begründeten Angst vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihren politischen Überzeugungen sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlos infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“[3]

In dieser Arbeit verwende ich den Begriff „Flüchtlinge“ für eine Gruppe von Personen. Das heißt wenn ich von einem Flüchtling spreche, kann auch die Rede von einem „Asylbewerber" sein. Erfordert es jedoch der Kontext und ich verwende den Begriff „Asylsuchender“ ist auch eine Person gemeint, die der Definition nach solche/r ist.

Asylbewerber/ Asylsuchender: Ein Asylbewerber ist eine Person, die beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) einen Antrag auf Asyl nach Artikel 16a GG gestellt hat. In der Schweiz wird ersatzweise der Begriff „Asylsuchender“ gebraucht. Da dieser Begriff meiner Meinung nach weniger negativ belegt klingt, verwende ich diesen anstelle von „Asylbewerber“. Ein weiterer Begriff der häufig in alltäglicher Kommunikation gebraucht wird ist „Asylant“. Dieser Begriff ist jedoch lediglich ein abwertender Ausdruck für Asylbewerber.

Asylberechtigter: Asylberechtigte sind Personen, die vom BAMF nach Artikel 16a GG als politischer Flüchtling anerkannt wurden.[4]

Weitere Begriffe: Weitere Begriffe, die für die Personengruppe der Flüchtlinge gebraucht werden können sind unter anderem De-facto- Flüchtlinge, Kontingentflüchtlinge und Bürgerkriegsflüchtlinge. Ich denke jedoch dass es für den Zweck dieser Arbeit nicht erforderlich ist hierauf näher einzugehen.

2. Soziale Arbeit mit Flüchtlingen

Da ich wie erwähnt (Teil1, Kapitel 1.2) den Begriff Flüchtling als Überbegriff gebrauche, spreche ich im Zusammenhang „Soziale Arbeit mit Flüchtlingen“ sowohl über Arbeit mit Asylberechtigten, als auch Asylsuchenden und illegal in Deutschland verweilenden Personen. In der Fachliteratur wird für diesen Teilbereich der Sozialen Arbeit kein einheitlicher Begriff verwendet. Manche sprechen von Flüchtlingssozialarbeit, Andere von Flüchtlingshilfe, wieder Andere sprechen einfach von interkultureller Sozialarbeit, unter deren Kategorie die Soziale Arbeit mit Flüchtlingen gehört. Ich werde in dieser Arbeit die genannten Begriffe (ausgenommen interkulturelle Sozialarbeit) analog verwenden.

Bis in die 1970er Jahre war die Flüchtlingssozialarbeit ein Teil der Ausländersozialarbeit. Durch beständig steigende Flüchtlingszahlen, war dann die Entwicklung eines eigenständigen Teilbereichs der Sozialen Arbeit, mit eigenen Anforderungen und Methoden nötig. Aus dieser „Not“ steigender Flüchtlingszahlen heraus, wurden zum Teil von den Wohlfahrtsverbänden, zum Teil von staatlichen Trägern, Stellen für die Flüchtlingssozialarbeit geschaffen[5]. Wenn man heute an die Fachhochschulen schaut an denen Soziale Arbeit gelehrt wird stellt man jedoch fest, dass dieser Themenbereich immer noch nicht ins Gewicht fällt, bzw. nur wenig gestreift wird. Inzwischen kann man zwar einzelne Angebote zur interkulturellen Sozialen Arbeit finden, die spezielle Arbeit mit Flüchtlingen wird jedoch hier selten thematisiert. Die Gründe für die fehlende Thematisierung könnten vielfältiger Natur sein. Man kann sich fragen ob es mit einem tatsächlich niedrigen Bedarf begründet werden kann, oder ob es doch eher die politischen, rechtlichen und strukturellen Bedingungen in Deutschland sind, die einer großflächigen Etablierung dieses Zweiges im Wege stehen.

Wirft man dann einen Blick von der Theorie (den Hochschulen) in die Praxis der Sozialen Arbeit stellt man fest, dass es wenig Stellen in diesem Bereich gibt. Die meisten Sozialarbeitsstellen in der Flüchtlingshilfe findet man in Sammelunterkünften in denen Asylbewerber zwangsweise untergebracht sind, sowie in Abschiebehaftanstalten, zentralen Anlaufstellen und Wohnheimen für Flüchtlinge, kurz: nur da wo es wirklich notwendig ist. Dezentralisierte Angebote gibt es hingegen kaum[6]. Dieser Mangelzustand in der Praxis begründet meiner Meinung nach trotzdem nicht die Unterrepräsentation Flüchtlingsbezogener Themen an den Fachhochschulen, da zum einen mehr Stellen geschaffen werden sollten und man als Sozialarbeiter zum anderen in vielen anderen Arbeitsfeldern trotzdem mit traumatisierten Menschen zu tun hat, die aus lebensbedrohlichen Zuständen geflohen sind.

Die Aufgaben, die Fachkräfte in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen erfüllen sollten und die Aufgaben, die sie letztendlich erfüllen klaffen sehr weit auseinander. Statt ganzheitlicher Hilfe auf mehreren Ebenen (mehr hierzu in Teil drei dieser Arbeit) wurde in den Gemeinschaftsunterkünften eine Beratung für Flüchtlinge eingeführt. Diese beschränkt sich jedoch meist auf die Aufklärung über die in der Einrichtungen üblichen Prozeduren und das Asylverfahren, sowie Beratung zur Rückkehr oder Weiterwanderung. Tritt der höchst seltene Fall ein, dass die Fachkräfte dann noch Kapazitäten haben, leisten sie ebenfalls Hilfe bei der Bewältigung von Konflikten innerhalb der Einrichtung, bei der Freizeitgestaltung und bei der Überwindung von psychosozialen Problemen[7]. Die Gesamtheit der Hilfen in diesem Arbeitsfeld, beschränkt sich in Deutschland stark auf Einzelfallhilfen. Dass diese jedoch keinesfalls ausreichend sind, liegt auf der Hand und wird im Verlauf dieser Arbeit deutlicher werden. Die Gründe für die fehlenden sozialarbeiterischen Angebote liegen vor allem darin, dass wenig finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, da die Unterstützung von Flüchtligen unsrem Staat eher eine lästige Aufgabe zu sein scheint, wie man in der deutschen Asylpolitik unschwer erkennen kann. Dass diese politische Situation in der Flüchtlingshilfe Konfliktpotentiale in sich birgt, ist kaum zu übersehen (siehe Teil 2, Kapitel 1.3)[8].

3. Theorie der Sozialen Arbeit nach Silvia Staub-Bernasconi

Die Überlegungen zu einer Theorie der Sozialen Arbeit Staub-Bernasconis in Kürze wiederzugeben, stellt eine besondere Herausforderung dar, da sie im wahrsten Sinne des Wortes sehr vielschichtig sind und Staub-Bernasconi diese immer wieder weiterdenkt. Man könnte es so ausdrücken, dass es eine dynamische Theorie, bzw. ein Theoriegebäude ist, an dem immer wieder gefeilt wird. Was Staub-Bernasconi nicht wollte, war eine weitere „Methodenabhandlung“ ohne wissenschaftliche Fundierung zu entwickeln. Wer eine Theorie sucht die konkrete Handlungsanweisungen (Methoden) für die Praxis gibt, die man sofort am nächsten Tag umsetzen kann, ist hier falsch. Staub-Bernasconi geht es im Gegenteil gerade darum, fundiert zu arbeiten, um Professionalität in der Sozialen Arbeit zu entwickeln, ja die Profession der Sozialen Arbeit erstmal zu definieren. Ihrer Meinung nach wird dafür zunächst eine wissenschaftlich fundierte Theorie der Sozialen Arbeit benötigt, die nicht nur auf der handlungstheoretischen, sondern auch auf der Meta- und Objekttheoretischen Ebene angelegt ist. Staub-Bernasconi formuliert fünf „Wissensebenen“, dir ihr bei einer Theorieentwicklung wichtig sind:

- Metatheoretische/ philosophische Ebene,
- Objekttheoretische Ebene,
- Ethische Ebene,
- Allgemein erklärende, normative, handlungstheoretische Ebene und die
- Ebene der speziellen Handlungstheorien[9].

Die Beschreibung Staub-Bernasconis Theorie habe ich im Wesentlichen nach diesen Ebenen gerichtet, da es so am besten gelingt ein komplettes Bild zu bekommen. Was diese einzelnen Ebenen bedeuten wird also im Lauf der Arbeit deutlich werden.

Ich werde hier das Sinnbild eines Theoriegebäudes aufgreifen und zunächst einmal das, was beim Bau eines Hauses, bzw. einer Theorie zuerst gelegt werden muss, nämlich das Fundament, beschreiben. Hierzu möchte ich kurz die Wurzeln/ den historischen Hintergrund, vor dem sich die Theorie entwickelt hat beschreiben. Des Weiteren werde ich das Paradigma schildern, unter welchem diese Theorie steht um anschließend drei der fünf Ebenen, die Staub-Bernasconi als wichtig erachtet beschreiben. Anschließend werde ich das „Grundgerüst“ Staub-Bernasconis Theorie skizzieren, indem ich die Funktion Sozialer Arbeit und die handlungstheoretische Ebene auf der Grundlage der vorher beschriebenen Annahmen beleuchte.

3.1 Das theoretische Fundament

3.1.1 Historischer Hintergrund/ Wurzeln

Natürlich ist Silvia Staub-Bernasconi nicht die erste, die sich Gedanken zu einer wissenschaftlich fundierten Theorie der Sozialen Arbeit macht. Um genauer zu sein, zu einer Prozessual-Systemischen. Hierbei steht Sie in der Tradition einiger in den Sozialwissenschaftlichen Kreisen sehr bekannten Frauen, wie Jane Addams, Ilse Arlt und Mary Parker Follett, um nur einige zu nennen. Was diese Frauen alle gemeinsam haben ist, dass sie eine wissenschaftliche Begründung Sozialer Arbeit als Antwort auf Soziale Probleme anstrebten, die sich vor allem auf menschliche Bedürfnisse, sowie die Unterschiedlichkeit der Möglichkeiten, diese im Rahmen des gesellschaftlichen Kontextes auch einbringen zu können, beziehen. Dies ist in der so genannten „Bedürfnisorientierten“ Theorielinie der Sozialen Arbeit der Ausgangspunkt für jegliche Theoriebildung. Des Weiteren kommen alle diese aus einem Emanzipatorischen und Systemischen Hintergrund[10]. Diese Theorielinie allein ist Staub-Bernasconi jedoch zu einseitig und somit versucht sie mit ihren theoretischen Ausführungen Elemente dieser, wie auch Elemente der Funktionsorientieren Theorielinie, die von einer gesellschaftlichen Funktion der Sozialen Arbeit ausgehen, einzubeziehen. Jede dieser Theorielinien steht außerdem für je ein Paradigma, sozusagen einen Blickwinkel der Sozialen Arbeit. Diese Paradigmen sollen im Folgenden voneinander abgegrenzt werden.

3.1.2 Drei Paradigmen Sozialer Arbeit

Staub-Bernasconi erwähnt, dass viele neue Theorien, die eigentlich nur einen alten Inhalt in eine neue Hülle verpacken, den Anspruch erheben einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Ihrer Meinung nach gibt es in der Sozialen Arbeit jedoch lediglich drei Paradigmen, die hier voneinander abzugrenzen sind:

- Atomismus/ subjektzentriertes Paradigma – Dieses hat eine Mikroperspektivische Sicht auf Individuen und die Gesellschaft. Sofern aus dieser Perspektive Ganzheiten überhaupt wahrgenommen werden, bestehen diese aus isolierten Einzelteilen. D.h., dass die Gesellschaft (als Ganzheit) kaum wahrgenommen wird, sondern die individuelle Entfaltung und Freiheit von Individuen im Mittelpunkt steht und den höchsten Wert darstellt[11].
- Holismus/ soziozentriertes Paradigma – Dieses Paradigma hat genau im Gegensatz zum eben beschriebenen eine Makroperspektivische Sicht der Gesellschaft. Hier werden nicht die Einzelteile (also Individuen), sondern in erster Linie die Ganzheit (die Gesellschaft) wahrgenommen. Somit wird das Funktionieren der Gesellschaft höher bewertet, als das Wohlergehen der in ihr lebenden Individuen, die völlig aus dem Blick geraten.
- Systemismus/ systemisches Paradigma – Von beiden Paradigmen wendet Staub-Bernasconi sich ab, indem sie diese als einseitig darstellt.[12] Die systemische Sicht auf diese Gesellschaft und die in ihr lebenden Individuen ist, dass alles aus Systemen besteht, die wiederum aus Individuen und deren Interaktion bestehen, sowie das alles was existiert, ein System bzw. eine Systemkomponente ist (siehe Teil 1, Kapitel 3.1.1 ). Aus systemischer Perspektive sind Gesellschaften, bzw. andere soziale Systeme mit ihren Strukturen dazu da, den Individuen einen positiv begrenzenden Rahmen und damit die Möglichkeit für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu geben. Gleichzeitig soll dies aber auch für alle Individuen gelten. Das heißt, wo die subjektzentrierte Sicht vor allem die Rechte und die soziozentrierte Sicht eher die Pflichten von Individuen im Blick hat, tritt das systemische Paradigma für eine Ausgewogenheit zwischen dieser beiden ein.

Staub-Bernasconi geht also in allen ihren Ausführungen von einem systemischen Paradigma aus. Was dies aus ihrer Sicht bedeutet und wie sie dieses Paradigma interpretiert und anwendet, wird im Laufe der Arbeit deutlicher gemacht werden.

3.1.3 Metatheoretische Ebene

Eine weit verbreitete Form der Systemtheorie ist der „radikale Konstruktivismus“, welcher die Annahme vertritt, dass es keine Wirklichkeit in dem Sinne gibt, sondern dass sich jeder „seine“ Wirklichkeit selbst konstruiert. Staub-Bernasconi distanziert sich von dieser radikalen Ansicht und nimmt stattdessen den „gemäßigten Konstruktivismus“ zur Grundlage, demnach es eine Wirklichkeit gibt, die wenigstens partiell begriffen werden kann. Diese Wirklichkeit kann unter anderem eben nur partiell begriffen werden, weil die Wahrnehmung von Menschen immer fehlerhaft, bzw. unvollständig ist. D.h., dass jede Informationsverarbeitung eigentlich nur eine Konstruktion unseres Subsystems Gehirn ist und nicht eine Abbildung der Wirklichkeit, wie sie tatsächlich ist (aber existiert, im Gegensatz zu dem im radikalen Konstruktivismus herrschenden Vorstellungen). Und trotzdem ist der Mensch der Realität, auch wenn er sie nur partiell begreift, nicht völlig ausgeliefert, sondern kann sie aktiv verändern[13]. Staub-Bernasconi vertritt eine naturalistisch ontologische Systemtheorie aus. Ontologie untersucht allgemeine Charakteristika der Wirklichkeit. Auf dieser Grundlage wird hier angenommen, dass Systeme prozessual und evolutionär sind, das heißt sie entwickeln sich ständig weiter. Weiterhin geht Staub-Bernasconi entsprechend dem systemischen Paradigma davon aus, dass alles was existiert ein System, bzw. eine Komponente eines solchen ist. Auch Menschen sind biologische Systeme (siehe Teil 1, Kapitel 3.1.4). Aber was sind nun solche und wie entstehen sie? Diese Fragen werden hier auf der Metatheoretischen Ebene geklärt. So geht Staub-Bernasconi davon aus, dass Systeme in sich geschlossene Einheiten sind, die durch Interaktion ihrer Einzelteile (bei sozialen Systemen sind dies Menschen/ Individuen) entstehen. Die „Mitglieder“ eines Systems interagieren innerhalb miteinander und auch außerhalb des Systems mit Vertretern anderer Systeme. Durch die Individuen, deren Interaktion und das Konstrukt von Regeln und Gesetzmäßigkeiten, das bei der Entstehung festgelegt wird, ist jedes System charakterlich einzigartig[14].

Diese und andere Annahmen trifft Staub-Bernasconi auf der Metatheoretischen Ebene und legt so den Grundstein für die nächste (Objekttheoretische) Ebene. Denn je nach „Blickwinkel“ ergibt sich ein spezielles „Objekt der Betrachtung“.

3.2.4 Objekttheoretische Ebene

Soziale Arbeit ist bekanntlich eine Wissenschaft, die sich auf viele Bezugswissenschaften beruft. Systemtheoretische Ansätze haben meist einen Anspruch der Ganzheitlichkeit und wollen deswegen alle Ebenen/ Bereiche des „Seins“ einbeziehen. Dazu beruft sich die Systemtheorie, hier ins besondere Staub-Bernasconi, auf viele Bezugswissenschaften/ Basiswissenschaften, von denen Biologie, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Ethnologie nur Beispiele sind. Wegen diesem Anspruch der Ganzheitlichkeit ist es laut Staub-Bernasconi auch nicht mehr tragbar, Sozialpädagogik und Sozialarbeit zu trennen, sondern eine Profession der Sozialen Arbeit zu entwickeln, die dann in den verschiedenen Bereichen wiederum spezielle Handlungstheorien entwickeln kann[15].

[...]


[1] vgl. WAHRIG Fremdwörterlexikon 2004,89

[2] vgl. Pschibul 2006, 6

[3] UHNCR 1951, Kap.1 Artikel 1 A

[4] vgl. Mestrovic 2003, 6-7; EKD 1996, 15-16

[5] vgl. Kothen 2000, 26

[6] vgl. ebd.; Hamburger 1999, 427

[7] vgl. Hamburger 1999, 427

[8] vgl. Kothen 2000, 26

[9] vgl. Staub-Bernasconi 2007, 158

[10] vgl. Staub-Bernasconi 2007, 115-121

[11] vgl. Staub-Bernasconi 2005, 246-256

[12] vgl. Staub-Bernasconi 1995, 121-126

[13] vgl. Staub-Bernasconi 2007, 164-168; Staub-Bernasconi 1995, 118-119

[14] vgl. Staub-Bernasconi 2007, 159-163

[15] vgl. Staub-Bernasconi 1995, 134

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Konfliktpotentiale in der Flüchtlingshilfe
Untertitel
Auf dem Weg zu einer professionellen Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen nach Silvia Staub-Bernasconi
Hochschule
Hochschule Esslingen
Veranstaltung
Theoriebildung und Multiperspektivität: Konflikte in der Sozialen Arbeit
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
47
Katalognummer
V90205
ISBN (eBook)
9783638044622
ISBN (Buch)
9783638941129
Dateigröße
587 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konfliktpotentiale, Flüchtlingshilfe, Theoriebildung, Multiperspektivität, Konflikte, Sozialen, Arbeit
Arbeit zitieren
Judith Nettelroth (Autor:in), 2008, Konfliktpotentiale in der Flüchtlingshilfe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90205

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