Deutschrap als Jugendsprache im Wandel der Zeit. Ein Vergleich von "Azad" und "Capital Bra"


Bachelorarbeit, 2020

83 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Gendererklärung

1 Einleitung

2 Sprachwandel
2.1 Theorien zum Sprachwandel
2.1.1 Insivible-hand-Theorie
2.1.2 Bedeutungswandel
2.2 Jugendsprache
2.2.1 Anglizismen
2.2.2 Sprachliche Mischvarietäten

3 Rap
3.1 Begriffsbestimmung
3.2 Gangsta-Rap
3.2.1 Entwicklung
3.2.2 Charakteristika
3.2.3 Form.
3.2.4 Sprache

4 Track-Analyse
4.1 Azad
4.1.1 Leben
4.1.2 Analyse ausgewählter Tracks
4.1.3 Vergleich der Tracks
4.2 Capital Bra
4.2.1 Leben
4.2.2 Analyse ausgewählter Tracks
4.2.3 Vergleich der Tracks

5 Schlussbetrachtung

6 Literaturverzeichnis

7 Transkriptionsverzeichnis

Anhang

Transkripte

Songtexte

Gendererklärung

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Bachelorarbeit das generische Maskulinum bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. Dies impliziert jedoch keine Benachteiligung des weiblichen und diversen Geschlechts, sondern soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen sein.

1 Einleitung

Jugendsprache ist ein stark debattierter Jargon, vor allem weil man mit ihm sofort Sprachverfall, falschen Sprachgebrauch und fehlende Ausdrucksweisen assoziiert (Vgl. Neuland 2008b: 4f.). Folglich gilt Jugendsprache in der Gesellschaft als allgemeine Verdummung der Menschen, die sie verwenden. Dies ist, wie der Name bereits vorwegnimmt, die Jugend. Sie kann sich nicht mehr adäquat ausdrücken; kaum mehr wird sie verstanden. Bringt man Jugendsprache gleichzeitig mit der „Knastsprache“ in Verbindung, wie in Eike Schönfelds Wörterbuch „Abfahren – eingefahren. Ein Wörterbuch der Jugend- und Knastsprache“ aus dem Jahre 1986, wird sie in endgültigen Verruf gebracht. Nicht selten stellt sich daher die Frage nach der Quelle ihres Ursprungs. Zur Beantwortung dieser Frage fällt besonders das Musikgenre „Rap“ in den Fokus, da dieser vor Vulgarismen, asozialem Slang und Fremdwörtern nur so überläuft. In der heutigen Zeit nimmt nämlich das Jugendsprache, welche eben diesen bestimmten Slang mit all seinen Charakteristika aufweist, im Deutsch-Rap einen immer größer werdenden Stellenwert ein. Doch ob Jugendsprache ihren Ursprung im Deutsch-Rap findet, oder ob die Rapper die bereits existierende „Sprache auf der Straße“, die die Jugendlichen sprechen, in ihre Tracks übernehmen und dadurch nur verbreiten, bleibt umstritten (Vgl. Güngör/Loh 2017: 209). Dass sich die Verwendung Jugendsprache in Deutsch-Rap-Tracks, genauer gesagt in sogenannten „Gangsta-Rap“-Tracks, mit den Jahren verändert und dort einen festen Platz einnimmt, ist jedoch offensichtlich.

Daher befasst sich die vorliegenden Bachelorarbeit mit der Frage, inwieweit sich Deutschrap im Hinblick auf den Gebrauch der Jugendsprache verändert. Dabei soll unter anderem der Zeitpunkt, zu dem sich die Jugendsprache im Deutsch-Rap etabliert hat, werden. Im Besonderen sollen die Rap-Tracks der deutschen Rapper Azad und Capital Bra analysiert werden, um die Entwicklung der Verwendung von Jugendsprache herauszustellen. Folgende drei Fragen sollen hinsichtlich dessen beantwortet werden:

- War Jugendsprache schon immer ein Bestandteil beziehungsweise Charakteristikum deutscher Rap-Tracks, d.h. wurde auch in älteren Tracks Jugendsprache verwendet?
- Wenn nein, verändert sich der Gebrauch von Jugendsprache in Rap-Tracks mit der Zeit, d.h. wird sie in den neueren Tracks verwendet?
- Wenn ja, steigt die Verwendung von Track zu Track an?

Darüber hinaus wird die Hypothese aufgestellt, dass in älteren Rap-Tracks der Künstler keine bis sehr wenig jugendsprachliche Elemente vorhanden sind, sich dies aber im Laufe der Zeit ändert und öfter Gebrauch davon gemacht wird.

Um diese Hypothese auszuwerten, wird im ersten Teil der Arbeit zunächst der Sprachwandel durchleuchtet. Hierbei sind zwei Theorien zum Sprachwandel besonders einschlägig: Die Invisible-hand-Theorie nach Rudi Keller aus dem Jahr 1994, die bis 2014 erweitert wurde, und die Bedeutungswandel-Theorie nach Sascha Bechmann aus dem Jahr 2016. Aufbauend auf diese Theorien wird die Jugendsprachforschung eingeleitet, wobei insbesondere die Meinungen verschiedener Sprachwissenschaftler zur Jugendsprache, ihren Sprachmustern und -eigenschaften sowie ihrer Entstehung im Vordergrund stehen. Weiterführend werden die in der Jugendsprache häufig verwendeten Anglizismen sowie die sprachlichen Mischvarietäten, wie Kiezdeutsch, KanakSprak und Gastarbeiterdeutsch vorgestellt, die ebenfalls in die Jugendsprache einfließen. Im zweiten Teil der Bachelorarbeit wird Rap und insbesondere sein Subgenre „Gangsta-Rap“ und dessen Charakteristika und Entwicklung in Deutschland erforscht. Im nächsten Teil werden die Leben der Gangsta-Rapper Azad und Capital Bra vorgestellt und daraufhin bestimmte Werke in Bezug auf die Verwendung von Jugendsprache analysiert.

Erwähnenswert ist, dass Azad einer der ersten deutschen Gangsta-Rapper und Capital Bra einer der aktuellsten und neusten deutschen Gangsta-Rapper ist. Da Azad seit mehr als 19 Jahren im Rap-Business tätig ist, werden von ihm drei Tracks untersucht. Diese sind zum einen von seinem ältesten Album, zum anderen von einem Album, das sich zeitlich in der Mitte seiner Karriere einordnen lässt und zuletzt von seinem aktuellsten Album (Stand 2019). Von Capital Bra, dessen Karriere sich erst auf vier Jahre beläuft, werden aufgrund dieser kurzen Zeit nur zwei Tracks analysiert, ein Track seines ersten Albums und einer seines aktuellsten Albums (Stand 2019). Die Tracks der einzelnen Künstler werden untereinander hinsichtlich der darin vorhandenen Verwendung von Jugendsprache verglichen, damit in einem letzten Fazit die Tracks beider Rapper vor dem Hintergrund, dass beide Rapper zu anderen Zeiten mit dem Gangsta-Rap begonnen haben gegenübergestellt werden können.

2 Sprachwandel

„Sprachen sind in permanentem Wandel begriffen.“(Keller 2014: 17) Würden wir einige 100 Jahre in die Vergangenheit zurückreisen, hätten wir wahrscheinlich große Schwierigkeiten, uns mit der in diesem Zeitalter lebenden Bevölkerung zu verständigen. Ein Beispiel dafür, dass sich nicht nur die Sprache an sich verändert, sondern auch die Bedeutung einzelner Wörter, ist das Wort merkwürdig. Während das Wort merkwürdig heutzutage etwas Seltsames beschreibt, unterlag es zu früheren Zeiten der wortwörtlichen Bedeutung; merkwürdig war etwas, das so wichtig war, dass man es sich merken sollte. Es war demnach würdig, es sich zu merken. Fraglich ist, warum sich die Sprache überhaupt ändert. Im groben lässt sich sagen, dass sich die Umwelt des Menschen stetig verändert und permanent im Wandel befindet. Daraus resultiert, dass sich der Wortschatz kontinuierlich verändern und ausbauen muss. (Vgl. Keller 2014: 17ff.).

2.1 Theorien zum Sprachwandel

In dieser Bachelorarbeit werden zwei besonders einschlägige Theorien zum Sprachwandel erläutert: die Invisible-hand -Theorie von Rudi Keller (2014) und die Bedeutungswandel -Theorie von Sascha Bechmann. Letztere beleuchtet einen Sonderfall des Sprachwandels.

2.1.1 Insivible-hand-Theorie

Rudi Keller entwickelt die Theorie des Wirkens der unsichtbaren Hand, auch Invisible-hand- Theorie genannt. Hierbei wird die Sprache als Phänomen der dritten Art angesehen. Neben ihnen gibt es noch zwei weitere Arten, aus denen die Welt besteht. Diese sind zum einen die Naturphänomene und zum anderen Phänomene, die von Menschen erschaffen wurden, auch Artefakte genannt. Für diese zwei Arten gibt es Adjektive, die sie beschreiben. Naturphänomene sind natürlich, Artefakte sind künstlich. Alle Dinge dieser Welt lassen sich also in natürlich oder künstlich unterteilen. Natürlich sind beispielsweise Blumen, Flüsse oder die Alpen. Künstliche Dinge kann man allerdings noch einmal in künstlich und natürlich aufteilen. Das beste Beispiel hierfür ist das Alphabet. Während das das Morsealphabet, als erdachtes Alphabet ausschließlich künstlich ist, ist das lateinische Alphabet zwar künstlich, aber doch ein natürliches Alphabet. Demzufolge sind die natürlichen Dinge unter den künstlichen, also nicht- natürlichen Dingen, die Phänomene der dritten Art. Sie sind aus dem Mikrobereich und dem Makrobereich zusammengesetzt. Der Mikrobereich ist intentional und wird gebildet aus den (Handlungen der) Individuen, die an der Erzeugung des Phänomens beteiligt sind. Demgegenüber ist der Makrobereich aus der Struktur gebildet, die durch den Mikrobereich entstanden ist und ist somit kausaler Natur. (Vgl. Keller 2014: 87ff.,92f.).

Phänomene dritter Art haben alle eine Sache gemeinsam: „Sie entstehen durch Handlungen vieler, und zwar dadurch, daß [sic!] die das Phänomen erzeugenden Handlungen gewisse Gleichförmigkeiten aufweisen, die für sich genommen irrelevant sein mögen, in ihrer Vielfalt jedoch gewissen Konsequenzen zeitigen“ (Keller 2014, 89). Dies lässt sich an einem Stau-aus-dem-Nichts -Szenario verbildlichen, da dies ebenfalls ein Phänomen der dritten Art ist. Der Fahrer des Autos „a“ fährt auf einer einspurigen Autobahn 100km/h und fängt ohne relevanten Grund an, auf 90km/h abzubremsen. Die Fahrer der nachfolgenden Autos „b“, „c“ und so weiter werden im Folgenden ebenfalls bremsen, aber immer auf eine niedrigere Geschwindigkeit als der Vordermann, um ihre eigene Sicherheit zu gewähren. Diese Geschwindigkeit kann von den Fahrern folgender Autos nur geschätzt werden. Grob geschätzt lässt sich sagen, dass sie immer um circa 5 km/h langsamer fahren werden, als ihr Vordermann, denn sie können das Ausmaß der Bremsung nicht genau einschätzen. Dies führt dazu, dass alle Autos ab Auto „s“ zum Stillstand kommen. All das passiert, ohne, dass die Autos „a“ bis „r“ in den Stau hereingekommen sind, obwohl sie ihn quasi verursacht haben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass viele Autofahrer durch eine gleiche Handlung, in diesem Fall durch das von Auto zu Auto verstärkte Abbremsen, einen Stau gebildet. (Vgl. Keller 2014: 90). Ein Phänomen der dritten Art ist demnach als „die kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“ (Keller 2014: 93) zu verstehen.

Die Invisible-hand-Theorie will Prozesse erklären, die entstehen, obwohl sie von den Menschen nicht unbedingt bemerkt oder gar beabsichtigt werden. Invisible-hand heißt hier so viel wie „von unsichtbarer Hand geleitet“. Das Ergebnis dieser Theorie sieht aus wie ein beabsichtigter Plan der Menschen, ist aber unabsichtlich entstanden. Zu solchen Ergebnissen, die unbeabsichtigt entstehen gehören beispielsweise Sprache, Moral, Geschmack oder Ghettos, die alle als Phänomene der dritten Art gelten. (Vgl. Keller 2014: 96f.)

Die Invisible-hand-Theorie besteht aus drei Stufen:

1. die Darstellung bzw. Benennung der Motive, Intentionen, Ziele, Überzeugungen (und dergleichen), die den Handlungen der Individuen, die an der Erzeugung des betreffenden Phänomens beteiligt sind, zugrunde liegen, einschließlich der Rahmenbedingungen ihres Handelns;
2. die Darstellung des Prozesses, wie aus der Vielzahl der individuellen Handlungen die zu erklärende Struktur entsteht; und
3. die Darstellung bzw. Benennung der durch diese Handlungen hervorgebrachten Struktur. (Keller 2014: 99f.)

Am einfachsten lassen sich diese Stufen anhand des Phänomens eines Trampelpfades veranschaulichen. Schaut man sich große Rasenflächen an, wie zum Beispiel auf dem Campus einer Uni, sieht man überall Pfade, die schneller von einem Gebäude zum anderen führen, als würde man die „normalen“ angelegten Wege gehen. Trampelpfade auf Rasenflächen entstehen dadurch, dass Menschen zu faul sind, die ihnen vorgegebenen und angelegten Wege zu gehen. Sie merken, dass sie schneller von a nach b kommen, wenn sie quer über die Rasenfläche gehen. Deshalb nehmen eine Vielzahl von Menschen dann diesen Weg über den Rasen und dieser verkümmert durch das häufige Überqueren. Dadurch entstehen letztendlich Trampelpfade. Doch sie entstehen nicht intendiert (Vgl. Keller 2014: 100). Das „System der Trampelpfade [ist] die nicht- intendierte kausale Konsequenz derjenigen (intentionalen, finalen) Handlungen […], die darin bestehen, bestimmte Ziele zu Fuß zu erreichen unter der Maxime der Energieersparnis“ (Keller 2014: 100). Um zurück auf die drei Stufen zu kommen:

1. das Motiv der Handlung ist eine kürzere Strecke zu wählen, um Energie zu sparen;
2. der entstehende Prozess ist das allmähliche Verkümmern der Rasenfläche an der Stelle, an der die Menschen immer wieder über ihn gehen;
3. die durch diese Handlungen hervorgebrachte Struktur ist das Explanandum; der daraus entstehende Trampelpfad (Vgl. Keller 2014: 100).

Trampelpfade sind Phänomene, die man relativ gut prognostizieren kann. Es gibt jedoch auch deutlich komplexere Phänomene der dritten Art, bei denen keine Prognosen getroffen werden können. Bei diesen kann nur vermutet werden, was passiert. Alle Phänomene der dritten Art, die auftreten und/oder sich verändern, können nur mithilfe einer Trendextrapolation vermutet werden (Vgl. Keller 2014: 104). Diese besagt „wenn das-und-das der Fall sein wird, werden sich wohl die Leute so-und-so verhalten, und dann werden die-und-die Strukturen entstehen“ (Keller 2014: 104).

Die Invisible-hand-Theorie lässt sich somit auch auf die Sprache beziehungsweise den Sprachwandel beziehen und wird nun am Beispiel der Wörter englisch1 im Sinne von „engelsgleich“ und englisch2 im Sinne von „britisch“ erläutert. Final geht es darum, zu erklären, weshalb das Wort englisch1 um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Wortschatz der Menschen verschwand. Im Großen und Ganzen sind dazu die ökologischen Bedingungen wichtig, denen die Menschen um diese Zeit ausgesetzt waren. Zusammengefasst gab es mehr Dinge, die englisch2 genannt werden konnten, als englisch1, es gab zwar zwischendurch eine Phase, in der englisch1 eine Hochphase der Verwendung durchmachte, doch englisch2 zog dieser Phase schnell nach und wurde durch eine Rivalität Deutschlands mit England zur Zeit der Industrialisierung wieder häufiger verwendet. Es gab viel mehr alternative Ausdrücke für englisch1 und englisch1 wurde generell öfter missverstanden als englisch2. Dadurch, dass sich Menschen so ausdrücken wollen, dass sie verstanden werden und nicht missverstanden werden, tritt der Invisible-hand-Prozess ein, bei dem immer mehr Menschen auf das Wort englisch1 verzichten. Das Wort englisch1 gerät in Vergessenheit und nachfolgende Generationen erlernen es erst gar nicht mehr. Und auch die Menschen, die das Wort noch nicht vergessen haben, werden es in Zukunft nicht mehr benutzen, da sie sonst missverstanden werden könnten. Das Explanandum, das sich daraus ergibt ist, dass das Wort englisch1 in der deutschen Sprache ausstirbt (Vgl. Keller: 130f.).

2.1.2 Bedeutungswandel

„Sprache und Sprachwandel hängen untrennbar miteinander zusammen. Ohne das eine ist das andere nicht denkbar. Weder gibt es Sprache ohne Sprachwandel, noch gibt es Sprachwandel ohne Sprache“ (Bechmann 2016: 68). Eine Frage, die sich Sascha Bechmann (2016) im Hinblick auf diese Wechselwirkung von Sprache und Sprachwandel stellt, ist, ob Sprache den Wandel bedingt oder der Wandel die Sprache prägt. Diese Frage kann nur so beantwortet werden, dass sich Sprache und Sprachwandel gegenseitig prägen. Sprache hat die Eigenschaft, veränderlich zu sein, und der damit einhergehende Sprachwandel führt anschließend zu neuen Sprachzuständen, die sich in Zukunft ebenfalls wieder ändern können (Vgl. Bechmann 2016: 68).

Sprache setzt sich zusammen aus den folgenden 4 Dimensionen: Sprachgeschichte und Sprachsystem; Lexik und Grammatik; Pragmatik; und Semantik. Hierbei setzt sich Sprachgeschichte und Sprachsystem aus Sprachauffassungen, wie Sprache als Organ, Sprache als Werkzeug, Sprache als System und Sprache als spontane Ordnung sowie Entwicklungslinien und Verwandtschaften zusammen. Lexik und Grammatik umfassen Wortschatz, Syntax, Orthografie und Schrift, Wortbildungsprozesse und sprachliche Fehler beziehungsweise die (daraus entstehenden) Normierungen. Pragmatik beinhaltet sämtliche sprachliche Regeln, Handlungsmaximen und -ziele, Einzelhandlungen und die Beeinflussungsfunktion der Sprache. Die letzte Dimension, Semantik, schließt Bedeutungsauffassungen, sowohl instrumentalischer als auch repräsentationistischer Art, Metaphern und Metonymien, Gebrauchsregeln und Parameter sowie Sinnverschiebungen ein. Diese vier Dimensionen sind miteinander verwoben und bedingen den Sprachwandel, den man einerseits diachron, andererseits jedoch ebenfalls synchron betrachten kann. Betrachtet man den Sprachwandel synchron, wird ein Sprachzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt untersucht, ohne die Vergangenheit mit einzubeziehen. Der diachrone Ansatz zur Erklärung des Sprachwandels untersucht und beobachtet verschiedene Sprachzustände im Laufe der Zeit, um herauszustellen, welche Unterschiede und Veränderungen sich während dieser Zeit in der Sprache entwickeln (Vgl. Bechmann 2016: 69f.).

Bechmann erfindet den sogenannten Sprachwandel-Express, um seine Theorie zu erklären. Dieser Sprachwandel-Express stellt einen Zug dar, der an vier Stationen halten wird, zwischen denen sich die vier Phasen des Sprachwandels vollziehen. An der ersten Haltestelle steigt ein neues Wort in den Zug ein. Während der Fahrt zur zweiten Haltestelle befindet sich das Wort in der Initialphase, in welcher dieses neue Wort durch seine Verwendung in das Sprachsystem gelangt. Auf dem Weg zur nächsten Haltestelle, befindet sich das Wort in der Diffusions- oder Verbreitungsphase, wo es bekannter wird, da es sich durch ansteigenden Gebrauch allmählich verbreitet. Weiter geht es durch die Approbationsphase, bei der das Wort mehr und mehr benutzt und akzeptiert wird, bis es schließlich bei der letzten Haltestelle, der Normierungsphase und seinem Ziel angelangt ist; das Wort wird lexikalisiert und wird zur Norm. Der Sprachwandel ist abgeschlossen. Dies geschieht jedoch nur, wenn das Wort häufig von vielen Menschen benutzt wird (Vgl. Grosse/Neubert 1982: 10ff., zitiert nach Bechmann 2016: 73ff.).

Weiterführend analysiert Bechmann den Bedeutungswandel. Hierbei handelt es sich um einen Sonderfall des Sprachwandels, der nach eigenen Regeln und Prinzipien agiert. Da der Bedeutungswandel sozusagen auch ein Teil des Sprachwandels ist, ist dieser Folge eines Invisible-hand-Prozess‘ und somit ein Phänomen der dritten Art (Bechmann 2016: 174f.).

„Nicht Fehler führen zum Bedeutungswandel, sondern regelkonforme Verwendungsweisen“ (Bechmann 2016: 172). Ein Wort falsch zu verwenden führt daher nicht dazu, dass sich seine Bedeutung ändert, sondern sie verändert sich durch die spezielle Verwendung eines Wortes in für das Wort untypischen Situationen.

Um den Bedeutungswandel näher zu erforschen, muss jedoch zunächst das Wort „Bedeutung“ definiert werden, sofern dies überhaupt möglich ist. Zuallererst ist es essentiell, zwischen dem Ausdruck eines Wortes und der Bedeutung eines Wortes zu differenzieren. Der Ausdruck eines Wortes ist die Aneinanderreihung seiner Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge. Die Bedeutung des Wortes ist, wie Menschen diesen Ausdruck interpretieren und wie er sich zur außersprachlichen Wirklichkeit verhält. Ferdinand de Saussure festigt die Begriffe Signifiant, zu deutsch „Ausdruck“, und Signifié, zu deutsch „Inhalt“. Demnach besitzt jedes Zeichen – Wörter mit inbegriffen, da sie aus komplexen sprachlichen Zeichen bestehen – zwei Ebenen. Die lautliche Realisierung des Zeichens stellt den Ausdruck dar. Der Inhalt eines Wortes trägt seine Bedeutung. Der Inhalt eines Wortes beziehungsweise seine Bedeutung ist folglich das, was es in der außersprachlichen Welt darstellt (Vgl. Bechmann 2016: 172, 176ff.). Die Bedeutung eines Wortes ist jedoch nicht für jeden Mensch die gleiche, denn es gibt verschiedene Bedeutungsvarianten, die je nach Kontext und Situation voneinander abweichen. Ein Beispiel dafür ist das Wort „stehe“n. In verschiedenen Kontexten hat dieses Wort verschiedene Bedeutungen. Im Satz „Ich stehe auf der Straße“ hat das Wort stehe beispielsweise eine andere Bedeutung als im Satz „Ich stehe auf deine neuen Schuhe“. Das eine drückt die aufgerichtete Körperhaltung auf einer Stelle aus, das andere „stehen“ im Sinne von „gut finden“ (Vgl. Bechmann 2016: 176f.,180). Man kann die Bedeutung eines Wortes aber auch vereinfacht als Regel des Wortgebrauchs in einer Sprache definieren. Diese Gebrauchsregeln eines Wortes zu kennen heißt, zu wissen, in welcher Situation dieses Wort verwenden werden kann; verändert man nun diese Regeln des Wortgebrauchs und wendet es in für sich untypischen Kontexten an, ändert das Wort seine Bedeutung (Vgl. Bechmann 2016: 191,194f.). Die Gebrauchsregeln eines Wortes werden durch bestimmte Parameter festgelegt, die von Radtke kategorisiert wurden:

(1) wahrheitsfunktionale Parameter, die Information über die Beschaffenheit der Welt geben, beispielsweise bestimmte Merkmale von Gegenständen oder Handlungen;
(2) epistemische Parameter, durch die indirekt eine Bewertung des Sachverhalts durch die lexikalische Wortbedeutung gegeben wird;
(3) soziale Parameter, die einem Wort eine soziale Funktion zuschreiben;
(4) diskursbezogene Parameter, die beispielsweise in Modalverben ausgedrückt werden und
(5) innersprachliche Paramater, bei denen die sprachliche Umgebung allein den Gebrauch des Wortes bestimmt, die aber ebenso wie die diskursbezogenen Parameter nicht von Relevanz für den Bedeutungswandel sind

(Vgl. Radtke 1998: 149, zitiert nach Bechmann 2016: 192)

Bechmann erweitert diese Kategorisierungen:

(1) Parameter aus der äußeren Welt
(2) Parameter aus der inneren Welt

a. Parameter aus der Welt der Handlungen
b. Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen
c. Parameter aus der Welt der Gefühle

(3) Parameter aus der Welt des Sozialen
(4) Parameter aus der Welt des Diskurses
(5) (Parameter aus der sprachlichen Welt)

(Bechmann 2013:108ff., zitiert nach Bechmann 2016: 194)

Diese Parameter können bei verschiedensten Wörtern benutzt werden und dadurch den Hörer beeinflussen, um beispielsweise die Haltung des Sprechers gegenüber einem Sachverhalt klar zu machen. Jedes Wort kann man mindestens zwei Parametern zuordnen, nur seine Hauptbedeutung ist je nach Situation und Kontext, in dem es auftritt, definiert. Bedeutungswandel findet statt, wenn die Gebrauchsregeln in einer bestimmten Situation durch Verschiebung, Wegfall oder Inkorporierung seine Parameter verändert und dieses Wort in der Gesellschaft akzeptiert und angewendet wird. Nicht zu vergessen ist, dass die Veränderungen der Gebrauchsregeln im Fall des Bedeutungswandels motiviert, also absichtlich sind, um die Sprache neu und innovativ zu verwenden (Vgl. Bechmann 2016: 192-195, 213).

2.2 Jugendsprache

„Spricht die Jugend eine andere Sprache?“ lautet 1982 die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Neuland 2008a: 131). Nicht umsonst manifestierten sich mit der Zeit in der Gesellschaft die Begriffe die Sprache der Jugend oder kurz Jugendsprache. Dieser Frage wird im Folgenden auf den Grund gegangen.

Noch vor wenigen Jahrzehnten lautete die Definition von Jugendsprache aus sprachwissenschaftlicher Sicht, dass diese ein „Jargon einer bestimmten Sondergruppe [, der den] größeren und wertvolleren Teil der Jugend erniedrigt und beleidigt“ sei (Schlobinski et al. 1993: 9). In dieser Zeit galt die Jugendsprache als „Halbstarkensprache“, als etwas dessen Wesen als „das Klotzige, Protzige und Brutale“ charakterisiert wird (ebd.: 9). Jugendsprache wurde als eine Art „Insider-Code“ gehalten, der die Kommunikation mit anderen Generationen erschwert und die sprachliche Inkompetenz der Heranwachsenden repräsentiert; die Generation der Jugendlichen sei nicht mehr in der Lage, sich ordentlich zu artikulieren (Vgl. Spitzmüller 2006: 33). Oft wird der Gebrauch der Jugendsprache daher als Sprachverfall angesehen. Immer, wenn vom Sprachverfall die Rede ist, wird die Jugendsprache als Exempel aufgezählt. Nachlassende Rechtschreib- und Grammatikkenntnisse, Dialogunfähigkeit, fehlendes Sprachgefühl und mangelnde Ausdrucksfähigkeit der Generation Jugend wird kritisiert (Vgl. Neuland 2008b: 4f.). Oft werden neue Formen des Sprachgebrauchs als fehlerhaft angesehen, weshalb sich eine Angst vor dem Verfall entwickelt (Vgl. Keller/Kirschbaum 2003: 9, zitiert nach Bechmann 2016: 76). Aber nicht nur Sprachverfall, sondern zugleich Sittenverfall wird als eine Folge der Jugendsprache wahrgenommen (Vgl. Schlobinski/Heins 1998: 10). Die Jugendsprache wird dahingehend nur so lange akzeptiert wie sie „sauber bleibt“ (ebd.: 10), das heißt, solange sie nicht in die Fäkalsprache niedersteigt.

In summa wird Jugendsprache negativ konnotiert, besonders wenn sie, wie bereits in der Einleitung erwähnt, zusätzlich mit der sogenannten Knastsprache in Zusammenhang gebracht wird, wie in Eike Schönfelds Wörterbuch „Abfahren – eingefahren. Ein Wörterbuch der Jugend- und Knastsprache“ aus dem Jahre 1986. Die Gemeinsamkeit beider Sprachjargons, die ähnliche Soziolekte aufweisen, besteht darin, dass es sich sowohl bei den Jugendlichen als auch bei den Sträflingen um Randgruppen der als „normal“ geltenden Gesellschaft handelt. Beide Gruppen bringen daher diese Randstellung durch ihren Sprachgebrauch zum Ausdruck (Vgl. Schlobinski/Heins 1998: 10). Auch die Umgangssprache muss man von der Jugendsprache abgrenzen, da die Jugendsprache meist fach- und adressatenspezifisch ist und gewisse gemeinsame Kenntnisse und Erfahrungen voraussetzt. Anders als die Umgangssprache, ist die Jugendsprache daher nicht allgemein verständlich. Auch durch Interjektionen, Wortspiele, Lautmalereien und typologisierende Bezeichnungen, die in der Jugendsprache Verwendung finden, in der Umgangssprache jedoch nicht, differenzieren sich beide Sprachstile (Vgl. Neuland 2008a: 136). Andererseits wird geäußert, dass sich die Forschung klar von dem Negativbild der Jugendsprache und der Behauptung, diese würde für den Sprachverfall verantwortlich sein, distanziert. Sprachwissenschaftlich gesehen, drücke die Jugendsprache vielmehr Kreativität aus und damit einhergehend einen produktiven und positiv gesehenen Sprachwandel (Vgl. Dürscheid/Neuland 2006: 22). Auch Heike Wiese (2012) unterstreicht, dass Jugendsprache kein Ergebnis von Sprachmangel ist, sondern ein neues Phänomen, ein neuer deutscher Dialekt, der sich mit der Zeit entwickelt hat: Jugendsprache ist kein „falsches“ Deutsch, es bildet eine eigene Dialektgrammatik (Wiese 2012: 9f.). Normänderungen, die der Sprachwandel, wie oben erwähnt, mit sich bringt, stellen daher keine Gefahr für das Sprachsystem dar, eher sind sie eine Bereicherung für dieses (Vgl. Bechmann 2016: 76). Denn mehrere Jahrhunderte später gilt Jugendsprache als etwas Cooles – wer sie lernt und sprechen kann, wird die Jugend besser verstehen, heißt es (Schlobinski et al. 1993: 9f.).

So umstritten die Meinungen zur Jugendsprache auch sein mögen, in einem Aspekt stimmen alle Untersuchungen überein, und zwar darin, dass sie sich zweifelsohne vom Sprachgebrauch der Menschen anderer Altersgruppen unterscheidet. Dies ist jedoch nicht nur der Fall bei der Sprache der Jugendlichen, denn auch in jedem anderen sogenannten sozialen Alter treten eben altersspezifische Sprachgebrauchsmuster auf. Diese Sprachgebrauchsmuster sind also alters-exklusiv oder englisch age-exclusive und stellen Sprachmuster vor, die nur in einer bestimmten Altersklasse auftreten und spezifisch für diese sind. Das Gegenteil von alters-exklusiven Sprachgebrauchsmustern sind die alters-präferentiellen oder englisch age-preferential Sprachgebrauchsmuster. Dies sind Muster, die in allen Altersklassen auftreten aber in den verschiedenen Altersklassen unterschiedlich häufig benutzt werden. Das Konzept der alters-exklusiven und alters-präferentiellen Sprachgebrauchsmuster lässt sich als das Age grading -Konzept, zu Deutsch altersspezifische Differenzierung, zusammenfassen (Vgl. Androutsopoulos 1998: 1ff.). Verschiedene Altersgruppen verwenden also verschieden häufig stigmatisierte Sprachmittel, hierbei ist jedoch herauszustellen, dass vor allem die jüngere Altersgruppe diese Sprachmittel häufiger verwendet, als die älteren. Je mehr sich Jugendliche dem Erwachsenenalter nähern, desto seltener werden die stigmatisierten Ausdrücke. Jugendliche machen ebenfalls öfter Gebrauch von dialektalen und regionalsprachlichen Varianten, als Erwachsene. Sie sprechen im Großen und Ganzen informeller; beispielsweise die Konjunktion „weil“, die Dativ-Rektion von Präpositionen („während“, „wegen“) und der Definitartikel vor Personennamen sowie Vagheitspartikel („und so“, „oder so“) werden intensiver genutzt (Vgl. Androutsopoulos 1998: 6ff.).

Jugendliche befinden sich im Freundeskreis und in der Schule in sogenannten „Peer-Groups“ – Gruppen Gleichaltriger – die den Jugendlichen hilft, durch Identifikation mit einzelnen Personen dieser Peer-group eine Identität zu bilden. Dabei werden Werte und Motive dieser Person aufgenommen oder abgelehnt und eine eigene Ich-Identität erschaffen. Innerhalb dieser Gruppen lassen sich spezifische Charakteristika finden, die sie von anderen Peer-groups abgrenzen, wie zum Beispiel Kleidung, Gestik und Mimik, Verhaltensweisen oder die Sprache. Im Hinblick auf die Sprache versuchen die Jugendlichen die Sprache, die in der Gruppe verwendet wird zu verändern und sich selbst dadurch zu entwickeln. Dieser Vorgang, bei dem der einzelne Jugendliche seinen eigenen Sprachstil in der Gruppe findet, nennt sich Profilierung. Die durch verschiedenste Merkmale gekennzeichnete Sprache in der Gruppe wird genutzt, um sich von anderen Gruppen, aber auch von den Erwachsenen abzugrenzen (Vgl. Henne 1986, 204f.).

Oft ist es der Fall, dass Erwachsene jedoch versuchen, diese Sprache zu erlernen, um unter anderem Nähe zu den Jugendlichen herzustellen. Ein Beispiel dafür ist die in den Medien verwendete Sprache, die keine originalgetreue Wiedergabe der Jugendsprache ist, denn meist werden die Sendungen und Magazine mit jugendlicher Zielgruppe von Erwachsenen mitproduziert, die versuchen mit der Verwendung jugendsprachlicher Ausdrücke das Interesse der Jugendlichen zu wecken (Vgl. Schneller/Rüdiger 2009: 32), doch geht dies meist schief: Als Antwort auf eine von Jugendlichen abgelehnte Werbung der SPD, bei dem der Slogan „Unser Typ heißt: Rolf Koltzsch“ lautet, äußert ein befragter Jugendlicher, dass viele Erwachsene, unter ihnen, wie im Beispiel gesehen, auch Politiker versuchen, sich sprachlich an den Jargon der Jugend anzupassen, um für sie interessanter zu wirken, was jedoch in die ganz andere Richtung umschlägt, da es sich meistens lächerlich anhört und ihnen dieses gefälschte Image nicht geglaubt wird (Vgl. Schlobinski et al. 1993: 12).

Andersherum wechseln die meisten Jugendlichen ihren Sprachjargon je nach Situation: im elterlichen Haus, in der Schule oder im Beruf wird meist Hochdeutsch beziehungsweise die Standardsprache gesprochen und großen Wert daraufgelegt, sich möglichst vernünftig und elaboriert zu artikulieren. Im Beisein von Gleichaltrigen, also in Peer-Groups in der Schule oder allgemein im Freundeskreis wird oft die Jugendsprache, die als eine Art restringierter Code betitelt wird, der syntaktische und lexikalische Einschränkungen der Standardsprache aufweist, verwendet (Vgl. Henne 1986: 229).

Neuland unterscheidet zwischen zwei Perspektiven des Sprachgebrauchs Jugendlicher; zum einen die sprachfunktionalen Aspekte, die sich auf die lebensgeschichtliche Entwicklung der Jugendlichen bezieht; zum anderen die sprachsystematischen Aspekte, die sich auf die sprachgeschichtliche Entwicklung der Standardsprache bezieht.

Jugendsprache entwickelt sich folglich aus dem Wandel der Standardsprache und den sozialen Lebensgeschichten der Jugendlichen, die sich durch ihre Sprache nach „außen“, also vom Sprachgebrauch der Erwachsenengeneration, aber auch nach „innen“, von anderen Subkulturen Jugendlicher, abgrenzen wollen (Vgl. Neuland 1998: 73). Hierbei wird auch von der sogenannten „Doppelfunktion der Jugendsprache“ gesprochen. Zum einen soll die Jugendsprache zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl der Jugendlichen führen, andererseits als Abgrenzung von Erwachsenen und anderen Gruppen Jugendlicher dienen (Vgl. Corrieri 2013: 34f.)

Aber nicht nur diese beiden Aspekte beeinflussen die Jugendsprache, sondern auch das Sprachbewusstsein der Jugendlichen.

Betrachtet man nun das Verhältnis von Jugendsprache und Standardsprache, ergeben sich die Prozesse der Stilbildung und Stilverbreitung. Die Stilbildung beschreibt die sprachliche Abgrenzung der Jugendlichen von der Standardsprache. Hierbei entsteht unter anderem durch Umdeutungen und Wortneuschöpfungen (Neologismen) eine von der Standardsprache abweichende „neue“ Sprache; die Jugendsprache (Vgl. Neuland 1998: 74). Der Prozess der Stilbildung nennt sich Destandardisierung. Umdeutungen sind beispielsweise die Wörter „geil“ und „Braut“. „Geil“ galt lange Zeit als ein Tabuwort, da seine Hauptbedeutung „gierig nach geschlechtlicher Befriedigung“ oder „sexuell erregt“ war. Das Wort änderte mit der Zeit seine Bedeutung und wird heutzutage benutzt, um etwas positiv zu bewerten. Dem gleichen Bedeutungswandel unterzog sich ebenfalls das Wort „Braut“, das nun nicht mehr einzig die Bedeutung der Verlobten oder Braut an ihrem Hochzeitstag hatte, sondern durch die Umdeutung innerhalb der Stilbildung heutzutage auch die Freundin eines nicht anwesenden Jugendlichen betiteln werden kann. In diesem Kontext hat das Wort „Braut“ meist eine abwertende Nebenbedeutung (Vgl. Neuland 2008b: 77). Die Stilverbreitung der Jugendsprache vollzieht sich dadurch, dass einige Ausdrücke oder Wörter der Jugendsprache in die Standardsprache übernommen werden, zum Beispiel durch ansteigende Übernahme in Wörterbücher und Lexika. Dadurch, dass die Jugendsprache kumulativ in die Standardsprache einfließt, geht eine sogenannte Restandardisierung damit einher (Neuland 1998: 73f.). Die obengenannten Wörter „Braut“ und „geil“ können hier als Beispiele für die Restandardisierung benutzt werden. Für das Wort „Braut“ gibt es im Wörterbuch sowohl den standardsprachlichen Eintrag, der Frau an ihrem Hochzeitstag als auch den jugendsprachlichen Eintrag, der die Braut als „(nicht anwesende) Freundin eines Jungen/eines Freundes“ betitelt. Die Jugendsprache hat sich so weit durchgesetzt, dass ihr eigene Einträge bei Wörtern in Lexika gebühren. Auch das Wort „geil“ ist heutzutage fester Bestandteil der deutschen Wörterbücher, sowohl als Ausdruck sexueller Erregung, als auch als Bezeichnung für etwas Positives. Alles in allem befindet sich die Relation von Jugendsprache und Standardsprache in einer Art Kreislauf, bei dem aus Standardsprache durch Destandardisierung Jugendsprache wird und aus der Jugendsprache durch Restandardisierung die in der Destandardisierung erschaffenen Wörter der Standardsprache zugehörig werden. Damit einhergehend erfolgt jedoch auch ein Verlust sozialstilistischer jugendsprachlicher Spezifika, da die Wörter nun nicht mehr vollständig als „jugendsprachlich“ konnotiert sind (Vgl. Neuland 2008b: 77-80).

Gloy, Bucher &Cailleux (1985) erhoben folgende drei Thesen über die Jugendsprache:

(1.) Es gibt nicht die (eine) Jugendsprache.
(2.) Es gibt nicht die Jugend sprache (im Gegensatz zur Erwachsenen sprache).
(3.) Es gibt nicht die Jugend sprache, sondern das Sprechen von Jugendlichen.

(Gloy et al. 1985: 115, zitiert in Schlobinski et al. 1993: 37)

Es kann nicht die eine Jugendsprache geben, da es die Jugend nicht als „homogene Gruppe“ gibt (Schlobinski et al. 1993: 37). Jugendsprache zerfällt in unzählbar viele Teilsprachen (Vgl. Henne 1986: 211), da nicht jede Peer-group dieselbe Jugendsprache spricht, denn die Charakteristika und Floskeln variieren in jeder einzelnen Gruppe. Hierbei ist ebenfalls zu beachten, dass man den Begriff „Jugend“ nicht pauschal definieren kann.

Soziologisch gesehen ist die Jugend die Periode im Leben eines Menschen, in welcher die Gesellschaft, in der er lebt, ihn […] nicht mehr als Kind ansieht, ihm aber den vollen Status, die Rollen und Funktionen des Erwachsenen noch nicht zuerkennt. Hinsichtlich des Verhaltens ist sie definiert durch Rollen, die der junge Mensch kraft seines Status in der Gesellschaft spielen soll und darf, zu spielen genötigt oder verhindert ist. Sie ist nicht durch einen besonderen Zeitpunkt bestimmt, etwa die körperliche Pubertät, sondern nach Form, Inhalt, Dauer und Abschnitt im Lebenslauf von verschiedenen Kulturen und Gesellschaften verschieden eingegrenzt.

(Hollingshead 1949: 6f.)

Biologisch gesehen beschreibt die Jugend die Phase zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter, die Phase, in der die Pubertät durchlaufen wird. Psychologisch gesehen wird die Jugend als Phase der Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung erklärt (Vgl. Schneller 2009: 26). Die Jugend befindet sich zwischen der Phase des nicht-mehr-Kind-seins und der Phase des noch-nicht-erwachsen-seins, in der der Jugendliche versucht, eine individuelle Ich-Identität zu bilden, weshalb es in dieser Phase oft zu Identitätskrisen kommt (Vgl. Henne 1968: 202). Grob kann man die Jugend also als eine Phase im Leben eines Individuums definieren, dessen Zeitspanne nicht klar eingrenzbar ist (Vgl. Schneller 2009: 26).

Es gibt jedoch weitere Ansätze, die versuchen diese Phase der Jugend noch präziser zu definieren, beispielsweise die folgenden: Jugend als „ Altersphase; die auf ein bestimmtes Lebensalter beschränkt ist, in der spezifische Entwicklungsaufgaben zu erfüllen sind; sozio-kulturell bestimmte Lebensphase, in der das Individuum die Voraussetzung für selbstständiges Handeln gewinnt; Subkultur bzw. gesellschaftliche Teilstruktur, in der ein eigenständiger Lebensstil entwickelt wird“ (Schlobinski et al. 1993: 37). Weiterführend muss betont werden, dass es mit den Jahren zunehmend zu einer Art „Aufweichung“ des gewohnten Lebensalter-Konzeptes gekommen ist. Jugendliche übernehmen nun schon viel früher Aufgaben, die der Erwachsenendomäne zugeschrieben sind und integrieren sich an gesellschaftlichen Prozessen, sodass die heutigen Jugendlichen als viel „erwachsener“ gelten, als noch vor Jahren. Doch diese Aufweichung geschieht nicht nur in die eine Richtung; andersherum werden die Erwachsenen in ihren Denkweisen und ihrem Verhalten immer jugendlicher, denn Jugendlichkeit ist im heutigen Gesellschaftssystem von hohem kulturellem Wert (Vgl. Schlobinski et al. 1993: 38). Die eine Jugendsprache kann es folglich nicht geben, denn sie kann nach verschiedenen Faktoren variieren. Diese verschiedenen Faktoren befinden sich in einem Variationsspektrum, und ihr Vorkommen sowie Zusammenspiel im Leben des einzelnen Jugendlichen beeinflusst und verändert seine „persönliche“ Jugendsprache. Zu den Faktoren innerhalb des Variationsspektrums gehören Zeitgeschichte, gesellschaftlicher Kontext, Medien, Bildungsgang, Generation, Subkulturen, Gruppe, soziale Herkunft, Region, Situation, Alter und Geschlecht. Neben Alter und Geschlecht ist die Jugendsprache demnach von äußerlichen Einflüssen geprägt und verändert sich individuell. Subkulturen zum Beispiel tragen einen großen Teil zum Sprachgebrauch Jugendlicher bei. Je nach Interesse, Hobby oder Fachgebiet eines Jugendlichen können sich seine sprachlichen Äußerungen für Außenstehende sogar bis ins Unverständliche ändern (Vgl. Neuland 2008a: 138). Dadurch, dass es also nicht die eine Jugendsprache gibt, wird oft von Jugendsprache n, jugendlichen Sprechstilen oder Registern gesprochen (Vgl. Dürscheid/Neuland 2006: 22). Insgesamt ist Jugendsprache also „eine die jugendlichen Gruppenstile übergreifende Art des Sprechens“ (Henne 1986: 211). Erwähnenswert ist, die Jugendsprache sich eher bei mündlichen Äußerungen zeigt, als in der Schriftsprache. Daher handelt es sich vorwiegend um eine Sprache des Sprechens als des Schreibens. Jugendsprache ändert sich deshalb so schnell, da die Peer-groups sich mit der Zeit auflösen und zerfallen, und sich im Anschluss neue Peer-groups mit neuen, anderen Charakteristika entwickeln, die dann auch wieder zerfallen werden und erneut sprachspezifische Peer-groups entstehen. Sie unterliegt daher einem stetigen Kreislauf. (Vgl. Henne 1986: 211).

Weiterführend ist zu beachten, dass die Jugendsprache nicht vergleichbar mit der Standardsprache ist; sie setzt Standardsprache voraus und wandelt sie mit eigenen grammatischen und lexikalischen Änderungen und Erweiterungen ab (Vgl. Henne 1986:208).

Hennes Untersuchung der Jugendsprache aus dem Jahre 1986 fasst die strukturellen Formen des Jargons wie folgt zusammen:

(1) Grüße, Anreden und Partnerbezeichnungen (Tussi);
(2) griffige Namen und Sprüche (Mach’n Abgang);
(3) flotte Redensarten und stereotype Floskeln (Ganz cool bleiben);
(4) metaphorische, zumeist hyperbolische Sprechweisen (Obermacker = Direktor)
(5) Repliken mit Entzückungs- und Verdammungswörtern (saugeil);
(6) prosodische Sprachspielerein, Lautverkürzungen und Lautschwächungen sowie graphostilistische Mittel (wAhnsinnig);
(7) Lautwörterkommunikation (bäh, würg);
(8) Wortbildung: Neuwörter, Neubedeutung, Neubildung (ätzend, Macke); Worterweiterung: Präfix- und Suffixbildung, Kurzwörter (abfahren, Schleimi)

(Henne 1986: 208f., zitiert nach Schlobinski et al. 1993: 22)

Hierbei ist zu beachten, dass das Zusammenspiel dieser Formen von Henne als „sprachlicher Jugendton“ bezeichnet wird, der die oben genannten Sprachstrukturen und Sprachmittel umfasst (Vgl. Androutspoulos 1998: 5). Grammatisch kommt es neben den obengenannten Charakteristika im sprachlichen Jugendton zu Satzbruch, Satzabbruch oder Satzverkürzungen, Dehnungspartikeln oder -phrasen („und so“, „oder so“, „oder was“) und jugendspezifischen Partikeln („ej“) (Vgl. Henne 1986: 211).

Darüber hinaus formulierte Henne das „Modell der Jugendsprache“. Dieses Modell unterscheidet folgende vier Dimensionen von Jugendsprache: die „strukturelle Dimension des Jugendtons“, die „funktionelle Dimension der Sprachprofilierung“, die „pragmatische Dimension des Praxisbezugs“ und die „Dimension der inneren Mehrsprachigkeit der Sprachkritik“. Der Jugendton sei der Begriff, der die oben genannten Formen, also die Struktur der Jugendsprache, benennt. Sprachprofilierung beschreibt den sozial-symbolischen Zweck der Sprachmittel; durch sprachliche Abgrenzung von anderen („ihr“) entsteht Identifikation („wir“) und schließlich Identität („ich“). Der Praxisbezug umfasst die inhaltlichen Bereiche des Jugendwortschatzes, das heißt beispielsweise die Kommunikativen Beziehungen innerhalb der Gruppe, den Schulwortschatz oder politischen Wortschatz et cetera. Die Sprachkritik hat zur Aufgabe, die Jugendsprache der einzelnen Gruppen sprachkritisch im Hinblick auf die innere Mehrsprachigkeit einzuordnen (Vgl. Henne 1986: 214f.).

Heinemann (1989) untersucht ebenfalls die Jugendsprache und klassifiziert diese in 9 sprachliche Mittel:

(1) Umdeutungen (Hirsch = Motorrad);
(2) Polyseme (Asche = 1. Rückstand verbrannter Materie 2. Geld);
(3) Bedeutungsveränderte Wörter in festgefügten Wort- und Satzformen (einen im Tee haben);
(4) Analogiebildungen (auf den Docht / den Keks gehen);
(5) Sonderwortschätze (jem. einen Scheitel ziehen);
(6) Regionalismen;
(7) Archaismen (Klampfe);
(8) Fremdwörter, speziell Anglizismen (Freak);
(9) bestimmte Wortbildungsmodelle und grammatische Umdeutungen (rummotzen, ‘ne sahne Gruppe).

(Schlobinski et al. 1993: 26)

Henne, im Gegenteil zu Heinemann, dass das Verwenden von Anglizismen kein Charakteristikum des Jugendtons ist, dieser wird einerseits in der Musikszene erwähnt, andererseits aber auch generell den medialen Ressourcen entnommen. Im Verlaufe der Arbeit werden Anglizismen jedoch als jugendsprachliches Charakteristikum angesehen.

Ein weiteres Stilmerkmal der Jugendsprache nennt Eva Neuland (2008). Jugendliche artikulieren sich oft durch anstößige Ausdrucksweisen und vor allem Vulgarismen. Sie verwenden Beschimpfungen, wie „Spastis“, „du Wichser“ oder „halt’s Maul“, die jedoch in einer Gruppe Jugendlicher meist nicht als Beleidigung empfunden werden, da sie den normalen Umgangston innerhalb der Gruppe wiedergeben. (Vgl. Neuland 2008b: 146, 148.).

2.2.1 Anglizismen

Bei den Anglizismen werden englische Wörter in das deutsche Grammatiksystem übernommen (Vgl. Schlobinski et al. 1993: 26f., 34). „Verben werden gebildet, indem englische Verben, aber auch Nomina, einfach das Infinitivsuffix erhalten; die so gebildeten Verben können durch Affixe erweitert werden“ (Schlobinski et al. 1993: 27). Der Wuppertaler Spontandatenkorpus mit Daten über die Verwendung von Anglizismen im deutschen Sprachgebrauch hat ergeben, dass die benutzten Anglizismen grammatikalisch richtig nach den Wortbildungsregeln des Deutschen verwendet wurden (Vgl Neuland 2008b: 139): Kontext: Diskussion über Freizeitaktivitäten „ in rostock kriegst du schon alles, klamotten, alles mögliche, kann man schon gut shoppen “(ebd.: 139). Das Verb shoppen wird hier in Verbletztposition angewendet, genau so, als stände an dieser Stelle das deutsche Wort einkaufen.

Weitere Beispiele für englische Verb-Anglizismen sind ab-power-n, rein-move-n und los-cutt-en. Aber auch Adjektive mit englischem Stamm werden in die deutsche Sprache übernommen, zum Beispiel speedig und poppig. Hierbei enden die im Englischen auf –y endenden Verben (speedy, poppy) nun auf –ig. Als attributive Adjektive werden die englischen Adjektive übernommen und kongruieren mit dem Bezugsnomen, wie beispielsweise eine coole Sache oder die geswitchten Äußerungen.

Partizipien werden auf die gleiche Weise gebildet (‘n total abgefuckter Typ), bei Nomen im Plural wird entweder die deutsche Pluralendung –er (Punk-er) oder die sowohl deutsche als auch englische Endung –s (Punk-s) an das Nomen gehangen.

Anglizismen im Deutschen kommen meist aus den Wortfeldern Unterhaltung, Musik, Mode und Sport; Beispiele hierfür lauten: Show, Fashion, Look, Sound, Feeling, Body, Power und so weiter (Schlobinski et al 1993: 26f.).

Schaut man sich einmal die Zeitschrift BRAVO an, die sich mittlerweile seit mehr als 60 Jahren auf dem Markt präsentiert. In dieser Zeitschrift, die vorwiegend von 14- bis 18-jährigen gelesen wird werden neben zahlreichen Derivationen und Lautwörtern nicht selten Anglizismen verwendet. Auch hier wird in Rubriken Musik/Stars, Mode/Kosmetik und Film/TV nicht an englischen Wörtern gespart (Flower-Power-Look, Plattennews) (Vgl. ebd.: 34).

2.2.2 Sprachliche Mischvarietäten

Es werden jedoch nicht nur englische Wörter ins Deutsche übernommen, denn auch aus dem Türkischen, Russischen, Polnischen und Italienischen werden Wörter entlehnt. In Deutschland nennt man diese Verbindungen der deutschen Sprache mit einer anderen beispielsweise Türkendeutsch, Russendeutsch, Kanak Sprak oder Kiez-Sprache (Vgl. Neuland 2008b: 158).

Zwischen 1955 und 2017 lassen sich vier Phasen sprachlicher Mischvarietäten feststellen:

1. Gastarbeiterdeutsch: Das „gebrochene“ Deutsch, das sich die erste Generation alleine beibringt.
2. Kanak-Sprak: Der Slang der zweiten Generation und die künstliche Überhöhung dieses Slangs zur sprachlichen Subversion durch Autoren der zweiten Generation.
3. Comedy Kanak-Sprak: Die Verulkung von Kank-Sprak durch deutsche Komiker nach dem Muster des Blackfacing
4. Gangsta-Slang und Kiezdeutsch: Begriffe und Wendungen aus dem Türkischen, Kurdischen, Arabischen oder Romanes im Gangsta-Rap verhelfen einem neuen Gangsta-Slang zu jugendkultureller Dominanz. Nach und nach werden Begriffe des Gangsta- Slangs. Teil der deutschen Kiezsprache.

(Güngör/Loh 2017: 206)

Im Folgenden werden die Phänomene Gastarbeiterdeutsch, Kanak Sprak und Kiezdeutsch erläutert.

Kiez-Sprache oder Kiezdeutsch erhält seinen Namen daher, dass sie in Wohnvierteln mit hohem Migrantenanteil, wie Berlin-Kreuzberg oder Hamburg-Altona, also dem Kiez, ihren Ursprung hat (Vgl. Canoğlu 2012: 27). Auch wenn Kiezdeutsch dank des Kompositums “Kiez“ oft mit diesen Stadtteilen in Verbindung gebracht wird, heißt dies nicht, dass dieser Dialekt ausschließlich dort gesprochen wird: Kiezdeutsch wird überall dort verwendet, wo „Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Erst- und/oder Zweitsprachen zusammenleben, das heißt grundsätzlich in multiethnischen Wohngebieten“ (Wiese 2012: 13).

Der Name Kanak Sprak setzt sich aus dem polynesischen Wort Kanak, zu deutsch Mensch und dem Wort Sprak für Sprache zusammen. Kanak im Kontext der Kanak Sprak bezeichnet hierbei, durch die Migrationswelle bedingt, aber nicht wie oft vermutet nur die sprachlichen Mischvariationen der türkischen, sondern auch der griechischen, bosnischen, tunesischen, italienischen und afrikanischen Migranten (Vgl. Canoğlu 2012: 36).

Diese neuen „Sprachen“ entstanden, durch den Beginn der Arbeitsmigration in Deutschland in den frühen 60er Jahren. Gastarbeiter erschaffen bei Erlernung der deutschen Sprache unbewusst neue Sprachformen, da sie während dem Sprechen der deutschen Sprache Wörter aus ihrer Muttersprache einbringen. Oft sind dies Wörter, für die es keine äquivalente deutsche Übersetzung gibt, oder sie diese Emotion oder den Sachverhalt nur in ihrer Muttersprache ausdrücken können. Doch heutzutage benutzen nicht nur ausländische Jugendliche diese Art von Code-Switching in Gesprächen, sondern auch deutsche oder Jugendliche einer anderen Ethnie als die, zu der gewechselt wurde (Vgl. Canoğlu 2012: 11f.).

Vor allem anderssprachige Begrüßungs- und Verabschiedungsreden werden mit deutschsprachigen Äquivalenten verbunden. Das türkische „hadi“, was übersetzt „los“ oder „also“ bedeutet, wird mit dem deutschen „tschüss“ als „hadi tschüss“ zusammengefügt. Auch das italienische „ciao“, zu deutsch „hallo“ oder, wie in diesem Fall „tschüss“, in Verbindung mit dem deutschen „bis dann“ zu „ciao bis dann!“ ist eine bekannte Verabschiedungsformel (Vgl. Neuland 2008b: 158f.).

Im weiteren Verlauf wird, wie in Frau Canoğlus Recherchen über Kiezdeutsch und Kanak Sprak, das Wort „Mischsprachen“ der Einfachheit halber als Synonym für alle Arten von sprachlichen Mischvarietäten Migrantenjugendlicher verwendet (Vgl. Canoğlu 2012: 29). Auch, wenn Wiese Kiezdeutsch klar von den Mischsprachen abgrenzt, da sie so gut wie keine Lautwörter aufweist, die Aussprache von Fremdwörtern eingedeutscht wird und diese nach den Regeln der deutschen Grammatik verwendet werden (Vgl. Wiese 2012: 41), wird in dieser Arbeit Kiezdeutsch als eine Mischsprache bezeichnet, da sie viele Gemeinsamkeiten mit solchen aufzeigen.

Nachfolgend werden einige sprachliche Merkmale der Mischsprachen anhand von einschlägigen Beispielen erläutert. Fehlende beziehungsweise ausgelassene Wörter und Buchstaben werden zur Veranschaulichung in eckigen Klammern ersetzt. Die wohl charakteristischste Struktur der Mischsprachen ist das Fehlen der Artikel und/oder Präpositionen vor Substantiven („Ich fliege [in die] Türkei.“, „[…] und in [der] Türkei dann“). Nicht nur Präpositionen fehlen, sondern auch temporale Angaben vor Substantiven („[im] Februar“, „[am] zweiten Mai“). Darüber hinaus werden oft die Verben verkürzt gesprochen („bleib[e]“, „fahr[e]“); Possessivpronomen und Negationspartikel werden ebenfalls abgekürzt verwendet („meim“, statt „meinem“; „nich“ statt „nicht“). Auch Entlehnungen aus dem Englischen sind nicht selten („Und der cop sagt dann cool: baby, ich bin […]“). Ebenso der vermehrte Gebrauch von neuen Partikeln („Ich hab‘ meiner Mutter so Zunge rausgestreckt, so aus Spaß“) und neue grammatische Partikel, bei denen zwei Wörter zu einem verschmelzen („lass“ + „(uns)“ + „mal“ zu „lassma“/ „musst“ + „du“ zu „musstu“) ist ein unübersehbares Charakteristikum (Vgl. Canoğlu 2012: 38ff., 43f., 105, 110). Nicht selten wird „es gib(t)s“ statt „es gibt“ gesagt. Was hier grammatisch geschieht ist eine Quasi-Doppelung des Wortes es, zu erklären damit, dass das Wort „gibt’s“, Abkürzung der Wörter „gibt es“, erneut mit dem Wort „es“ kombiniert und dadurch verdoppelt wird. „Es gibs“ kommt in vielen Fällen jedoch auch ohne das voranstehende „es“ vor („Aber gibs auch ’ne Abkürzung“); im Standarddeutschen würde nun das Subjekt fehlen, da kein „ es“ existiert, im Kiezdeutschen wird dadurch das ursprüngliche Objekt zum Subjekt (Vgl. Wiese 2012: 73ff.). So stellt sich, wie oben angeschnitten, als sehr häufig verwendete Partikel heraus. Im Standarddeutschen zeigt sie Vergleiche („ so schnell wie Judith“) oder Intensität („ so groß“) an. In der gesprochenen Sprache wird so meist verwendet, um ein Zitat anzuführen („ und ich so: …“), und ist damit bedeutungsleer. Dies bedeutet, dass der Satz, auch wenn dieses Wort ausgelassen werden würde, immer noch dieselbe Bedeutung hätte. Im Kiezdeutschen gilt das so zwar auch als bedeutungsleer, steht jedoch vor dem Teil des Satzes, der die wichtigste Information enthält („ wenn wir umziehen so, isch hab keine Zeit, zu essen“) (Vgl. Wiese 2012: 92f.).

„Moruk“ („Alter“), „lan“ („Alter“), „olğum“ („mein Sohn“), „canee/canim“ („mein Herz“), „abi“ („Bruder“) repräsentieren typische Anredeformen, die aus dem Türkischen entlehnt wurden und heute im Deutschen wiederzufinden sind (Vgl. Canoğlu 2012: 25, 101).

Das Fehlen der Präpositionen vor Substantiven kann sich dadurch erklären lassen, dass es im Türkischen keine Präpositionen gibt und dieses Phänomen in den Mischsprachen deshalb ebenso aufzufinden sind. Ähnliches gilt für Personalpronomen wie ich, du, er oder sie im Singular; Türkisch gehört zu den sogenannten „Pro-drop-Sprachen“, bei welchen das Personalpronomen weggelassen werden kann, wenn es Subjekt ist. Beispielsweise das Wort „gidiyorum“ bedeutet „ich gehe“, dazu muss man nicht das türkische Wort für ich, „ben“, davorsetzen, denn die Endung „-um“ in „gidiyorum“ drückt die ich -Form ohnehin aus, daher versteht sich das Subjekt von selbst und muss nicht in Form eines Personalpronomens noch einmal aufgeführt werden. Daher kann es natürlich auch dazu kommen, dass in den Mischsprachen oft Pronomen fehlen (Vgl. Hinrichs 2013: 74f.).

Neben allen oben genannten Merkmalen der Mischsprachen werden von anderen Sprachwissenschaftlern jedoch noch weitere grammatische Merkmale herausgestellt, die im Folgenden aufgezählt werden:

(1) Geschlecht : Die Frau wirft den Ball zu seinem Jungen
(2) Singular : Die Henne legt ein Eier
(3) Plural : Er hat drei Knopfe
(4) Objekt : Sie gibt zu ihrem Kind das Telefon
(5) Kopula : Der Junge und das Mädchen _ traurig
(6) Hilfsverb : was so schön geworden_
(7) Verbform : Sie haben Hahn gebratet
(8) Falsche Konjunktion : Er weint, warum er allein ist
(9) Wortfolge : und dann sie gehen weg

(Hinrichs 2013: 158)

Die Mischsprachen werden allerdings nicht ausschließlich durch für das Deutsche ungewöhnliche grammatische Merkmale charakterisiert, auch akustisch-phonetisch gibt es einige Besonderheiten. Überaus herausstechend ist das gerollte r sehr vieler Migranten, die Artikulation des Wortes „ich“ als „isch“ sowie die Aussprache von Wörtern mit langem a und Dehnungs- h, wie „Maß“ und „Lohn“ als „Mass“ und „Lonn“ (Vgl. Hinrichs 2013: 158) .

Das Entstehen und Bestehen der Mischsprachen wird jedoch nicht als Beweis von oder Kritik an fehlenden Sprachkenntnissen Jugendlicher angesehen, sondern eher als eine neue Form des sprachlichen und gesellschaftlichen Wandels. Darüber hinaus muss klar werden, dass diese Mischvarietäten dem stetigen Wandel unterliegen und sich durchgehend verändern und erweitern (Vgl. Canoğlu 2012: 101).

Sowohl die Invisible-hand-Theorie von Rudi Keller als auch die Bedeutungswandel-Theorie von Sascha Bechmann kann man auf die Entstehung und die (Weiter-)Entwicklung der Jugendsprache anwenden. Durch das ständige Verwenden von bestimmten Wörten oder für das Standarddeutsche fehlerhaften Satzkonstruktionen werden diese in die Jugendsprache übernommen. Genauso gut kann der Bedeutungswandel hiermit unterstrichen werden: verwendet man regelmäßig ein Wort in für das Wort untypischen Situationen, so verändern sich mit der Zeit seine Gebrauchsregeln und damit einhergehend seine Bedeutung. Auf einmal ist es zum Beispiel normal, etwas sehr positives geil zu nennen, die Freundin eines Freundes als „Braut“ zu bezeichnen oder statt „Geld“ „Asche“ zu sagen.

3 Rap

Um zu einem allgemeinen Verständnis der Rap-Kultur zu gelangen, dient der folgende Abschnitt zur Darstellung seiner Entstehung, Praktiken und Verbindung zum Hip-Hop. Nachdem in diesem Teil der Begriff „Rap“ beschrieben und erläutert wird, dient der zweite Abschnitt dazu, das Musikgenre Rap weiter zu segmentieren und sein Subgenre, „Gangsta-Rap“, einzuleiten sowie seine Entwicklung, Form, Sprache und Charakteristika zu betrachten.

3.1 Begriffsbestimmung

Rap ist neben Djing, Breakdance und Graffiti eins der vier integralen Bestandteile des HipHops. Diese vier Bestandteile finden ihren Ursprung in den 1970er Jahren in der New Yorker Bronx. Zunächst wird die Entstehung des Hip-Hops, aus dem sich der Rap entwickelt, genauer erläutert. Dieser entsteht, als Diskjockeys bei ihren Auftritten Platten nicht einfach nur abspielten, sondern währenddessen verschiedene Sounds miteinander kombinierten, vermischten und die Platten manuell bewegten, um dadurch einen ganz neuen Sound zu erfinden. Darüber hinaus etablierte sich der Sprechgesang, als sogenannte Masters of Ceremony, kurz MC’s, deren Aufgabe darin bestand, bei Bühnenauftritten oder Performances die Teilnehmer durch Rufe anzufeuern und zum Tanzen zu animieren, statt nur wenige Worte zu rufen mit der Zeit längere Passagen Sprechgesangs vortrugen (Vgl. Seeliger 2013: 16f.). Von der Bronx aus verbreitete sich der Hip-Hop in die Metropolen Nordamerikas, wo fortlaufend verschiedenste Arten von Rap entstanden. Je nach Kontext fand man „Party-“, „Pimp-“, „Polit-“ oder „Gangsta-Rap“. Partyrap will durch humoristische Inhalte positive Stimmung und gute Laune verbreiten; Pimprap, meistens von Künstlern männlichen Geschlechts vorgetragen, dient größtenteils zur Selbstdarstellung des Künstlers, bei welcher nicht selten vor allem seine sexuelle Potenz als Hauptthema; Politrap behandelt, wie der Name zum Teil vorwegnimmt, die Auseinandersetzung mit und Benennung von soziopolitischen Themen und Fragen. Gangstarap beinhaltet stilistische Merkmale aller drei oben genannten Raparten; von humoristischen Inhalten, über Selbstdarstellung bis hin zu soziopolitischen Fragestellungen und Infragestellungen ist hier alles vertreten. Hauptthema hierbei ist jedoch die Lebensweise und das Leben im urbanen „Ghetto“. Gangstarap entsteht am Ende der 1980er Jahren in Großstädten entlang der US-Amerikanischen Westküste, Los Angeles als Hauptmetropole. Besonders die bekannte Rap-Gruppe NWA („Niggaz with Attitude“) oder der Rapper Ice-T finden mit Vermischung und Zusammenspiel der obengenannten Stilmittel schnell zu Anerkennung und großem Erfolg. Durch ihren Einfluss verbreitet sich Gangstarap in viele weitere Teile der USA, bis er zwischen Mitte und Ende der 1990er Jahre den Höhepunkt der Bekannt- und Beliebtheit erreicht (Vgl. Seeliger 2013: 18ff.).

Darüber hinaus gehört Rappen genau wie die anderen drei Bestandteile des Hip-Hop – Djing, Breakdance und Graffiti – zu den Disziplinen, in denen „gebattlet“ wird. Im Breakdance geht es darum, in „Battles“ besser zu tanzen, als die anderen; Graffitis werden größer und bunter, um die gegnerischen Sprayer zu überbieten, mehr und mehr Platten wurden gemixt, um der größte DJ zu sein und schlussendlich werden im Rap der Gegner im Battle verbal niedergemacht und der, der seinen Gegner am meisten und besten gedisst, also verbal herabgesetzt hat, siegt. (Dietrich /Seeliger 2012: 26f.). Der Gegner muss jedoch nicht immer die Person sein, gegen die der gerappte Diss ist, meist ist es auch einfach eine imaginäre Person, die vom Rapper gedisst wird. Nach dem Motto „Worte sind Waffen“ können die Rapper sich in derselben Zeitspanne auf demselben Beat und demselben Instrumental verbal bekämpfen; Gewinner ist derjenige, der vom Publikum den meisten und lautesten Applaus bekommt, und somit den besseren Text vorgetragen hat (Vgl. Corrieri 2013: 44,46).

Hip-Hop, Rap inbegriffen, war zunächst vor allem für Jugendliche mit Migrationshintergrund, deren Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind, interessant. Diesem Interesse können mehrere Faktoren zugrunde liegen. Zum einen braucht man nicht viel Geld oder materielle Dinge, um an der Hip-Hop-Kultur teilzuhaben. Man braucht dazu weder teure Ausrüstung oder Equipment noch besondere Räumlichkeiten, wie zum Beispiel bei bestimmten sportlichen Aktivitäten. Zum anderen gibt der Inhalt der Rap-Tracks und die darin widergespiegelte soziale Wirklichkeit besonders Migranten eine Art Identifikationsfigur beziehungsweise einen Anhaltspunkt zur Identifikation (Seeliger 2013: 60f.). Die Hip-Hop-Szene gehört Peters (2001) zu Folge seit nun mehr als 20 Jahren zu den beliebtesten Jugendkulturen Deutschlands. Die Interessenten und Anhänger des Genres wuchsen seit den 1990er Jahren stetig bis zu circa 3 Millionen (Stand 2013); mehrere Hunderttausend von ihnen sind sogar aktiv an der Produktion der Hip-Hop-Kultur involviert. Hip-Hop erreicht vor allem Menschen im Alter von 13-34 Jahren, das Durchschnittsalter der Interessenten liegt bei 20 Jahren. Wie oben erwähnt sind dabei besonders Jugendliche mit Migrationshintergrund vertreten (Vgl. Peters 2001: 1, zitiert nach Seeliger 2013: 62).

3.2 Gangsta-Rap

Vielleicht nochmal ganz anders: Welche Rolle spielt eigentlich der Gangsta-Rapper im Viertel? Oder: Wer im Viertel wird zum Gangsta-Rapper? Jemand, der wirklich Gangsta ist, und damit Geld verdient, ist doch nicht auf die paar lächerlichen Penunsen angewiesen, die ein Rapper verdient? Und sich auch noch dem ganzen Struggle auszusetzen, das Rappen zu lernen und dieses Texteschreiben. Das heißt, der Gangsta-Rapper ist doch im Viertel derjenige, der eh schon eine künstlerische Ader hat. Höchstwahrscheinlich auch nicht der beste und der härteste Gangster in seinem Viertel. Sondern er ist eher einer der etwas schwächeren im Viertel. In der Hierarchie eher unten angesiedelt. Und der fängt jetzt an zu rappen und in seinem Viertel werden sie ihn auch ein bisschen belächeln, weil die harten und obenstehenden Typen sind die, die das Geld verdienen. Und da ist jetzt dieser kleine Wicht und rappt. Und wenn der jetzt eine Karriere hinlegt und Aufmerksamkeit bekommt, dann steigt der und kriegt auch den Respekt und dann wird der auch interessant für die obenstehenden. Aber eigentlich ist der erstmal in dem Viertel der Schwächere.

(Rap Journalist Falk Schacht in Lütten/Seeliger 2017: 37).

Aufgrund der in Abschnitt 4 folgenden Analyse von Rap-Tracks der verschiedenen Künstler, die zum großen Teil Stilmerkmale und Charakteristika von Gangsta-Rap in ihren Rap-Tracks verwenden und dementsprechend als Gangsta-Rapper betitelt werden, wird nachfolgend noch genauer Gangsta-Rap allgemein, seine Entwicklung in Deutschland und seine Charakteristika erläutert.

Wie oben bereits erwähnt, ist Gangsta-Rap neben einigen anderen ein Subgenre des Rap, der wiederum ein Subgenre des Hip-Hop ist. Er grenzt sich durch spezifische Stilmittel, Sprachcodes und Inhalte von den anderen Rap-Subgenres ab. Allerdings ist er trotzdem nicht eindeutig – ob ein Werk oder Künstler als Gangsta-Rap beziehungsweise Gangsta-Rapper gesehen wird, entscheidet meist immer noch der Hörer selbst. Natürlich zeichnet sich Gangsta-Rap durch bestimmte Merkmale aus, doch ist es schwer, ihn deutlich von den anderen Rap-Subgenres, die ihm sehr ähnlich sind, wie Porno-, Street- oder Hardcore-Rap, zu unterscheiden. Im Großen und Ganzen geht es beim Gangsta-Rap inhaltlich um das Leben und den Alltag eines „Gangsters“. Hierbei ist natürlich auch wieder zu unterscheiden, wie ein Gangster definiert wird; ein Gangster kann also jemand sein, der mit Drogen dealt, oder jemand, der durch Raub oder Körperverletzung als Krimineller gilt. In den Tracks wird entweder aus der Ich-Perspektive oder aus der Sicht des Dritten gesprochen, aber auch hier unterscheidet sich noch einmal die Atmosphäre und Art der Beschreibung von sehr distanziert bis hin zu sehr leidenschaftlich. Ein Aspekt und die damit wohl einzige Gemeinsamkeit in aller Gangsta-Rapper ist die Behauptung, sie kommen aus der sozialen Unterschicht und leben im Ghetto (Vgl. Seeliger 2013: 63). Vor 1993 gab es in Deutschland keine Gangsta-Rapper und somit auch keinen Gangsta-Rap. Zwar existierten vor dieser Zeit schon deutsche Rapper und Rap-Gruppen wie die Fantastischen Vier, jedoch entsprachen ihr Stil und die Inhalte ihrer Tracks nicht dem, was man heutzutage als Gangsta-Rap bezeichnet. Mit der Gründung der Rap-Gruppe „ Rödelheim Hartreim Projekt “ bestehend aus Moses Pelham und Thomas Hofmann im Jahr 1993 ging eine Veränderung und Erneuerung des bis dahin bekannten Deutsch-Raps einher. Die Beats wurden düsterer und schwerer, die Worte aggressiver und angreifender. Der Gangsta-Rap schlug in Deutschland erste Wurzeln (Vgl. Seeliger 2013: 63-66). „Die Verwendung von explizitem Straßenslang, ruppiger Wortwahl und amerikanischer Soundästhetik war im deutschen HipHop etwas revolutionäres“ (ebd.: 66).

Der Stil des Rödelheim Hartreim Projekts fand unmittelbar Anhänger, wie beispielsweise die Frankfurter Rap-Gruppe Da Fource oder den Frankfurter Rapper Azad, die den Gangsta-Rap durch ihre Werke weiter in Deutschland verbreiteten. Aber nicht nur in Frankfurt, sondern auch in Berlin fanden sich immer weiter neue Gangsta-Rapper. Neben den mittlerweile noch immer sehr bekannten Rappern Bushido, Sido, Kool Savas und Prinz Pi zählten auch unbekanntere Rapper wie King Orgasmus One, Royal TS, MC Basstard, Bass Sultan Hengzt oder Westberlin Maskulin zu den frühen deutschen Gangsta-Rappern (Vgl. Seeliger 2013: 69, 71f.).

3.2.1 Entwicklung

Vor allem in Deutschland galt Gangsta-Rap lange als etwas Negatives, etwas, das gesellschaftsschädlich und gemeinschaftsfremd, kurz asozial, ist. Die Interpreten des Gangsta-Raps wurden daher als junge Leute mit Migrationshintergrund gesehen, die keine Bildung genossen haben, sich aber auch nicht dafür interessieren oder sich anstrengen, an dieser Tatsache etwas zu ändern und sich in die Gesellschaft zu integrieren. Sie seien meist Drogendealer oder üben ähnliche kriminelle Berufe aus, mit denen sie ihr Geld verdienen (Vgl. Dietrich/Seeliger 2012:24).

Mit den Jahren aber hat Gangsta-Rap seinen Status als Randerscheinung der deutschen Musikindustrie abgelegt. Er wird immer präsenter, insbesondere in Politik und Gesellschaft, und ist lange nicht mehr so schlecht angesehen, wie er früher einmal war: Gangsta-Rapper Bushido nimmt mit Schlagerstar Karel Gott ein Feature auf; der Sohn des bayrischen Innenministers versucht sich unter dem Namen „Jackpot“ im deutschen Gangsta-Rap; Rapper Massiv tritt als Kulturbotschafter im Gaza-Streifen auf und das mit Unterstützung des Goethe-Instituts (Vgl. ebd. 2012: 21).

Die Entwicklung des Gangsta-Rap in Deutschland lässt sich laut Güngör/Loh (2017) in drei Phasen unterteilen:

1. Inkubationsphase (1980-2000): Der kalifornische Gangsta-Rap macht die Streetgang und die Figur des Hustlers zu sozialen und ökonomischen Identifikationsgestalten. Es kommt aber – anders als in Frankreich – nur vereinzelt zu einer künstlerischen Umsetzung dieses neuen Lebensgefühls.
2. Phase der Gestaltung und Kommerzialisierung (2001- 2008): Künstler wie Charnell & TMO (Da Fource) und Azad geben Gangsta-Rap in Deutschland die ersten ästhetischen Konturen. Mit dem kommerziellen Erfolg von Bushido erhält das Genre eine charismatische Symbolfigur, die zum Prototyp des deutschen Gangsta-Rappers avanciert. Berlin und Frankfurt etablieren sich als Hochburgen des Straßen-Rap.
3. Phase des Umbruchs, der Regionalisierung und der künstlerischen Erneuerung (2009-2017): Während das Feuilleton das Ende von deutschem Gangsta-Rap verkündet, taucht eine neue Generation von Straßen-Rappern auf, die das Genre vielfältiger macht und künstlerisch so verändert, dass sich ab 2015 bürgerliche Medien immer öfter auch mit der ästhetischen Qualität von Gangsta-Rap auseinander setzen.

(Güngör/Loh 2017: 214)

Die Rapper, die zwischen 1980 und 1990 geboren sind und damit eine neue und die aktuelle Generation der Rapper darstellen, gehören nun nicht mehr der dritten Einwandergeneration in Deutschland an; oft sind es sie selbst, die in den 1980er Jahren als Geflüchtete nach Deutschland kommen und dort ihre neue Heimat finden. Beispielsweise die Rapper KC Rebell, Xatar, Kurdo und SSIO kamen als Flüchtlingskinder mit ihren Eltern nach Deutschland. Andere Rapper, wie Manuellsen oder PA Sports sind in Deutschland geborene Kinder ihrer geflüchteten Eltern. Die Eltern der genannten und vieler anderer bekannter Rapper wanderten in den 1980er Jahren aus dem Nahen Osten nach Deutschland ein. Keiner der genannten Rapper hatte daher Deutsch als Muttersprache (Vgl. Güngör/Loh 2017: 217).

Rap und insbesondere Gangsta-Rap findet dennoch auch heute nicht nur Akzeptanz und Bewunderung. Viele Leute, besonders die aus der „Elite“ der Gesellschaft, die nicht selten in den Rap-Texten niedergemacht wird, fühlen sich von solchen Texten angegriffen und verachten diese und ihre Interpreten. Aber nicht nur weil sie selbst angegriffen werden, auch durch Homophobie, Frauenfeindlichkeit, Gewaltverherrlichung und Rassismus in den Texten treffen solche Tracks oft auf Ablehnung (Vgl. Straub 2012: 11). Darüber hinaus muss verdeutlicht werden, dass es nicht heißt, dass man prinzipiell die Meinung der Rapper vertritt, nur weil man diese oder ihre Tracks gut findet.

Auch wenn die Tracks das Leben in einer der unteren Schichten der Bevölkerung beschreiben und sich dadurch die Menschen, insbesondere Jugendliche, die sich in der selben beschriebenen Lebenssituation befinden, damit identifizieren und die Texte anerkennen, so sind diese Menschen nicht die einzigen: auch Jugendliche in Deutschland aus Mittel- und Oberschicht versuchen sich in die Lage zu versetzen. Nicht nur das – sie sind fasziniert von dem Leben in sozialen Brennpunkten und dem damit verbundenen Alltag sowie von den kulturellen Merkmalen dieser Unterschicht, der in den Tracks repräsentiert wird, sehen diese als begehrenswert und versuchen genau das nachzuahmen (Corrieri 2013: 55):

Obwohl ihr Lebensumfeld keine authentischen Bezüge zum, von Marginalisierung geprägten HipHop-Kontext aufwies, bot die offene Kultur auch ihnen neue Wege, Kritik zu äußern, Rebellion zu üben und einen Ausbruch aus dem als einengend empfundenen Alltag zu vollziehen, die ihnen zuvor nicht zur Verfügung standen.

(Corrieri 2013: 28)

Durch dieses Phänomen sieht die Mittel- und Oberschicht der Bevölkerung in einem genau diesem einen Punkt zu der Unterschicht herauf (Vgl. Corrieri 2013: 55).

Die Anhänger und Zuhörer des Gangsta-Raps sind folglich solche, die sich durch ähnliche prekäre Lebensverhältnisse mit dem Gesagten identifizieren können und dies tun, weil sie „darin ihre eigene[n] […] Einstellungs- und Orientierungsmuster hinsichtlich Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen artikuliert und repräsentiert sehen, mit denen sie konform gehen oder zumindest sympathisieren“ (Lütten/Seeliger 2017: 97). Sie müssen sich dabei noch nicht einmal in einer ähnlichen Lebenssituation befinden – sie konsumieren diese Musik, weil sie sich mit den geäußerten Einstellungen zu bestimmten Themen identifizieren können.

[...]

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Deutschrap als Jugendsprache im Wandel der Zeit. Ein Vergleich von "Azad" und "Capital Bra"
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
83
Katalognummer
V901918
ISBN (eBook)
9783346241894
ISBN (Buch)
9783346241900
Sprache
Deutsch
Schlagworte
deutschrap, jugendsprache, wandel, zeit, vergleich, azad, capital
Arbeit zitieren
Lea Sustersic (Autor:in), 2020, Deutschrap als Jugendsprache im Wandel der Zeit. Ein Vergleich von "Azad" und "Capital Bra", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/901918

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