Soziale Arbeit mit Fußballfans. Gruppendynamische Prozesse im Stadion


Bachelorarbeit

46 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Theoretische Aspekte
1.1 Begriffserklärungen
1.1.1 Soziale Arbeit
1.1.2 Gruppe
1.1.3 Gruppendynamik
1.1.3.1 Rollen
1.1.3.2 A utorität
1.1.4 Ultras und Hooligans
1.2 Faszination Fu ß ball
1.2.1 Fußball als Volkssport
1.3 Soziale Arbeit mit Fu ß ballfans
1. 3.1 Fanprojekte

2. Gruppendynamik in der Fankurve
2.1 Fanverhalten der Ultras
2.1.1 Rituale
2.1.1.1 Choreografien
2.1.1.2 Pyrotechnik
2.1.2 Diskriminierung und Antidiskriminierung
2.1.3 Interaktionen
2.1.4 Gewaltsame Auseinandersetzungen
2.1.4.1 Ultras und die Polizei
2.2 Zusammenhang zwischen Fanprojekten und Gruppenp ä dagogik

3. Diskussion

Ausblick

Quellenverzeichnis

Einleitung

Mit sieben Jahren sah ich mein erstes Fußballspiel live im Stadion. Zusammen mit meinem Vater war ich im Ostseestadion beim Spiel des dort ansässigen F.C. Hansa Rostock gegen 1860 München. Es waren für mich überwältigende Massen, die in das Stadion strömten. Ich verstand noch nicht richtig die Wichtigkeit dieses Spiels, denn es ging um den Klassenerhalt der Hanseaten. Mit dem 3:0 Sieg wurde ein weiteres Jahr Bundesliga besiegelt, was zu ausgelassenem Jubel führte. Ich genoss die Gratiscola, denn die Spieler bezahlten im Siegesrausch alle Getränke der Zuschauer nach Spielabpfiff. Den Schal, den ich vor Spielbeginn bekommen hatte, hielt ich fest umklammert. Die Stimmung, die zusammen feiernden Menschen, das begeisterte mich und die Stunden und Tage nach dem Spiel sprach ich von nichts anderem. Bis heute lässt mich dieser Verein und dieser Sport nicht mehr los, und das aufgrund eines Ereignisses vor 15 Jahren.

Als Jugendlicher war ich dann des Öfteren in der sogenannten „Fankurve“ zu finden. Die Choreografien und die lautstarke Unterstützung der Menschen dort hatte ich schon lange bewundert und deshalb war ich stolz, nun ein Teil von ihnen zu sein. Ich machte vor, während und nach den Spielen in dieser Gruppe sowohl positive als auch negative Erfahrungen.

Die Ereignisse rund um ein Fußballspiel sind deutschlandweit ein Thema. Im Rahmen des „Revierderbys“ Borussia Dortmund gegen Schalke 04 kam es zu Randalen, die von der Polizei nur mit Mühe unterbunden werden konnte. Auch nach außen getragene Botschaften, wie etwa das Hochhalten von Plakaten, werden in der Öffentlichkeit diskutiert.

Die Motivation, mich diesem Thema zu widmen, ist also vielschichtig zu begründen. Eigens gemachte Erfahrungen sowie Leidenschaft für den Sport selbst stellen ein gewisses Grundinteresse dar. Dazu kommt die Aktualität des Themas aufgrund der großen Popularität des Sports.

Mehrere Millionen Menschen verfolgen Fußball vor dem Fernseher oder im Stadion selbst. Da, wo viele Menschen aus unterschiedlichen Schichten aufeinandertreffen, gibt es oftmals ein gewisses Konflikt – und Gewaltpotenzial. Gerade in den Fankurven spielt eine vielfältig geschichtete Gruppendynamik eine Rolle, die Einzelpersonen individuell beeinflusst. Hier setzt die Soziale Arbeit an. Sogenannte Fanbeauftragte kommunizieren mit den Ansprechpersonen der Fanszene. Dabei gibt es viele Dinge, die besprochen werden und relevant sind. Dazu gehören Choreografien und deren Umsetzung, die Organisation von Auswärtsfahrten, aber oftmals auch die Einhaltung eines Verhaltenskodex‘, der bestimmten Normen und Werten zugrunde liegt. Auch die Planung und Durchführung von Fanprojekten kann Einfluss auf die Gruppendynamik der Fanszene haben. Ein*e Sozialarbeiter*in, der mit Fußballfans arbeitet, ist also sowohl für Prävention als auch für das spontane Agieren und Reagieren auf aktuelle Ereignisse zuständig. Darüber hinaus sollte ein Gefühl für die Gruppe und deren Dynamik entwickelt werden. Hier setzt die Hauptfrage meiner Bachelorarbeit an. Unter dem Titel „Soziale Arbeit mit Fußballfans unter Berücksichtigung gruppendynamischer Prozesse im Stadion“ werde ich untersuchen, inwiefern und auf welche Art und Weise Fanprojekte methodisch Bezug auf Gruppendynamik nehmen. Zunächst wird dabei auf theoretische Aspekte eingegangen werden. In diesem Zusammenhang werden die Begriffe „Soziale Arbeit“, „Gruppe“ sowie „Gruppendynamik“ geklärt und differenziert. Es geht zuvörderst darum darzustellen, welche Aspekte der vielen Definitionen, die beispielsweise für die Soziale Arbeit vorliegen, für meine Arbeit relevant sind. Darüber hinaus werden die fußballspezifischen Begriffe „Ultras“ und „Hooligans“ dargelegt. Es folgen Ausführungen zu Gruppen, die sich unter anderem auf die Macht der Gruppe, Rollen und Führungsstil beziehen. Dabei wird immer berücksichtigt, welche Facetten in Bezug auf die untersuchte Frage Priorität genießen. Der nächste Abschnitt wird sich der „Faszination Fußball“ widmen. Der Ablauf des Spiels wird erörtert, sowohl aus Sicht des Zuschauers als auch aus Spielersicht. Zudem wird die Geschichte des Fußballs kurz umrissen und erklärt, wieso gerade Fußball viele Menschen so in seinen Bann zieht. Die Macht und die „Wucht“, die dieser Sport mit sich bringt, soll herausgestellt werden, um ein Verständnis und ein Gefühl für die Gruppendynamik innerhalb der Fanszene aufzubauen. Im weiteren Verlauf wird die Soziale Arbeit mit Fußballfans näher beleuchtet. Dabei werden insbesondere Fanprojekte Gegenstand der Untersuchung sein. Außerdem wird herausgearbeitet, wo möglicherweise Grenzen der Sozialen Arbeit mit Fußballfans liegen.

Im zweiten Teil der Arbeit ist vor allem die Gruppendynamik in der Fankurve von Bedeutung. Das Fanverhalten in der „Kurve“ wird untersucht. Dazu gehören Rituale wie beispielsweise Choreografien oder Fangesänge. Darüber hinaus wird aber auch auf Rassismus / Diskriminierung, Interaktionen und Gewalt im Stadion eingegangen. Auch das Verhältnis der Ultras mit der Polizei wird thematisiert. Anschließend wird ein Zusammenhang zwischen Fanprojekten und Gruppenpädagogik bzw. gruppenbezogenen Ansätzen hergestellt. Hierzu werde ich mit Blick auf die Praxis verschiedene Fanprojekte mit einbeziehen. Zum Schluss werde ich mit Blick auf meine vorherigen Ausführungen und Erkenntnisse die Frage beantworten, inwiefern und auf welche Art und Weise Fanprojekte methodisch Bezug auf Gruppendynamik nehmen.

Wissenschaftlich ist diese Frage durchaus von Relevanz. Gerade aufgrund der Popularität des Fußballs steht dieser täglich im Blickpunkt. Sowohl die Ereignisse auf dem Feld, aber auch die auf den Rängen und außerhalb des Stadions werden medial breit diskutiert. Steuergelder werden auch von Menschen, die es nicht mit dem Fußball halten, genutzt um teilweise hohes Polizeiaufkommen im Rahmen eines Spiels zu gewährleisten. Adressaten dieses Aufkommens sind jene Fans, die in der Fankurve stehen und oftmals – berechtigt oder nicht- als „potenziell gewalttätig“ eingestuft werden. Inwiefern und auf welche Art und Weise also mit Fanprojekten – die ja auch präventiven Nutzen haben- methodisch Bezug auf Gruppendynamik genommen wird, ist also für die Wissenschaft und auch für die Öffentlichkeit an sich von großer Relevanz.

1. Theoretische Aspekte

1.1 Begriffserklärungen

1.1.1 Soziale Arbeit

Die Begriffe der sozialen Arbeit und einer Methode bilden die Basis der zu untersuchenden Frage. Deshalb werden sie im Folgenden kurz eingeordnet.

Zur Erklärung der „sozialen Arbeit“ wird folgende Definition herangezogen: „Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte 1 Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung 2 von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt 3 bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit 4 , der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen 5 . Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein 6.“ ( DBSH 2016). Sie wurde in Zusammenarbeit mit den 116 Mitgliedsstaaten herausgearbeitet und vereint daher viele verschiedene Ansätze in sich. Insbesondere der sechste Punkt der Definition ist für diese Arbeit hervorzuheben. Er beschreibt das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“, dem ein Sozialarbeiter in der täglichen Arbeit mit Fußballfans nachkommen sollte. Denn trotz aller möglicher Interventionen, die der Sozialarbeiter vornehmen kann, sind die Fans selbst für sich verantwortlich. Der sozialarbeiterische Erfolg hängt also zum Teil von dem einzelnen Fan ab, aber auch der Qualität der Arbeit. Strukturqualität beschreibt vor allem die Rahmenbedingungen. Je besser diese in Bezug auf das zu erreichende Ziel sind, desto besser ist die Chance, dieses zu erreichen. Darüber hinaus ist die Prozessqualität ausschlaggebend für Erfolg oder Misserfolg. Das bezieht sich auf die Handlungsschritte – und formen der sozialpädagogischen Fachkraft, beispielsweise auch auf die angewandten Methoden (vgl. Seithe 2012, S. 88).

Eine Methode bezeichnet nach Galuske ein Handeln mit speziellen Hilfsmitteln. Hier ist insbesondere die Technik zu nennen, die unter der Methode einzuordnen ist. Die Methode hingegen ist meist Teil eines größeren „Konzepts“. Ein Konzept steht dabei für die Gesamtheit eines Projekts, bezieht sich also sowohl auf die Projektplanung als auch dessen Verwirklichung (vgl. Galuske 2011, S.26 ff.).

1.1.2 Gruppe

Das Wort „Gruppe“ wird im allgemeinen Sprachgebrauch in vielen verschiedenen Situationen und Kontexten verwendet. So ist beispielsweise eine Klasse eine Gruppe. Innerhalb der Klasse kommt es im Zuge des Unterrichts gelegentlich dazu, dass der Lehrer die Schüler für eine Gruppenarbeit aufteilt, sodass „Kleingruppen“ entstehen. Genauso ist ein Abiturjahrgang von 70 Schülern, der gemeinsam den Abschluss feiert, als Gruppe zu bezeichnen. Dasselbe gilt für 2000 Leute, die in einem Fußballstadion von einer Tribüne aus ihre Mannschaft anfeuern. Die Spannweite des Begriffs ist also sehr groß und deshalb abzuklären.

Unterschieden werden Gruppen normalerweise unter anderem aufgrund ihrer Größe. Dazu gehören Dyaden (2 Personen), Kleinstgruppen (2 – 6 Personen), Gruppen ( 3 – 30 Personen) sowie Großgruppen mit 25 Personen oder mehr (vgl. Sader 1994, S.39). König führt dazu aus, dass die Gruppengröße und ihre Auswirkungen auf die kommunikativen Bedingungen der Gruppe in direktem Zusammenhang mit anderen Gruppenmerkmalen wie Aufgabe, Dauer und Frequenz steht (vgl. König 2018, S. 23)

Ein anderer Faktor, der zur Differenzierung von Gruppen herangezogen werden kann, ist die zeitliche Komponente. Von einmalig zusammentreffenden Gruppen über regelmäßig agierende (zum Beispiel ein Fußballteam, das zwei Mal die Woche trainiert) bis hin zu nahezu täglich waltenden Gruppen ( Arbeitsgruppen) ist auch hier eine große Spannweite festzustellen (vgl. Sader 1994, S.40).

„Gruppe“ ist ein abstrakter Begriff, der durch viele verschiedene Sichtweisen und durch unterschiedlichste Bedingungen differenziert werden kann. Er dient auch dazu, eine Mehrzahl von Menschen in ein System einzuordnen und so eine gewisse Struktur herzustellen, welche die Darstellung erleichtert. Daher ist es üblich, eben verschiedene Definitionen dafür vorzufinden, die je nach Kontext angepasst werden können. Bezogen auf die Sozialpsychologie erleben Mitglieder der Gruppe ein Zusammengehörigkeitsgefühl und definieren sich auch darüber. Innerhalb der Gruppe gibt es Normen und Werte, die von allen gleichermaßen geteilt werden (ebenda, S. 38 f.). Hierbei ist es nicht von Bedeutung, ob das Individuum möglicherweise andere Normen und Werte für sich vertritt. Nach außen hin und auch innerhalb der Gruppe werden lediglich die vorher festgelegten oder auch unausgesprochen gelebten „Regeln“ gelebt. Nach Sader ist die Verfolgung gemeinsame Ziele ebenso ein Merkmal für Gruppen beziehungsweise deren Mitglieder. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und spricht von „Identifikation“ mit einer gemeinsamen Bezugsperson oder ähnlichem (ebenda, S. 39). König hebt ein gemeinsames Ziel als Merkmal einer Gruppe ebenso hervor und führt aus, dass dazu zudem jene Aufgaben gehören, durch die das Gruppenziel realisiert werden kann ( vgl. König 2018, S.24). Auch Hofstätter sieht die Erreichung einer gemeinsamen Ziels als essenzielles Merkmal einer Gruppe. Er gibt darüber hinaus auch eine bestehende Rollenstruktur als weiteren Faktor an. Demnach ist eine Ansammlung von Menschen, die nicht zusammen interagieren oder einem gemeinsamen Rollensystem folgen, eine Menge. Eben jene Rollstruktur sieht er als essenzielle Bedingung für den Aufbau einer Gruppe (vgl. Hofstätter, zitiert nach Wellhöfer 2007, S.6).

1.1.3 Gruppendynamik

Der Begriff der „Gruppendynamik“ ist historisch gesehen auf zwei Ausgangspunkte zurückzuführen. Freud hat schnell erkannt, dass es einen Zusammenhang zwischen Individual- und Gruppenpsychologie gibt. Dazu führt er aus, dass im Denken des Individuums andere Personen eine wichtige Rolle einnehmen, da über sie als Konkurrent oder Vorbild nachgedacht wird. Weil dies schon über gewöhnliche Individualpsychologie hinausgeht, ist eine Verbindung zur Gruppenpsychologie nicht abzustreiten (Freud, Zit. nach Brocher 2015, S.33). Darüber hinaus untersuchte Kurt Lewin zwischen 1930 und 1940 das Lehrerverhalten – und Schülerverhalten. Er kam zu dem Schluss, dass das Verhalten der Schüler abhängig vom jeweiligen Führungsstil des Lehrers sei. Auf diese Führungsstile wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch eingegangen werden.

Nach Brocher ist die Dynamik innerhalb einer Gruppe auf zwei Ebenen zu betrachten. Zum einen ist sie im Zuge des Verhaltens und der Interaktionen zwischen den Mitgliedern der Gruppe klar erkennbar. Darüber hinaus beeinflussen aber unausgesprochene, aber dennoch vorhandene Erwartungen oder Befürchtungen das Denken und Verhalten der Gruppenmitglieder. Die Bedeutung der zweiten Ebene ist aufgrund ihrer Komplexität ungleich höher.

Ihren Ursprung hat diese Ebene in der Sozialisation, auf die in der Regel die Gruppe der Familie den größten Einfluss hatte. Die individuell gemachten und erlebten Erfahrungen haben erhebliche Auswirkungen auf die Dynamik innerhalb einer Gruppe. Insbesondere bei Neueintritt nimmt das Individuum unbewusst das früher Erlebte als Maßstab, wodurch unvorhersehbare Dynamiken entstehen (vgl. Brocher 2015, S.38 ff.).

Sowohl König als auch Rechtien schreiben dem Begriff „Gruppendynamik drei unterschiedliche Bedeutungen zu. Er diene „als Bezeichnung für die in jeder Gruppe ablaufenden Prozesse, zum zweiten als die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Prozessen und schließlich als Bezeichnung für das Verfahren, mit deren Hilfe Gruppenprozesse beeinflusst werden sollen ( Rechtien 1999, S. 13f.). Dorst wird hier etwas spezifischer und führt aus: „Gruppendynamik beschäftigt sich damit, das Miteinander von Menschen als einen dynamischen Prozess zu analysieren, zu beschreiben, zu begreifen und zu verändern. Diese Prozesse durchlaufen regelhaft bestimmte Phasen, bilden Strukturmuster und funktionale Rollen aus. Die gruppendynamischen Phänomene sind jedoch aufgrund der Komplexität der menschlichen Interaktion nicht eindeutig vorhersagbar und in einfachen Modellen abbildbar (Dorst, zit. nach Brocher 2015, S.14 f.). Diese Sichtweise auf den Begriff der Gruppendynamik wird im weiteren Verlauf der Arbeit als Grundlage verwendet werden, da sie für die bearbeitete Thematik als durchaus passend erscheint.

1.1.3.1 Rollen

Innerhalb der Gruppe wird in der Regel zwischen verschiedenen Rollen differenziert. Die Gruppendynamik bezieht sich beim Rollenkonzept dabei auf die Ansätze der Sozialwissenschaften. Am weitesten verbreitet ist die Theatermetapher. Sie geht davon aus, dass die Menschen auf einer Bühne der Gesellschaft stehen, auf der alle unter Beobachtung der Mitspieler- und menschen einen Text und ein Verhalten zur Schau stellen, der beziehungsweise das zur jeweiligen Rolle passt (vgl. König/ Schattenhofer 2018, S. 47). Von Bedeutung für den Rollenspieler sind insbesondere die Erwartungen mit denen er von Seiten der Mitmenschen konfrontiert wird. Wellhöfer führt dazu aus, dass diese Erwartungen einen Rollendruck bei dem Ausführenden verursacht. In Bezug auf die Rollentheorie spricht man auch von „Sanktion“. Eine positive Sanktion kann zum Beispiel ein Lob sein, während negative unter anderem mit Tadel oder Bestrafung einhergehen. Dabei ist noch zu differenzieren, ob es tatsächlich eine beispielsweise schriftlich festgehaltene Konsequenz gibt oder „lediglich“ eine negative zwischenmenschliche Reaktion die Folge ist (vgl. Wellhöfer 2007, S. 22).

Im Sinne der Gruppendynamik gehen König und Schattenhofer davon aus, dass eine Rolle einen bestimmten Zuschnitt inne hat, also dass sozusagen eine „Stellenbeschreibung“ mit Aufgaben und Erwartungen vorhanden ist, die nur bedingt mit Individualität bestückt ist (vgl. König / Schattenhofer 2018, S.47). Nach Wellhöfer ist der Gegenbegriff der Rolle das „Selbst“. Dieses ist eher für eine individuelle Interpretation der jeweiligen Rolle zuständig (vgl. Wellhöfer 2007, S.21). Ausgehend von der Theatermetapher ist es ebenfalls so, dass die Rollen zwar jeweils Erwartungen – des Regisseurs und des Publikums – unterliegen, die Akteure innerhalb dieser aber ihre individuelle Note mit einfließen lassen. Bezogen auf Fußball sind sowohl auf als auch neben dem Platz verschiedene Rolleninterpretationen zu beobachten. Gibt es beispielsweise in einem taktischen System eine Position im zentralen Mittelfeld, so interpretiert Spieler A die Rolle möglicherweise defensiv und ist auf Torsicherung bedacht, während Spieler B eher offensiv denkt und sich öfter mit in den Angriff einschaltet. In der Fankurve kann der „Capo“ sowohl sehr autoritär als auch demokratisch auftreten.

Position und Rolle hängen nach Wellhöfer miteinander zusammen. In einer Gruppe entstehen graduell verschiedene Rollen, die jeweils einer „Stellenbeschreibung“ unterliegen. Ist dieser „Ort im Gefüge sozialer Beziehungen“ klar zu bestimmen, bezeichnet man ihn als Position (Sader, zit. Nach Wellhöfer 2007, S.19). Davon ausgehend ist eine Rolle dann die Gesamtheit der Erwartungen bezüglich des Inhabers einer Position (ebenda, S.20). Sader kritisiert bezüglich der Rollentheorie, dass es gängige Praxis sei, bestimmte Verhaltensweisen an den Personen und nicht den Rolle festzumachen. Er führt aus, dass dies sowohl das Verhalten der gemeinten Person als auch das eigene zukünftig einschränkend beeinflusse. Vielmehr solle man dieses wirklich nur auf die jeweilige Situation und die jeweiligen Umstände beziehen, um so größeren Spielraum für Veränderung zu ermöglichen (vgl. Sader 1994, S.81).

Es können sich während der Interaktionen auch Rollenkonflikte entwickeln. Diese können unter anderem durch einen nicht ausgewogenen Rollenhaushalt entstehen, das bedeutet man wird mit verschiedensten, möglicherweise nicht zusammenpassenden Rollenerwartungen konfrontiert. Zu differenzieren sind der Intrarollenkonflikt und der Interrollenkonflikt. Ersteres ist nach Stadler und Kern „die Diskrepanz zwischen der Rolle, die eine Person ausübt, den Anforderungen, die diese Rolle an die Person stellt und dem Wertesystem dieser Person“ (Stadler/Kern 2010, S.153). Ein Interrollenkonflikt liegt nach Wellhöfer dann vor, wenn eine Person zwei oder mehrere Positionen inne hat, die in Widerspruch zueinander stehen (vgl. Wellhöfer 2007, S. 20). Als verdeutlichendes Beispiel soll hier wieder der Fußball dienen. Ein Intrarollenkonflikt in einer Fußballmannschaft läge dann vor, wenn der Torhüter, Verteidiger und Mittelfeldspieler unterschiedliche Erwartungen an die Interpretation der Stürmerrolle haben. In der Fankurve wäre dies der Fall, wenn verschiedene Mitglieder der Gruppe voneinander abweichende Vorstellungen hätten, wie der Takt des Gesanges vom Trommler gehalten werden soll. Greifen wir dieses Beispiel noch einmal auf, so läge dann ein Interrollenkonflikt vor, wenn der stets verlässliche Trommler wie immer den Gesang während eines Spiels in der Fankurve im Takt begleiten soll, er aber sein krankes Kind aus dem Kindergarten abholen müsste. Ein anderes Szenario verdeutlicht den Konflikt beim Fußball selbst. Spielt ein Stürmer bei Verein A gegen die gegnerische Mannschaft B und steht der Wechsel des Spielers A zu letzterer für die nächste Saison schon fest, so handelt es sich um einen Interrollenkonflikt. Denn in der Rolle des Stürmers bei Verein A möchte er dieser helfen zu gewinnen, während er in der Rolle des zukünftigen Spielers der Mannschaft B die Fans nicht verärgern möchte, indem er gegen ihr Team gewinnt.

1.1.3.2 Autorität

Innerhalb einer Gruppe bilden sich bestimmte Hierarchien heraus. Als Folge dessen entsteht meist eine Autorität, Führung oder Leitung in der Gruppe. Häufig werden diese Begriffe als Synonyme verwendet, obwohl sie unterschiedliche Bedeutungen haben und deshalb zu differenzieren sind. Autorität wird im alltäglichen Sprachgebrauch sowohl für Institutionen als auch für Einzelpersonen verwendet. Ersteres ist dabei durchaus als problembehaftet anzusehen, da durch die Verknüpfung des Begriffs mit beispielsweise dem Staat eine politische Note nicht abzustreiten ist. Aber auch die personalisierte Autorität ist kritisch zu hinterfragen. Nach König entsteht Autorität in einer Beziehung. Sie wird dort mit Blick auf selbst gelebte Normen und Werte derjenigen Person zugeschrieben, die nach Urteil des / der Mitglieds / Mitglieder am ehesten zur Verkörperung befähigt ist. Auch aufgrund dessen ist Autorität kein Zwang, da sie meist erst in einer Beziehung im Einverständnis der Beteiligten geschaffen wird. Die Auswahl der Autorität geschieht nach König allerdings nicht aus purer Selbstlosigkeit, sondern aufgrund des „Wunsches nach Unterordnung“. Die Autorität ist also etwas kontinuierliches, das die Normen und Werte der Untergeordneten vertritt, für diese einsteht und sie auch in schwierigen Zeiten unterstützt (vgl. König 2016, S. 62 ff.).

Der Begriff der „Führung“ ist noch etwas breiter gefächert und wird in vielen verschiedenen Zusammenhängen verwendet. Insbesondere Kriterien wie Freiwilligkeit der Unterordnung oder Ausmaß des Gefälles zwischen Führer und Geführtem sind keineswegs festgelegt, sondern je nach Situation und Institution sehr unterschiedlich (vgl. König 2016, S.54 f.). Der durch unsere Geschichte negativ besetzte Begriff des „Führers“ verursacht bei den Menschen schnell das Bild einer sehr autoritären, ja vielleicht sogar diktatorischen Person. Dabei kann die Effizienz einer Führungsperson durchaus im Einklang mit als kommunikativ wertvoll angesehen Werten stehen, beispielsweise Empathie und emotionaler Intelligenz (vgl. Shimony / Mikulincer 2016, S.77). Gegenteilige Verhaltensweisen, zum Beispiel Unsensibilität oder druckvolle Machtausübung können allerdings negative Folgen haben. Die Geführten rebellieren hier gegen den Führer, stellen seine Entscheidungen infrage und verbünden sich möglicherweise – zuerst friedlich- gegen ihn ( vgl. Shimony / Mikulincer 2016, S.78). Im Sinne der Gruppenpädagogik wird zwischen Führung und Leitung unterschieden. Erstere kann hier Jede*r übernehmen. Maßgeblich ist die Koordination der Einzelaktivitäten, die von der jeweiligen Person ausgeführt wird. Die Leitung dagegen ist formal einzusetzen und meist an eine bestimmte Person gebunden (vgl. Wellhöfer 1993, S. 83). Wellhöfer fasst den Führer- bzw. Leitungsbegriff als „Gruppenmitglied, das innerhalb der Gruppe in der jeweiligen Situation die zielorientierten Aktivitäten der Gruppenmitglieder am meisten bestimmt“ (ebenda, S.83) zusammen. Bezogen auf die Gruppe der „Ultras“ in der Fankurve würde dies bedeuten, dass die Führungs- bzw. Leitungsposition situationsbedingt wechselt und jederzeit von einer anderen Person eingenommen werden kann. Wie sich in meinen Ausführungen noch zeigen wird, ist das nicht der Fall.

Grundsätzlich wird zwischen autokratischem, demokratischem und dem laissez – faire Führungsstil unterschieden. Als Paradebeispiel für ein Experiment dieser Stile gilt das Schülerexperiment, das Lewin 1939 analysierte und hier kurz angerissen werden soll. Über 21 Wochen trafen sich Schüler, um zu basteln. Sie wurden in vier Fünfergruppen aufgeteilt. Die Aufsicht übernahm ein (geschulter) Erwachsener, alle sieben Wochen kamen sowohl ein neuer Leiter als auch Führungsstil. Der autokratische Stil wurde durch eine besondere Strenge gekennzeichnet. Neben dem typischen Bestrafungs- und Belohnungssystem in Form von Lob und Tadel wurde auch keine Kritik zugelassen, Anweisungen wurden im Befehlston erteilt. Der demokratische Führungsstil kam insbesondere durch eine angebrachte Mithilfe zum richtigen Zeitpunkt, Motivation zur Selbstständigkeit und fairen Koordination der Gesamtsituation zum Tragen. Der Laissez- faire- Stil zielte auf vollkommene Selbstständigkeit ab, die Schüler arbeiteten alleine, außer wenn es zu beantwortende Fragen gab. In diesem Experiment zeigte sich aufgrund von Beobachtungen und Befragungen der Schüler, dass bei Ausübung des demokratischen Stils das beste Gruppenklima herrschte. Der autokratische Stil führte vermehrt zu beispielsweise Aggressionen, während das Laissez- faire- Modell als „zu lasch“ eingestuft wurde, das heißt die Ergebnisse der Aufgaben waren nicht so gut (Sader 1994, S. 273 f.). Wellhöfer fasste die Erkenntnisse grob zusammen. Das Erleben und Verhalten der Kinder ist demnach abhängig von dem jeweiligen Führungsstil. Letzterer kann von jeder Person durchgeführt werden und ist nicht persönlichkeitsabhängig. Außerdem bestimmt der zuletzt erlebte Führungsstil temporär das Kindesverhalten gegenüber einem neuen Stil (vgl. Wellhöfer 1993, S.86). In späteren Untersuchungen zeigte sich allerdings, dass situationsbedingt auch andere Ergebnisse eintreffen können. Meade und Whittacker führten das Experiment in Indien durch und kamen zu dem Ergebnis, dass der autoritäre Stil am besten funktionierte. Hieraus lässt sich ableiten, dass sehr viele verschiedene Variablen, darauf bezogen beispielsweise der kulturelle Hintergrund eine Rolle spielen.

Eine wichtige Rolle im gruppendynamischen Kontext spielt Macht. Nach König ist sie ein Merkmal jeder sozialen Beziehung. Die Herausbildung bestimmter Machtstrukturen scheint für das Erreichen der jeweils gesteckten Gruppenziele in der Regel unabdingbar. Dabei sollte ersteres aber nicht in den Vordergrund rücken, da dies mögliche Ressourcen überschattet.

Die Herausbildung einerseits von Hierarchie, andererseits von Normen stellen dar, wie Machtverteilung von statten geht ( vgl. König 2018, S. 37). Hierarchien können durch festgelegte Aufgaben – und Rollenverteilung entstehen, beispielsweise durch Wahlen oder die Ausführung bestimmter Posten. Wird als Beispiel wieder eine Fußballmannschaft angeführt, so ist auch hier eine Rangordnung innerhalb des Teams die Regel. Als ausschlaggebende Faktoren gelten sportliche Leistung, sicheres und sympathisches Auftreten und ferner Dinge wie Fanansehen und Identifikation mit dem Verein. Formell werden sogenannte „Führungsspieler“ durch den Trainer in den Mannschaftrat berufen und aus diesem der Kapitän ernannt. In der Fankurve „verdient“ man sich einen hohen „Rang“ in der Gruppe eher durch Ansehen. Man muss über mehrere Jahre durchweg dabei sein und dann noch für Dinge stehen bzw. ausüben, die in der Fankurve, aber auch außerhalb des Stadions als wünschens- und lobenswert gelten.

Macht basiert dabei meist auf mehreren grundlegenden Faktoren, von denen hier auf jene, die für die Thematik am wichtigsten erscheinen, kurz eingegangen wird.

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Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Soziale Arbeit mit Fußballfans. Gruppendynamische Prozesse im Stadion
Autor
Seiten
46
Katalognummer
V899993
ISBN (eBook)
9783346210715
ISBN (Buch)
9783346210722
Sprache
Deutsch
Schlagworte
arbeit, fußballfans, gruppendynamische, prozesse, soziale, stadion, Fußball
Arbeit zitieren
Lukas Müller (Autor:in), Soziale Arbeit mit Fußballfans. Gruppendynamische Prozesse im Stadion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/899993

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