Der Antichrist und das Mitleid. Über Nietzsches Rezeption von Schopenhauers Preisschrift "Über die Grundlage der Moral" in seinem "Antichrist"


Hausarbeit, 2020

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Schopenhauer Über die Grundlage der Moral
2.1 Das Werk
2.2 Kants Ethik als theologische Explikation und Petitiio Principii
2.3 Das Mitleid als ethisches Urphänomen

3 Friedrich Nietzsches Der Antichrist
3.1 Das Werk
3.2 Die kantische Philosophie als »Schleichweg zum alten Ideal«
3.3 Das Mitleiden als Konservator und Multiplikator des Leidens

4 Fazit

5 Literaturverzeichnis Schopenhauer

Siglenverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Der vorliegenden Arbeit liegt die Frage nach Nietzsches Rezeption von Schopenhauers Preisschrift Über die Grundlage der Moral (1840) in seinen späten Schriften im Allgemeinen und in seinem Werk Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (1894) im Besonderen zugrunde. Das Ziel ist hierbei, Nietzsches Ambivalenz zu dieser Schrift herauszuarbeiten: Einerseits die positive Adaption der Kritik an der moralphilosophischen Tradition, andererseits die kategorische Ablehnung der von Schopenhauer selbst in Aussicht gestellten Begründung der Moral durch das Mitleid.

Im ersten Teil dieser Arbeit wird eine Skizze der argumentativen Strategie, die Schopenhauer in seiner Kritik der kantischen Ethik verfolgt, sowie eine Rekonstruktion seiner Bestimmung des Mitleids als ethisches Urphänomen dargelegt. Im zweiten Teil werden diese Ausführungen zu derjenigen Position Nietzsches, die er in seinem 1888 verfassten Werk Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (1894) vertritt, in ein deutliches Rezeptionsverhältnis gestellt.

2 Schopenhauer Über die Grundlage der Moral

2.1 Das Werk

Schopenhauer verfasst mit Über die Grundlage der Moral (1840) eine – freilich von der norwegischen Sozietät aufgrund ihres polemogenen und metaphysischen Gehalts abgelehnte – Preisschrift, deren Gegenstand die Frage nach dem nicht-metaphysisch konstatierbarem Fundament der Ethik ist. Insofern ist es die programmatische Absicht dieser Schrift, den bisherigen Versuchen, die Ethik zu begründen, eine radikale Absage zu erteilen. Hierbei führt er mystische und eudaimonistische Ansätze sowie die meisten Handlungen von vermeintlich moralischem Wert sukzessive auf den Egoismus des handelnden Subjekts zurück. Er versucht durch die Einteilung menschlicher Handlungsmotive in drei Grundtriebfedern das Mitleid, d.i. »ganz unmittelbare, ja instinktartige Teilnahme am fremden Leiden«1, als einzige moralische Triebfeder und »ethisches Urphänomen«2 empirisch nachzuweisen. Dieses Mitleid kann sich entweder negativ als bloße Hemmung »antimoralischer Potenzen«3 frei nach dem Grundsatz des »neminem laede«4 äußern und insofern wird es Gerechtigkeit genannt. Es kann sich andererseits aber auch in höherem Maße als positiv-aktiver Reiz fremdes Leiden zu bekämpfen, der zugleich »lautere[r] Ursprung der Menschenliebe«5 ist, äußern.

2.2 Kants Ethik als theologische Explikation und Petitiio Principii

Schopenhauers Kritik an der kantischen Ethik läuft zweiseitig. Einerseits versucht er ihre argumentationslogischen Unzulänglichkeiten zu exponieren und ihnen gleichermaßen eine theologische Abkunft zu unterstellen, andererseits verwirft er radikal die von Kant zur Begründung seiner Ethik angewandte Methode. Der erste Aspekt bezieht sich hierbei wesentlich auf die imperative Form der kantischen Ethik, die sich in Kants Begriff von Ethik als Wissenschaft von den Gesetzen, nach denen der Mensch notwendig handeln soll, bereits andeutet und in Kants Pflichtbegriff kulminiert. Notwendigkeit freilich trägt als Begriff zweierlei Implikationen in sich.

Einerseits wird Notwendigkeit in einer deskriptiv-empirischen Art und Weise ausgesagt und insofern zeichnet sie sich durch die »Unausbleiblichkeit des Erfolgs6 « aus. Diese Unausbleiblichkeit lässt sich jedoch bei keinem derartigen Gesetz menschlicher Handlungen, dasjenige der Motivation7 ausgenommen, konstatieren. Andererseits wird Notwendigkeit aber auch als Imperativ ausgesagt, der weniger empirisch Unausbleibliches deskribiert, als vielmehr objektiv Ausbleibendes appellativ fordert. Da sich empirisch eine solche Notwendigkeit nicht verifizieren lässt, kann sich die kantische Rede von Notwendigkeit einzig auf die letztere Hinsicht beziehen. In diesem Fall jedoch stellt sie Schopenhauer zufolge eine Erschleichung des Beweisgrundes dar, eine Petitio Principii, d.i. eine vorausgesetzte und nicht weiter hinterfragte Prämisse, nämlich die Annahme, es gäbe Pflichten, nach denen der Mensch notwendig handeln muss. Darüber hinaus seien diese Voraussetzungen nicht einmal philosophischer Natur, sondern, durch ihre Nähe zum »Mosaischen Dekalog«8 genuin theologisch.

Neben der Petitio Principii wirft Schopenhauer Kants kategorischen, d.i. unbedingten, Sollenssätzen zudem einen begrifflichen Selbstwiderspruch, eine contradictio in adiecto, vor. Insofern ihm Sollen nämlich als ein »wesentlich relativ[er]«9 Begriff gilt, der, ohne Beziehung zu in Aussicht gestellten Konsequenzen, als »absolutes Sollen«10 inhaltsleer und widersinnig bleibt. Das unbedingte Sollen tritt in Kants Kritik der praktischen Vernunft stärker hervor, würde dort jedoch, so Schopenhauers Vorwurf, nachträglich und »verschleiert«11 an eine Belohnung, nämlich das »höchste Gut«, geknüpft. An dieser Verknüpfung wird darüber hinaus das Verbleiben im eudaimonistischen bzw. heteronomischen Paradigma deutlich, das Schopenhauer der kantischen Ethik bereits in der Übersicht12 attestiert hatte. Somit erscheinen die »Postulate der praktischen Vernunft«13, respektive die »Moraltheologie«14 als bloße Explikation der impliziten theologischen Voraussetzungen.

Dem Nachweis der Petitio Principii kann nun auch eine Kritik der kantischen Methode, nämlich der Begründung der Ethik durch reine Begriffe a priori, folgen. Der von Kant verfolgte Ansatz sei hierbei identisch mit demjenigen, den er in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften bereits angewandt hatte. Eben dieser Identität der Methode hält Schopenhauer die semantische Differenz der Gegenstände entgegen, die es unmöglich macht, zwei völlig »disparate Dinge [sc. die Naturdinge und die menschlichen Handlungen] unter den Begriff der Apriorität«15 zu subsumieren. Während nämlich die Empirie den »theoretischen Erkenntnisse[n]«16 in jedem Fall »genau entsprechen muß «17, entbehren die Gesetze der kantischen Ethik jeder empirischen Gesetzmäßigkeit. So zeigen sich in summa diese »inhaltsleersten Begriffe«18 und »Spinnengewebe«19 a priori als ein bloß »erkünsteltes Substitut«20 der bereits »wohlbekannte[n] theologische[n] Moral«21.

2.3 Das Mitleid als ethisches Urphänomen

Nachdem die kantische Ethik, respektive ihr oberster Grundsatz, der kategorische Imperativ, auf eine egoistische Vorteilsabsicht des Einzelnen hinsichtlich der vorausgesetzten Reziprozität22 der Handlungen zurückgeführt wurde, unternimmt Schopenhauer selbst den Versuch, die Ethik zu begründen. Hierzu unterteilt er die letzten motivationalen Bestimmungsgründe menschlicher Handlungen in drei Grundtriebfedern.

Die erste ist der Egoismus, der als »Haupt- und Grundtriebfeder im Menschen«23 die »größtmögliche Summe von Wohlsein«24 und Genuss will.

Eine weitere, freilich gleichermaßen antimoralische Triebfeder ist zudem die Bosheit, »die das fremde Wehe will«25. Die semantische Differenz dieser beiden Bestimmungen liegt vornehmlich darin, dass der Egoismus fremdes Leiden zwar als Mittel hinnimmt, es jedoch, kontrastiv zur Bosheit, niemals zum Zweck hat. Diesen antimoralischen Triebfedern steht das Mitleid als alleinig moralische Triebfeder, deren letzter Beweg- oder Bestimmungsgrund allein das unmittelbar in einem anderen empfundene Leiden eines Anderen ist, entgegen. Handlungen aus Mitleid geschehen hierbei immer nach der Maxime »Neminem laede, imo omnes, quantum potes, iuva!«26, die zugleich den »obersten Grundsatz der Ethik«27 bildet. Hieraus ergibt sich, dass sich Mitleid in unterschiedlichen Erscheinungsformen äußern kann. Das »neminem laede« bezieht sich hierbei in Gestalt der Gerechtigkeit auf die bloße Hemmung antimoralischer Triebfedern, während sich wiederum das »omnes, quantum potes, iuva!« als Menschenliebe auf die aktive Anstrengung, fremdes Leiden zu beenden, bezieht. Insofern lassen sich eo ipso alle Handlungen von moralischem Wert aus dem Mitleid als »Urphänomen«28 und »Grenzstein«29 der Ethik ableiten. Es ist Grenzstein, insofern es Anlass zu metaphysischer Spekulation liefert, für die diese Fragestellung jedoch keinen Platz lässt.

3 Friedrich Nietzsches Der Antichrist

3.1 Das Werk

Das im Jahre 1888 verfasste Werk Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (1894) nimmt einen besonderen Platz in Nietzsches Gesamtwerk ein. Als letztes Werk, das von seinem ursprünglichen Projekt der »Umwerthung aller Werthe«30 übrig geblieben ist, ist es sowohl der Versuch, die moral- und religionskritischen Erkenntnisse aus den früheren Werken zu einem »Vernichtungsschlag gegen das Christentum«31 zu bündeln, als auch, insofern »Krankheit zum Wesen des Christentums gehört«32, die Bemühung um performative Intervention. Diese Bemühung soll nicht nur den Nachweis erbringen, dass es »im aller höchsten Grad unehrenhaft, feige, unreinlich ist, Christ zu sein«33, sondern zugleich als Ereignis zu verstehen sein, das womöglich »die Geschichte in zwei Hälften spaltet«34. Hierbei wird aus der hyperboreischen35 Perspektive einer ontologisch postulierten Herrenmoral36 die christliche Décadence als schädlicher und ressentimentgeladener »Instinkt der Rache«37 in Opposition zu lebensbejahender Vitalität gestellt.

3.2 Die kantische Philosophie als »Schleichweg zum alten Ideal«

Hierbei sind AC8-1238 39 für diese Argumentation besonders interessant, insofern dort selbst die säkulare Sphäre der Philosophie in den Verdacht gerät, bloß »hinterlistige Theologie«40 zu sein.

»Jene Vergiftung reicht viel weiter als man denkt: ich fand den Theologen-Instinkt überall wieder, wo man sich heute als „Idealist“ fühlt, – wo man, vermöge einer höheren Abkunft, ein Recht in Anspruch nimmt, zur Wirklichkeit überlegen und fremd zu blicken . . . Der Idealist hat, ganz wie der Priester, alle großen Begriffe in der Hand […].«41

Selbst der deutsche Idealismus, verstanden als eine Hinterwelten42 erfindende Abwertung der Realität, entlarvt sich als kryptochristliche Lebensverneinung. Was der deutschen Philosophie im Allgemeinen gilt, spitzt AC10 im Besonderen auf Kant zu. Dieser habe es durch seine Einschränkung des »Recht[s] der Vernunft«43 unmöglich gemacht, die Scheidung einer vermeintlich wahren Welt von der Realität, sowie die Setzung der »Moral als Essenz der Welt« zu widerlegen. Dadurch sei dem ‚Theologen-Instinkt’ ein »Schleichweg«44 zum alten, freilich religiös-dogmatischen, Ideal eröffnet worden. Der Vorwurf der »Widernatur als Instinkt« trifft zudem speziell die kantische Ethik. Nietzsche begründet deren »décadence« in mehreren Hinsichten. Einerseits betont er – womit er freilich mit der Schopenhauerschen Kritik45 an den Selbstpflichten bricht –, dass Tugenden und Pflichten als »unsre persönlichste Notwehr und Nothdurft« streng an Individualität und Unterschiedlichkeit gebunden sind, weshalb sich jede allgemeingültige Pflicht, respektive der kategorische Imperativ, als notwendig »lebensgefährlich«46 herausstellt. Neben dieser Betrachtung des kantischen Pflichtbegriffes »unter der Optik47 des Lebens«48, kritisiert er zudem die künstliche Vorgehensweise, mit der Kant u.a. seinen obersten Grundsatz, d.i. der kategorische Imperativ, habe beweisen wollen. Nietzsche verwirft den kategorischen Imperativ hierbei nicht nur, gleich Schopenhauer49, als »Moloch der Abstraktion«50, sondern spricht darüber hinaus ein Verdikt gegen Kant aus, das äußerst an die von Schopenhauer formulierte Kritik der kantischen Methode erinnert. »Kant wurde Idiot. – Und das war der Zeitgenosse Goethes! Dies Verhängniss von Spinne galt als der deutsche Philosoph, – gilt es noch!«51 Dafür, dass Nietzsche hierbei, wenn schon nicht expressis verbis, so doch wenigstens indirekt, eine Beziehung zu dem schopenhauerschen Vorwurf aus § 6 der Preisschrift – dass nämlich das Fundament der kantischen Ethik ein bloßes »Spinnengewebe«52 sei –, herstellt, spricht einerseits die enorme Kenntnis53, die Nietzsche von den Werken Schopenhauers hatte, als auch die Tatsache, dass er sich in seiner Kritik an der Mitleidsethik in AC7 explizit auf diese Preisschrift zu beziehen scheint. Hierbei greifen AC10-12 zurück auf eine Kritik, die bereits JGB5 formuliert hatte, dass nämlich Kant, indem er auf »dialektischen Schleichwegen«54 zu seinem kategorischen Imperativ »verführt«55, der in AC12 stark gemachten »intellektuellen Rechtschaffenheit«56 ermangelt.

[...]


1 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 18, S.761.

2 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 17, S.744.

3 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral, S.746.

4 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral, S.746.

5 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 18, S.760.

6 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 4, S. 647.

7 Hierzu Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 3, S. 646-647: »Dies ist das einzige nachweisbare Gesetz für den menschlichen Willen, dem dieser als solcher unterworfen ist. Es besagt, daß jede Handlung nur infolge eines Motivs eintreten kann. Es ist, wie das Gesetz der Kausalität, ein Naturgesetz«.

8 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 4, S. 647.

9 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 4, S. 649.

10 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 4, S. 649.

11 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 4, S. 649.

12 Hierzu Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 3, S. 643: »Freilich, wenn man es strengnehmen wollte, so hätte auch Kant den Eudaimonismos mehr scheinbar als wirklich aus der Ethik verbannt. Denn er läßt zwischen Tugend und Glückseligkeit doch noch eine geheime Verbindung übrig in seiner Lehre vom höchsten Gut, wo sie in einem entlegenen und dunkeln Kapitel zusammenkommen, während öffentlich die Tugend gegen die Glückseligkeit ganz fremd tut«.

13 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 4, S. 651.

14 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 4, S. 651.

15 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 6, S. 659.

16 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 6, S. 659.

17 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 6, S. 659.

18 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 6, S. 670.

19 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 6, S. 670.

20 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 8, S. 697.

21 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 4, S. 651.

22 Hierzu Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 7, S. 685: »Also ist hier so deutlich wie nur immer ausgesprochen, daß die moralische Verpflichtung ganz und gar auf vorausgesetzter Reziprozität beruhe, folglich schlechthin egoistisch ist und vom Egoismus ihre Auslegung erhält, als welcher unter der Bedingung der Reziprozität sich klüglich zu einem Kompromiß versteht.«

23 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 14. S. 727.

24 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 14, S. 727.

25 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 16, S. 742.

26 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 16, S. 744.

27 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 16, S. 744.

28 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 16, S. 741.

29 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 16, S. 741.

30 Zumindest dem Entwurf in NL 1888, KSA 13, 198, 545 zufolge.

31 Nietzsche in einem Briefentwurf an Georg Brandes, Anfang Dezember 1888, KSB 8, Nr. 1170, S. 500.

32 AC 52, KSA 6, S. 232.

33 Nietzsche in einem Briefentwurf an Georg Brandes, Anfang Dezember 1888, KSB 8, Nr. 1170, S. 501.

34 Nietzsche in einem Briefentwurf an Georg Brandes, Anfang Dezember 1888, KSB 8, Nr. 1170, S. 500.

35 Die sprechenden »Wir« bekennen sich in AC1, KSA 6, S. 169 aufgrund ihrer Abgeschiedenheit und ihrer Genesung von der »Modernität« zu Hyperboreern: »Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer, – wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. […] Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? – Der moderne Mensch etwa? ›Ich weiss nicht aus, noch ein; ich bin Alles, was nicht aus noch ein weiss‹ – seufzt der moderne Mensch … An dieser Modernität waren wir krank […]«.

36 Den Begriff einer vornehmen Herrenmoral, die alles Stolze und Gehobene »gut«, sowie dessen Gegensatz »schlecht« nennt, hatte Nietzsche bereits in JGB und GM besonders unter dem Gesichtspunkt der Macht konturiert. AC scheint diese Herrenmoral nicht nur, wie die früheren Schriften, als etwas tendenziell Besseres zu inaugurieren, sondern als ontologisches Postulat auszurufen. Hierzu auch JGB260, KSA 5, S.209: »Der vornehme Mensch trennt die Wesen von sich ab, an denen das Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände zum Ausdruck kommt: er verachtet sie. Man bemerkt sofort, dass in dieser ersten Art Moral der Gegensatz ›gut‹ und ›schlecht‹ so viel bedeutet wie ›vornehm‹ und ›verächtlich‹ […] Im Vordergrunde steht das Gefühl der Macht, die überströmen will […]« und die Adaptionsstelle in AC2, KSA 6, S. 170: »Was ist gut? - Alles was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt«.

37 AC 62, KSA 6, S. 253.

38 AC 10, KSA 6, S. 176.

39 Die Programmatik der Abschnitte 8-14 deutet sich bereits in dem ursprünglich vorgesehenem Titel »Für uns -wider uns« nach KSA 14, S. 438 an: jede (philosophische) Position, die nicht mit derjenigen der Hyperboreer übereinstimmt, wird durch die ausschließende Logik von AC eine vermeintliche Christlichkeit attestiert.

40 AC 10, KSA 6, S. 176.

41 AC 8, KSA 6, S. 174-175.

42 Der Begriff der »Hinterwelt« steht in Nietzsches Denken für aus der Sehnsucht derjenigen, die an der diesseitigen Realität leiden, heraus erdachte Scheinwelten. Hierzu etwa Z, KSA 4, S. 36: »Leiden war’s und Unvermögen – das schuf alle Hinterwelten«. Dass diese Scheinwelten nicht notwendig religiös sein müssen zeigt z.B. GD 6 Vernunft und kehrt hierbei diesen Vorwurf sogar explizit gegen Kant: »Die Welt scheiden in eine ›wahre‹ und eine ›scheinbare‹, sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant’s (eines hinterlistigen Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der décadence, – ein Symptom niedergehenden Lebens« (GD Vernunft 6, KSA 6, S. 79).

43 AC 10, KSA 6, S. 176.

44 AC 10, KSA 6. S. 176.

45 Während Nietzsche die eigene Tugend in AC 11 als etwas von den »tiefsten Erhaltungs- und Wachsthumsgesetzen« Gebotenes versteht, hatte Schopenhauer sie in seiner Kritik der kantischen Ethik verworfen. Hierzu vgl. Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 5.

46 AC 11, KSA 6, S. 177.

47 Die Ansicht, dass Erkenntnis etwas prinzipiell Perspektivisches ist, ist ein zentrales Theorem Nietzsches: »Es giebt nur perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹ […]« (GM asketische Ideale 12, KSA 5, S. 365). Ebenso wie GT Versuch einer Selbstkritik GT verstehen will, nämlich als Kritik an der Moral hinsichtlich seines Einflusses auf das »Leben«, so verwendet auch AC das »Leben« als Prüfstein der Moral.

48 GT Versuch einer Selbstkritik 4, KSA 1, S. 17 Die Ansicht, dass Erkenntnis etwas prinzipiell Perspektivisches ist, ist ein zentrales Theorem Nietzsches. Ebenso wie GT Versuch einer Selbstkritik die frühere Tragödienschrift verstehen will, nämlich als Kritik an der Moral hinsichtlich seines Einflusses auf das »Leben«, so verwendet auch AC das »Leben« als Prüfstein für die Moral.

49 Schopenhauer kritisiert die kantische Ethik vor allen Dingen dafür, dass sie »ein bloßes Gewebe abstrakter Begriffskombinationen ist« (Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 6, S.671).

50 AC 11, KSA 6, S. 177.

51 AC 11, KSA , S. 177-178.

52 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral § 6, S. 670.

53 Vgl. Salquarda 1973, S. 115: »Daß Nietzsche Schopenhauers Ausführungen zur Ethik gekannt hat, bedarf keines Nachweises. Neben den bekannten biographischen Nachrichten geben seine zahlreichen Äußerungen zu diesem Thema in den veröffentlichten Schriften wie im Nachlaß davon deutliches Zeugnis. Ob er eine bestimmte einzelne Stelle genau kannte und im Gedächtnis hatte, dies ist natürlich nicht so einfach vorauszusetzen. Den besten Nachweis dafür gibt ein direktes Zitat. Zitate aus den ethischen Schriften Schopenhauers finden sich bei Nietzsche in der Tat häufig, allerdings hat Nietzsche längst nicht alle als solche ausgewiesen«.

54 JGB 5, KSA 5, S. 19.

55 JGB 5, KSA 5, S. 19.

56 AC 12, KSA 6, S. 178.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Der Antichrist und das Mitleid. Über Nietzsches Rezeption von Schopenhauers Preisschrift "Über die Grundlage der Moral" in seinem "Antichrist"
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Veranstaltung
Schopenhauers Preisschrift „Über die Grundlage der Moral“ – die Bedeutung seiner Mitleidsethik.
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
17
Katalognummer
V899523
ISBN (eBook)
9783346185310
ISBN (Buch)
9783346185327
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Hausarbeit wurde im Jahr 2020 verfasst und von der Universität Mainz mit der Note 1,0 bewertet.
Schlagworte
Nietzsche, Schopenhauer, Di Sarno, Antichrist, Mitleidsethik
Arbeit zitieren
Giorgio Di Sarno (Autor:in), 2020, Der Antichrist und das Mitleid. Über Nietzsches Rezeption von Schopenhauers Preisschrift "Über die Grundlage der Moral" in seinem "Antichrist", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/899523

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