Zum Prinzip des "Arbeitenden Kunden"

Automatisierung von DL - Chancen und Risiken


Diplomarbeit, 2008

106 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. These: «Der Arbeitende Kunde»

3. Von der Selbst-Bedienung zur erweiterten Co-Produktion Historischer Prozess des aktiven Konsums
3.1. Entstehung und Entwicklung des aktiven Konsums
3.1.1. Die Anfänge: Massenproduktion, Massenkonsum und Selbstbedienung
3.1.2. Ausbreitung von Selbstbedienung in Deutschland - insbesondere seit 1970
3.1.3. Parallele Entwicklung: Entstehung von Einkaufszentren
3.1.4. Fortgeschrittene Selbstbedienung: «Co-Produktion»
3.1.4.1. Selbsthilfegruppen
3.1.4.2. «Do-it-yourself» Bewegung
3.2. Aktuelle Entwicklungen: Erweiterte Auslagerung von Tätigkeiten auf die Konsumenten
3.2.1. Co-Produktion durch «virtuelle Produkte»
3.2.2. Co-Produktion durch «User Communities»
3.2.3. Co-Produktion im Finanzdienstleistungssektor
3.2.4. Co-Produktion im Handel
3.2.5. Co-Produktion bei der Bahn und im Luftverkehr
3.2.6. Co-Produktion im Gesundheits- und Sozialwesen
3.2.7. Co-Produktion in der Arbeitsmarkt- und Sozialverwaltung
3.3. Zwischenfazit

4. Die Entdeckung des aktiven Konsumenten durch Unternehmen und die Möglichkeit seiner betrieblichen Nutzung
4.1. Der Wandel der Gesellschaft zur Gesellschaft der Dienste und die Rolle des Konsumenten
4.2. Betriebswirtschaftliche Strategien zur Nutzung des aktiven Konsums
4.2.1. Konzept des virtuellen Unternehmens
4.2.2. Prosuming-Marketing
4.2.3. Multi-Channel-Management
4.2.4. Service Customer Performance
4.3. Gründe der betrieblichen Auslagerung von Tätigkeiten auf die Kunden
4.4. These: «McDonaldisierung»
4.5. Ansätze der Dienstleistungsrationalisierung
4.6. Systemische Rationalisierung
4.6.1. Leitbild Kundenorientierung
4.6.2. Empirische Ergebnisse zum Leitbild Kundenorientierung

5. These: «Der Arbeitende Kunde» Typologische Bestimmungen einer neuen gesellschaftlichen Grundform individueller Konsumtion und Reproduktion
5.1. Dimension Praxis: Der Kunde als gebrauchswertschaffende Arbeitskraft – Die praktischen Tätigkeiten der Konsumenten unter betrieblichem Vernutzungsdruck
5.1.1. Der Konsument als betriebliche Arbeitskraft
5.1.2. Konsumtätigkeit als formelle Produktionsarbeit – Ein neues Selbstverhältnis der Konsumenten
5.2. Dimension Ökonomie: Der Kunde als ökonomische Wertquelle – Die Produktionspotenziale der Konsumenten unter betrieblichem Verwertungsdruck
5.2.1. Betriebliche Ökonomisierung des Konsums
5.2.2. Selbst-Ökonomisierung des Konsums
5.3. Dimension Existenzialität: Der Kunde als informeller Mitarbeiter – Der private Lebenszusammenhang der Konsumenten unter betrieblichem Beherrschungsdruck
5.3.1. Die organisatorische An- und Einbindung des Konsumenten als produktive und wertschöpfende Einheit
5.3.2. Die Selbst-Verbetrieblichung des Konsumenten
5.4. These: «Arbeitskraftunternehmer»
5.4.1. Doppelte Entgrenzung von «Arbeit und Leben»
5.4.2. Doppelte Erklärung: Neue Betriebsstrategien und neue Kultur
5.4.3. Neue Dynamiken zwischen Markt und Betrieb, Privatheit und Öffentlichkeit
5.5. Historische Typologie
5.5.1. Der Selbstproduzent (der vorindustriellen Gesellschaft)
5.5.2. Der Kaufende Kunde (der industriell-kapitalistischen Gesellschaft)
5.5.3. Der Arbeitende Kunde (des subjektivierten Neo-Kapitalismus)

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Thema der Diplomarbeit unter dem genauen Titel «Automatisierung von DL – Chancen und Risiken» wurde mir von Herrn Prof. Dr. U. Kadritzke, Professor für Industrie- und Betriebssoziologie an der FHW Berlin, empfohlen.

Worum geht es in der Arbeit?

Die von Günter Voß und Kerstin Rieder formulierte These des Arbeitenden Kunden wird in dieser Diplomarbeit eingehend untersucht werden. Demnach zeichnet sich eine Entwicklung ab, die langfristige Auswirkungen auf das gesamte alltägliche Leben in unserer Gesellschaft haben wird. Die Theorie des Arbeitenden Kunden analysiert einen sich derzeit abzeichnenden Trend, wonach sich Konsumentinnen und Konsumenten zunehmend selbst bedienen müssen, weil Unternehmen aus Kostengründen Funktionen auf sie verlagern. Die von Kunden geleistete eigene Arbeit weist eine bislang unbekannte und neuartige Qualität auf. Als Folge – so die These - könnte sich hieraus ein neuer aktiver Grundtypus des Konsumenten in unserer Gesellschaft herausbilden. Dieser neue Konsumententypus wird von Voß und Rieder als «Arbeitender Kunde» bezeichnet.

Wie gehe ich bei der Bearbeitung des Themas vor?

Zunächst stelle ich im zweiten Kapitel die These des Arbeitenden Kunden kurz im Allgemeinen vor. Dann beschreibe ich im dritten Kapitel den historischen Prozess der zunehmenden Auslagerung betrieblicher Funktionen auf die Kunden, der schließlich in der heutigen Situation seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Im darauf folgenden Kapitel geht es um die Entdeckung des aktiven Konsumenten in der betriebswirtschaftlichen Forschung. Zudem wird aufgezeigt, wie das Zusammenspiel zwischen aktivem Konsument und Unternehmen funktioniert. Dabei wird auch der betriebliche Hintergrund der Entwicklung beleuchtet werden. Im fünften Kapitel wird der Sturkurwandel skizzenhaft anhand der Dimensionen Praxis, Ökonomie und Existenzialität diskutiert. In diesem Kontext wird der Zusammenhang von Arbeitskraft(-Nutzung) und Konsum verdeutlicht. Um die Skizze des neuen Arbeitenden Kunden anschaulich zu machen, folgt an dieser Stelle ein grobes Raster historischer Konsumententypen. Den Abschluss der Arbeit bildet letztlich das Fazit zum behandelten Thema.

2. These: «Der Arbeitende Kunde»

Die zentrale These des Soziologen Günter Voß und der Psychologin Kerstin Rieder lautet, dass sich derzeit eine neue Qualität im Verhältnis von Betrieb und Kunde1 beziehungsweise soziologisch allgemeiner gesprochen, von Produktion und Konsumtion, im Sinne einer stärkeren Einbeziehung des Konsumenten in Bezug auf die Produktionsfunktionen herausbildet. Demnach erkennen immer mehr Unternehmen die «Ressource Kunde» und nutzen diese gezielt als Rationalisierungs- und sogar als explizites Wertschöpfungspotenzial. Als Folge des erweiterten betrieblichen Zugriffs könnte sich hieraus ein neuer aktiver Grundtypus des Konsumenten in der Gesellschaft herausbilden, der den bislang eher passiv agierenden klassischen Käufer-Kunden ablöst. Bezeichnet wird der neue Konsumententypus als «Arbeitender Kunde», weil sein zentrales Merkmal eine erweiterte und zunehmende betrieblich explizit gesteuerte und genutzte sowie auf aktiven Arbeitsleistungen beruhende Produktivität ist.2

Demnach kennzeichnen drei Merkmale den neuen Konsumententypus:[1]

- Der Konsument ist nicht mehr nur Käufer und eher passiver Nutzer von Waren und Dienstleistungen, sondern seine Arbeitskraft wird gezielt von Betrieben für das entsprechende Produkt beziehungsweise die jeweilige Dienstleistung genutzt – wenn auch ganz anders als über den Weg der formellen lohnabhängigen Beschäftigung. Die privaten Tätigkeiten und ihre latenten Produktivitätspotenziale geraten damit systematisch unter das Regime einer betrieblichen Nutzung.
- Der Konsument wird zur expliziten betrieblichen Wertquelle – komplementär zur Wertquelle der formellen, erwerbsförmigen Arbeitskraft, dies aber in einer ganz anderen Form. Die konsumtive Produktivität von Menschen in ihrem privaten Leben wird damit einer betrieblichen Ökonomisierung neuer Qualität unterworfen.
- Der Konsument wird schließlich quasi zum betrieblichen Mitarbeiter, wenn auch anders als die traditionell angestellten Beschäftigten der Unternehmen. Die produktiven Anteile des individuellen Konsums werden also einer gezielten organisatorischen Beherrschung und Anbindung unterworfen, für die es jedoch noch keine Rechtsformen, keinen rechtlichen Schutz, keine Interessenvertretung usw. und dementsprechend auch noch keine Begrifflichkeiten gibt.3

All diese Aspekte zu betrachten und die noch vorhandenen Lücken zu schließen, wird eine notwendige Aufgabe der modernen Gesellschaft sein.[2]

3. Von der Selbst-Bedienung zur Co-Produktion

Historischer Prozess des aktiven Konsums

Im ersten Teil des dritten Abschnittes der Arbeit werde ich die historische Entwicklung des aktiven Konsums nachzeichnen. Da die Geschichte der Selbstbedienung mit der Entwicklung von der Massenproduktion und dem Massenkonsum eng verbunden ist, soll, wenn auch nur kurz, auf diese epochale Entwicklung eingegangen werden.

Im Anschluss daran werde ich im zweiten Teil des dritten Abschnittes aktuelle Entwicklungen der Selbstbedienung diskutieren. Zunächst werde ich zwei neue Formen der Selbstbedienung, die Co-Produktion durch «virtuelle Produkte» und durch «User Communities», vorstellen. Dann folgen aktuelle Entwicklungen der Auslagerung von Tätigkeiten auf den Kunden in verschiedenen Wirtschaftsbereichen, wie im Finanzdienstleistungssektor, Handel, bei der Bahn und im Luftverkehr, im Gesundheits- und Sozialwesen sowie in der Arbeitsmarkt- und Sozialverwaltung.

Mit einem Zwischenfazit wird der dritte Teil der Arbeit abgeschlossen.

3.1. Entstehung und Entwicklung des aktiven Konsums

In der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte mussten Menschen, die für ihr Leben notwendigen Güter gezielt selbst produzieren, um diese dann aktiv ge- und verbrauchen zu können. Demnach hat es schon immer so etwas wie den aktiven Konsum gegeben. Die für uns heute so gewohnte Form des «Kunden», der seine zur Bedürfnisbefriedigung benötigten Güter am Markt kauft, ist historisch gesehen eine recht junge Erscheinungsform. Der moderne Konsum und damit auch die so genannte Konsumgesellschaft hat sich in Deutschland erst Ende der 1950er Jahre und zu Anfang der 1960er Jahre formiert.4[3]

3.1.1. Die Anfänge: Massenproduktion, Massenkonsum und Selbstbedienung

Die Entwicklung der Gesellschaft zu einer Gesellschaft des Massenkonsums ist ein weltweiter Prozess, der sich in allen Industriegesellschaften in ähnlicher Weise durchsetzte.

Zuerst vollzog sich der Übergang zur modernen Konsumgesellschaft in der amerikanischen Gesellschaft. Die 1930er und 1940er Jahre gelten als Durchbruchszeit zur Konsumgesellschaft in den Vereinigten Staaten.

In Westeuropa mutiert die Gesellschaft zur Konsumgesellschaft in der Zeitperiode zwischen den 1950ern und 1960ern. In Osteuropa hingegen geschieht dies erst in den 1970ern und 1980ern.5

Der Begriff «Konsumgesellschaft» wurde im Hinblick auf die Länder entwickelt, in denen die Industrielle Revolution zum Durchbruch kam.6

König definiert den Begriff «Konsum» als komplementären Begriff zur «Produktion» – für den Zweck wirtschaftlichen Schaffens, gleichzeitig aber auch für die ganze Fülle von Alltags- und Freizeithandlungen, welche die Lebensformen der Moderne ausmachen.7

Der Begriff «Industrielle Revolution» wurde von Arnold Toynbee geprägt, um die tiefgreifenden Veränderungen im 18. und 19. Jahrhundert zu bezeichnen, die die Industriegesellschaften entstehen ließen. Was wir als «industrielle Revolution» bezeichnen, ging zunächst in England ab 1760, auf dem Kontinent ab 1820/30, vor sich. Dabei lassen sich zwei «Industrialisierungsschübe» erkennen. Für die erste Stufe der Industrialisierung sind Dampfmaschine, Eisenbahn, Werkbank, Gusseisen, Webstuhl kennzeichnend. Die zweite Stufe der Industrialisierung setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts voll ein. Ihre Kennzeichen sind Verbrennungsmotor, Chemie, Elektrizität, Auto, Fließband, Stahl.8[4]

Die Industrialisierung brachte tiefgreifende Veränderungen in den Arbeits- und Lebensverhältnissen und damit auch einen grundlegenden Wandel in den Strukturen des alltäglichen Lebens. Die zum Zwecke des Erwerbs von Lohneinkommen betriebene «Arbeit» trennte sich als Sphäre eigener Qualität vom Rest des «Lebens» der Menschen ab. So kam es zur Herausbildung von zwei Sphären: «Arbeit und Freizeit» oder «Arbeit und Leben», wie es die Arbeiterbewegung in Anlehnung an Karl Marx bezeichnete.9

Mit der Industriellen Revolution entstanden Fabriken als neue betriebliche Organisationsform. Der technische Fortschritt ermöglichte eine Rationalisierung der Produktionsprozesse, indem Fabriken mit Kraft- und Arbeitsmaschinen ausgestattet wurden. Der Maschineneinsatz prägte fortan nicht nur die Teilung und den Rhythmus der Arbeit, sondern auch die Organisation der Betriebe. Auch die in den Produktionssystemen verarbeiteten Stoffe ändern sich vom «Natürlichen zum Künstlichen».

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte eine weitere notwendige Voraussetzung für die Herausbildung der modernen Konsumgesellschaft ein, nämlich die Massenproduktion.10

Durch die neue Gesellschaftsordnung kam es zur Entstehung einer Gruppe von Menschen, die als «Arbeiter» bezeichnet werden und/oder sich selber so verstehen.11

Der Arbeiter wird für seine Teilnahme am Produktionsprozess entlohnt und kauft sich seine zur Bedürfnisbefriedigung benötigten Güter am Markt.

In der Industrie kam es im 20. Jahrhundert zum Durchbruch der so genannten «maschinellen Massenproduktion». Das neue Produktionssystem verbilligte zahlreiche Güter in einem Umfang, so dass sie für die Mehrheit der Bevölkerung erschwinglich wurden.12[5]

Dienstleistungen waren bis dato teuer, weil die Leistungserbringung einen hohen Personaleinsatz forderte. Im Gegensatz zu materiellen Gütern, galten Dienstleistungen, also immaterielle Güter, als rationalisierungsresistent, weil sie dem «Uno-Actu-Prinzip» unterliegen, welches davon ausgeht, dass Produktion und Konsum einer Dienstleistung zeitlich und örtlich zusammenfallen.

Das änderte sich mit der Idee und der Einführung der Selbstbedienung. In vielen Bereichen der Dienstleistungsarbeit wurden Leistungen standardisiert und einzelne Tätigkeiten wurden auf die Kundschaft übertragen.13

Die Anfänge der Selbstbedienung reichen weit bis ins 19. Jahrhundert zurück und haben ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in den Metropolen der USA und von Europa die ersten Waren- und Kaufhäuser. 1839 waren in Berlin Warenhausgründer wie beispielsweise die Gebrüder Wertheim, Oskar und dessen Onkel Hermann Tietz (Hertie-Konzern), Leonhard Tietz (Kaufhof-Konzern) und Rudolph Karstadt (Karstadt-Konzern) vertreten. Die «Tempel des Konsums» stellten eine Art «Gemischtwarenladen im Großen» dar, schwerpunktmäßig wurden jedoch Kleidung und Textilien vertrieben. Die Kundschaft wurde nicht nur durch das üppige Warenangebot und die niedrigen Preise angelockt, sondern Waren- und Kaufhäuser stellten auch architektonische und technische Attraktionen dar. Kaufhäuser unterschieden sich von Warenhäusern, indem sie kleiner und luxuriöser gestaltet waren.

Durch ihre Geschäftsstrategie ebneten Waren- und Kaufhäuser den Weg hin zur Entwicklung von Selbstbedienung. Der Kunde konnte sich in Waren- und Kaufhäusern frei bewegen und wurde nur auf Wunsch vom Bedienungspersonal beraten. Die offenen Warenpräsentationen auf großen Verkaufstischen brachten Kunde und Ware in unmittelbaren Kontakt miteinander. Die ersten Ansätze zur Selbstwahl waren hier schon erkennbar. Eine Barzahlung für festgelegte Preise wurde eingeführt. Das Umtauschsrecht und die Verkaufswerbung trugen außerdem wesentlich zum Erfolg bei.14[6]

Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr der Versandhandel an Bedeutung, weil Voraussetzungen für solche Geschäfte geschaffen wurden, wie beispielsweise der Postpaketdienst, das Nachnahmeverfahren, die Postanweisung, das Paket-Einheitsporto usw.15

Der Versandhandel ist eine spezielle Variante der Selbstbedienung, weil der Kundschaft nicht nur personelle, sondern auch räumliche Ressourcen entzogen werden: Es werden vom Unternehmen keine Ladenflächen zur Verfügung gestellt, in denen die Produkte in Augenschein genommen werden können, lediglich Kataloge und in den letzten Jahren häufiger Internet-Portale der Organisation. Diese bieten die Basis für die Eigenleistungen der Kunden, die selbständig dafür sorgen, dass die Produkte, für die sie sich interessieren, geliefert und bei Nicht-Gefallen zurückgesandt werden.16

In den USA gab es bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Massenversandgeschäft. Die so genannten Universalversender versorgten insbesondere Kundschaft in ländlichen Regionen, wie beispielsweise Farmer.17

In Deutschland wurden zunächst Luxusgüter über den Versandhandel vertrieben. Im Unterschied zu den USA kamen die Zielgruppen des deutschen Versandhandels vor allem aus den Großstädten. Erst im 20. Jahrhundert erlebte der Versandhandel hierzulande ein Massengeschäft – vor allem in den 1950er bis 1970er Jahren.18

Auch bildete sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Vertrieb über so genannte stumme Verkäufer, also Automaten heraus. Die Vertriebsform wurde überwiegend für den Verkauf von Genuss- und Lebensmitteln eingesetzt. Das erste deutsche Patent wurde für den «automatischen Verkaufsbehälter für Zigarren» im Jahre 1883 vergeben. Automaten stellen eine sehr weitreichende Form der Selbstbedienung dar.19[7]

Die ersten reinen Selbstbedienungsläden sind in den USA entstanden. Bereits 1916 verzeichnete die Lebensmittelunternehmung Piggly Wiggly von Memphis/Tennessee ausgehend über 400 Selbstbedienungsläden. Piggly Wiggly besaß bereits damals die Attribute eines Selbstbedienungsladens: Das Drehkreuz am Eingang, die Waren, die zur selbständigen Entnahme in den Regalen lagerten, und die Kasse am Ausgang. Innerhalb des Ladens übernahm nun der Kunde die gesamten Kommissionierungstätigkeiten, wie beispielsweise Auswahl, Zusammenstellung und Transport.20

Für die Durchsetzung der Selbstbedienung mussten sowohl beim Produkt als auch beim Kunden gewisse Voraussetzungen geschaffen werden. Vor Einführung der Selbstbedienung wurden viele Waren offen und einzeln angeboten. Mit der Selbstbedienung wurden Produkte zu standardisierten Massenartikeln und erhielten eine Verpackung. Die Verpackung sollte die Kundschaft zum Kauf anregen und erfüllte zudem eine (Informations-)Funktion, die vorher dem Verkaufspersonal zugekommen war. Die Kundschaft musste mit dem neuen Geschäftsmodell nicht nur auf die Bedienung beziehungsweise auf Beratungsleistungen verzichten, sondern auch einfache Kulturtechniken wie Lesen beherrschen.21

Die Einführung der Selbstbedienung in der Gastronomie fand bereits 1890 statt. Die von der «Young Women's Christian Association» betriebenen Cafeterias mit Selbstbedienung sollten ursprünglich berufstätige Frauen vor zudringlichen Männern schützen und vom Besuch der Wirtshäuser abhalten.22

Bereits um 1900 gab es in den großen Städten Nord-Amerikas zahlreiche nüchtern eingerichtete Selbstbedienungs-Restaurants, deren hygienische Küche eine kleine Zahl von Speisen zu festen Preisen anbot.23[8]

3.1.2. Ausbreitung von Selbstbedienung in Deutschland – insbesondere seit 1970

Die Selbstbedienung war nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA weit verbreitet. 1933 tauchte der Begriff «supermarkets» erstmalig auf. Im Vergleich zu den alten Selbstbedienungsläden boten die Supermärkte mehr Fläche und dementsprechend ein reichhaltigeres Warensortiment an. Außerdem lagen die neuen Geschäfte verkehrsgünstig und besaßen einen großen Parkplatz. Von der Ostküste ausgehend verbreitete sich der Supermarkt über das ganze Land. Nicht nur die «günstigen Preise» sorgen für eine rasche Verbreitung der Selbstbedienung in Supermärkten, sondern auch der «Autonomiegewinn» wurde von der Kundschaft geschätzt. Mitte der 1950er Jahre wurden 50% des Lebensmitteleinzelhandels durch Supermärkte abgewickelt.24

In Europa und besonders in Deutschland war die Idee der Selbstbedienung ebenfalls nicht neu, da beispielsweise Waren- und Kaufhäuser seit ihrem Bestehen mit Teilselbstbedienung arbeiteten. Selbstbedienungsläden und Supermärkte entwickelten sich hierzulande erst nach dem Zweiten Weltkrieg, gegen Ende der 1950er Jahre.25

Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre weitete sich das Selbstbedienungsprinzip in Deutschland zuerst im Lebensmitteleinzelhandel aus. Die Gebrüder Albrecht eröffneten 1962 den ersten Aldi-Laden nach dem Discountprinzip, d.h. nur mit einigen hundert Artikeln, bescheidenster Ladenausstattung (spartanische Ausstattung und wenig Personal) und Dauerniedrigpreisen.

Neben Lebensmitteldiscountern entstanden in der Folgezeit Verbrauchermärkte und SB-Warenhäuser. Die Verbraucher waren aufgrund der gestiegenen Mobilität in der Lage und bereit dazu, einige Kilometer zu fahren, um ihren Wocheneinkauf bequem per Pkw zu erledigen. Bereits 1970 gab es fast 600 Verbrauchermärkte und SB-Warenhäuser.26[9]

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre überholte im Lebensmitteleinzelhandel der Umsatz von Läden mit Selbstbedienung den von traditionellen Bedienläden. Die Selbstbedienungsläden weiteten ihre Fläche und ihr Warenangebot ständig aus. Bedienläden wurden so immer mehr in Nischen zurückgedrängt.27

Aus den Daten des statistischen Bundesamtes wissen wir, dass die Zahl der Unternehmen im Lebensmitteleinzelhandel zwischen 1960 und 1998 um 200.000 auf rund 50.000 zurückging, also um 80%. Insbesondere reduzierte sich die Zahl kleiner bedienungsorientierter Lebensmittelgeschäfte, der so genannten «Tante-Emma-Läden».28

In den 1970er Jahren begann sich die Selbstbedienung auch im deutschen Einzelhandel stark auszuweiten. Mit der Herausbildung von Drogeriefachmärkten wurden neben Lebensmitteln nun auch Drogerieartikel zunehmend in der Selbstbedienung verkauft. Als Pionier des Drogeriemarktes gilt der gelernte Drogist Dirk Rossmann. 1972 eröffnete die Firma Rossmann in Hannover mit der Anwendung des Diskont-Prinzips ihren ersten Markt. Allein zwischen 1975 und 1980 wuchs die Zahl der Drogeriemärkte um zirka 1200. Die Drogeriemärkte konkurrierten in erster Linie mit den mittelständischen Drogerien. Die Zahl der Drogerien schrumpfte in den 1970er Jahren von 14.000 auf 8.000.29

Eine ähnlich starke Expansion wie die Drogeriemärkte hatten in den 1970er Jahren die Heimwerker- und Baumärkte in Deutschland erfahren. Hintergrund hierfür war die Herausbildung eines neuen Nachfragebereichs, des Do-it-yourself-Marktes. Als Pioniere auf diesem Gebiet gelten E. Lux und M. Maus, die Gründer des Großhandels- und Importunternehmens Lux, die 1970 den ersten Bau- und Handwerkermarkt, namentlich OBI, in Hamburg eröffneten. 1978 gab es über 400 Baumärkte und bereits 1980 fast doppelt so viele.30

[10]

Neben Discountern, Verbrauchermärkten und SB-Warenhäusern entstand im Einzelhandel das Partiegeschäft. Paradebeispiel hierfür sind die Kaffee-Filialisten Tchibo und Eduscho, die seit den 1970er Jahren mit dem Verkauf von branchenfremden Produkten beachtliche Erfolge erzielt haben. Die Angebote für solche Produkte waren/sind zeitlich begrenzt und sehr preisgünstig.31

Außerdem wurde die Selbstbedienung im Einzelhandel durch den Vertrieb mittels Automaten vorangetrieben. Seit den 1970er Jahren entwickelte sich der Verkauf über Automaten kontinuierlich weiter. Von 1970 bis 1980 stieg der gesamte Umsatz aller Leistungs- und Verkaufsautomaten von 7 auf zirka 10 Milliarden DM. Die Anzahl der eingesetzten Automaten (hauptsächlich für Zigaretten, aber auch für Getränke oder Snacks) verdoppelte sich in der gleichen Zeit um 50% auf 1,5 Millionen.32

Auch im Bankensektor setzte die Entwicklung zur Selbstbedienung ab den 1970er Jahren ein. Mit Hilfe von Geldausgabeautomaten und Kontoauszugsdruckern wurde das Abheben von Bargeld sowie der Ausdruck von Belegen, beispielsweise Kontoauszügen, ermöglicht.33

Im Zuge der technischen Entwicklung wurden Selbstbedienungsautomaten weiter entwickelt und immer breiter eingesetzt. Nach der erfolgreichen flächen-deckenden Einführung von Automaten zum Self-Service im Bankensektor findet der Einsatz von Selbstbedienungsautomaten zunehmend auch in anderen Bereichen statt. Beispiele hierfür sind die Fahrscheinautomaten der Bahn, die Automaten zur Pfandflaschen-Rückgabe in Supermärkten und Check-In/Out-Automaten im Hotel und am Flughafen.34

[11]

Zur gleichen Zeit kam es in der Gastronomie zur Einführung und letztlichen Durchsetzung der so genannten Systemgastronomie, die sich vor allem in den diversen Schnellrestaurant-Ketten zeigt. In solchen Restaurants hat sich eine hoch ausdifferenzierte Produktstandardisierung entwickelt und der Verkauf des Essens findet über eine stark reglementierte Selbstbedienung des Kunden statt.35

In Deutschland eröffnete 1971 das erste McDonald's Restaurant in München. Inzwischen gibt es bundesweit mehr als 1.300 McDonald's Filialen. Ebenso kamen zahlreiche Vertreter anderer Ketten, wie etwa Burger King oder Pizza Hut hinzu.36

Wie erfolgreich McDonald's mit dem Selbstbedienungsprinzip ist, drücken folgende Zahlen aus: Im Jahr 2003 verzeichnete McDonald's in 119 Ländern weltweit 31.100 Restaurants mit 1,5 Millionen Beschäftigten. Der Gesamtumsatz lag im Jahr 2003 bei zirka 46 Milliarden Dollar.37

Wie reibungslos die Selbstbedienung in diesem Fast-Food-Restaurant funktioniert, drückt folgender Spiegelartikel aus: «McDonald's wird täglich von 50 Millionen Kunden aufgesucht und die Kundschaft übernimmt freiwillig die dort inzwischen als völlig selbstverständlich akzeptierten hoch standardisierten Kundenarbeiten: Klaglos in der Schlange anstellen – zügig mit genauen Produktkenntnissen unter Verwendung der richtigen Sprachfloskeln das Essen ordern – die Speisen zu den bewusst ungemütlich gehaltenen Sitz- oder Stehbereichen tragen – schnell und mit nur minimalen Tischsitten essen – auf- und abräumen – Speisereste und Verpackungen trennen und getrennt entsorgen – zügig das Lokal verlassen. Dass McDonald's ein «etwas anderes Restaurant» ist, bezieht sich nicht nur auf die hoch standardisierten Produkte, sondern auch auf die ritualisierten Vorgänge, gerade auch an der Schnittstelle zum Kunden und die sehr weitgehende Auslagerung vieler Funktionen auf die Gäste».38

[12]

3.1.3. Parallele Entwicklung: Entstehung von Einkaufszentren

Die Ausbreitung der Selbstbedienung wurde von mehreren Veränderungen im Bereich des Konsums begleitet. Die neuen Betriebstypen zeichneten sich durch viel Verkauffläche und wenig Personal aus. Personal wurde sozusagen durch Fläche substituiert.39

1964 entstand mit dem Main-Taunus-Zentrum in Sulzbach bei Frankfurt am Main das erste Einkaufszentrum Deutschlands. Einkaufszentren, auch Shopping Center genannt, unterscheiden sich durch ihre gewaltige Größe und die Überdachung des gesamten Einkaufsbereichs von anderen Häusern.40

Seit Langem sind solche «künstlichen» Einkaufsstättenagglomerate auch in den USA bekannt und beliebt. Hier entsprachen sie zu Anfang vor allem der äquivalenten Größe und Weitläufigkeit des Landes selbst.41

In den USA eröffnete 1981 ein Einkaufszentrum, welches sich die größte «Mall» der Welt nennt. So bietet das Shopping Center ganze 800 Läden, 11 Kaufhäuser, 110 Restaurants, ein Hotel, eine Eisenbahn, eine Kapelle, einen See und vieles andere mehr – praktisch ein kleines Land innerhalb des großen Landes Nord-Amerika.42

In Deutschland folgte dem Main-Taunus-Shopping Center das Europa Center in Berlin (1965) und das Kö Center in Düsseldorf (1967).43

Die Einkaufszentren wurden teils «auf der grünen Wiese», teils in Stadtrandlagen, teils in Trabantenstädten oder Innenstadtlagen angesiedelt.44

[13]

Heute gibt es zirka 43.000 Shopping-Center in den USA. In Deutschland sind es derzeit zirka 481 Einkaufszentren, mit über 8.000 Quadratmeter Geschäftsfläche. Die Fläche von Einkaufszentren hat sich in den letzten vier Jahren allerdings zunehmend um nahezu 25% erhöht, Tendenz weiter steigend.

Als ein Negativaspekt ist anzuführen, dass die Einkaufszentren mittlerweile die kulturelle Bedeutung des Einkaufens verändert haben. Der Erwerb von Produkten wird von Kunden nun als Möglichkeit der Freizeitgestaltung wahrgenommen (shopping) und sogar mit anderen konsumorientierten Freizeittätigkeiten kombiniert (z.B. Nutzung gastronomischer Einrichtungen in den Shoppingcentern, oftmals Schnellrestaurant-Ketten).45

Nicht nur der Raum, indem Konsum stattfindet, hat sich geändert, auch die Kompetenzen der Kundschaft wurden systematisch ausgeweitet, so beispielsweise für die Nutzung eines Automaten. Derartige Kompetenzen gelten als eine wesentliche Voraussetzung für Selbstbedienung. Neben anderen wichtigen Aspekten wie etwa die «Einweisung» durch andere Konsumenten nimmt hierbei die informierende Werbung eine bedeutsame Rolle ein. Die Werbung preist nicht nur das Produkt an, sondern versucht Beratungsleistungen, die in Folge von Selbstbedienung immer mehr zurückgingen, zu reduzieren: Die Kundschaft soll möglichst keine Serviceforderungen stellen. Informierende Werbung erfüllt somit eine zentrale Funktion zur Auslagerung von Tätigkeiten an Konsumenten.46

[14]

3.1.4. Fortgeschrittene Selbstbedienung: «Co-Produktion»

Die vorangegangenen Beispiele zeigen, dass die Konsumenten im Laufe der Zeit bei der Erbringung von Dienstleistungen immer stärker integriert werden, als dies früher der Fall war. Die Entwicklung der Selbstbedienung wird nun um die «explizite» Beteiligung der Kunden an der Endproduktion gekaufter Produkte erweitert. Es werden praktisch Tätigkeiten im Rahmen der «Fertigung und Nutzung» von Produkten auf den Konsumenten selbst verlagert. Dadurch erfährt die Selbstbedienung eine ganz neue Qualität. Konsumenten sind nun unmittelbar und aktiv an der Herstellung von Produkten und Leistungen tätig und nicht mehr nur allgemein durch den Kauf der Ware an dieser beteiligt.47

Bei einer derartigen Verlagerung von Aufgaben auf den Konsumenten wird in der Literatur von Co-Produktion gesprochen. Co-Produktion bedeutet, Wertschöpfungsaktivitäten vom betrieblichen Produzenten auf den Kunden zu übertragen und damit die Arbeitsteilung zwischen den beiden zu verändern.48

[15]

3.1.4.1. Selbsthilfegruppen

Die erweiterte Arbeitsteilung zwischen Produzenten und Konsumenten wurde durch gesellschaftliche Entwicklungen erheblich verstärkt. Die Herausbildung des «aktiven Konsums» im Feld der «Selbsthilfe» demonstriert sehr gut, dass nicht nur Rationalisierungsbemühungen von Unternehmen die Co-Produktion vorantrieben.49

Für Toffler reflektiert das intensive Interesse daran, selbst mit den eigenen Problemen fertig zu werden, einen substantiellen Wandel in unseren Wertvorstellungen, unserem Verständnis von Krankheit und unserer Einstellung gegenüber dem Körper und dem eigenen Ich.50

Die Entstehung von Selbsthilfegruppen geht mit einem umfassenden gesellschaftlichen Wertewandel ab den 1960er Jahren einher.51

Unter dem Begriff «Wertewandel» werden bis heute in den Sozial- und Humanwissenschaften die mehrfach empirisch gezeigten tiefgreifenden (langfristigen) Veränderungen von Einstellungen und Orientierung in der Bevölkerung der westlichen Industriegesellschaften während der 1960er bis 1980er Jahre diskutiert. Immer wieder herausgestellt wurde, so auch nach R. Ingelhardt, dass es dabei eine nachhaltige Verschiebung von «materiellen Werten» (z.B. «Sicherheit», «Ordnung», «stabile Wirtschaft» und «materieller Wohlstand») zugunsten «postmaterieller Werte» (z.B. «Demokratie», «schöne Natur» und «Freiheit der Person») gegeben habe, die von einer steigenden Bedeutung individueller «Selbst-Entfaltung» und «Selbst-Bestimmung» geprägt seien.52

[16]

Während der Ära des Protests der 1960er Jahre wurden fast alle nicht ökonomischen Statusbeziehungen in Frage gestellt und umgestaltet: Das Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen, Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Polizisten und Bürgern, Offizieren und Soldaten usw. – am allerstärksten aber zwischen Männern und Frauen. Die Verbreitung einer Reihe neuer Werte, wie etwa Emanzipation, Selbstverwirklichung, Lebensqualität usw., fand ihren Ausdruck in den verschiedenen Bewegungen der 1960er Jahre und der frühen 1970er Jahre: Der Studentenbewegung, der Bewegung der Schwarzen, der Minderheiten aus der Dritten Welt, der Frauenbewegung, der Ökologiebewegung, der Verbraucherbewegung und vielen anderen.53

Auch im Gesundheits- und Sozialbereich wurde die Autonomie der hochqualifizierten Dienstleistungsproduzenten in Frage gestellt. Laien forderten und erkämpften ein «Mitspracherecht» bei all den Diensten, die sie oder ihre Kinder erhalten.54

So entstanden in den 1970er Jahren viele Selbsthilfeprojekte und -gruppen, mit dem Ziel, «Selbstbestimmung» für betreute Personen zu erreichen. Bereits Mitte der 1990er Jahre wurde die Zahl der Selbsthilfegruppen in Deutschland auf 66.000 geschätzt.55

[17]

3.1.4.2. «Do-it-yourself» Bewegung

«Do-it-yourself» verbreitete sich spätestens seit den 1970er Jahren und trat vielfach an die Stelle der Inanspruchnahme von Dienstleistungen. Hintergrund war zum einen die unterschiedliche Preisentwicklung bei langlebigen Gebrauchsgütern im Vergleich zu den jeweiligen Dienstleistungen. Zum anderen spielte auch die zunehmende Freizeit der Menschen eine Rolle, die aus den Deutschen ein Volk von Heimwerkern machte.56

Die technische Ausstattung der Haushalte erweiterte sich erheblich. In der Folge ersetzte das Heimwerken vielfach die Inanspruchnahme von Handwerkspersonal.57

In den 1970er Jahren fand Co-Produktion zunächst in der Möbelbranche statt. Ein Paradebeispiel ist der international agierende Möbelkonzern IKEA. Bereits 1971 stellt das Unternehmen konsequent auf Co-Produktion um. Ganz offiziell verlagert IKEA die Endproduktion auf den Kunden. Nach dem Besuch der Schauräume (mit Möglichkeit zur Beratung) holt der Kunde die Produkte selbständig aus dem Lager, transportiert sie nach Hause und montiert sie mithilfe der beigelegten Anleitung – was wiederrum voraussetzt, dass der Kunde die Anleitung versteht.58

Wie erfolgreich der Konzern ist, verdeutlichen aktuelle Zahlen: Im Geschäftsjahr 2006 machte IKEA einen Umsatz von 17,3 Milliarden Euro. Deutschland ist mit 33 Häusern und 20% des Gesamtumsatzes der größte Einzelmarkt für das Unternehmen überhaupt.59

[18]

Geradezu berühmt ist das Regal Billy, das in 30 Jahren 30 Millionen Mal verkauft wurde. Der Aufbau des Regals benötigt zirka 30 Minuten Arbeitszeit. Insgesamt ergeben sich damit 15 Millionen geleistete Arbeitsstunden. Bei einem fiktiven Stundensatz von 8 Euro hat die Monatage aller Billys demnach bisher 120 Millionen Euro volkswirtschaftlichen Aufwand bedeutet. Durch die Auslagerung der Endmontage auf den Kunden blieben dem Konzern solche entsprechenden Kosten erspart.60

Ein weiteres Beispiel für eine fortgeschrittene Co-Produktion zeigt sich bei der Nutzung von komplexen Sachgütern. Im Zeitalter der Technik erfordern viele Produkte eine qualifizierte Beratung des Kunden vor Ort, dies gilt beispielsweise für den Elektrohandel. Allein bei der Auswahl und beim Kauf der Produkte brauchen Konsumenten «umfangreiche» und «sehr gute» Marktkenntnisse. Daneben sind «vielfältige» Kompetenzen auch für die Nutzung der Geräte, wie beispielsweise Digitalkameras, Fotohandys, Hi-Fi-Anlagen, DVD-Player usw., notwendig. Die Konsumenten müssen sich spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen, um ihre technischen Geräte überhaupt erst richtig und umfassend nutzen zu können.61

[19]

3.2. Aktuelle Entwicklungen: Erweiterte Auslagerung von

Tätigkeiten auf die Konsumenten

Wie bereits erwähnt, werde ich im zweiten Teil diesen Abschnittes zunächst zwei neue, fortgeschrittene Formen der Selbstbedienung vorstellen. Dabei handelt es sich um die Co-Produktion durch «virtuelle Produkte» und die Co-Produktion durch «User Communities». Beide Formen sind durch technische Entwicklungen und insbesondere durch die Einführung des Internets entstanden.

3.2.1. Co-Produktion durch «virtuelle Produkte»

Bei der Co-Produktion durch virtuelle Produkte wird der Kunde an der Produktentwicklung beteiligt und der Produktionsprozess richtet sich an den Wünschen des Kunden aus. Aufgrund der Integration in Wertschöpfungsaktivitäten kommt dem Kunden dabei die Rolle des Wertschöpfungs-Partners und/oder Co-Designers zu. Der Kunde als Wertschöpfungsempfänger wird somit gleichzeitig zum Mitakteur bei Wertschöpfungsaktivitäten seines Wunschproduktes.62

Hierfür werden oftmals die Begriffe «Mass Customization» und «virtuelle Produkte» verwendet. Der Ausdruck Mass Customization tauchte erstmals 1987 auf. Zu Deutsch heißt Mass Customization etwa kundenindividuelle Massenproduktion und defniniert sich als: «producing goods and services to meet individual customer's needs with near mass production efficiency».

Praktisch sind hierbei Formen der Kombination von Massenproduktion und Herstellung von Gütern nach Vorstellungen einzelner Kunden gemeint.63

[...]


[1] Die Begriffe «Kunde und Konsument» werden in der Diplomarbeit nicht systematisch differenziert.

[2] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 15.

[3] Ebenda, S. 16.

[4] Ebenda, S. 42.

[5] Vgl. Kaelble, H. (1997), S. 169.

[6] Vgl. Wünderich, V. (1997), S. 794.

[7] Vgl. König, W. (2000), S. 7.

[8] Vgl. Mikl-Horke, G. (2000), S. 10f.

[9] Vgl. Voß, G. (1993), S. 70.

[10] Vgl. König, W. (2000), S. 33f.

[11] Vgl. Mikl-Horke, G. (2000), S. 3.

[12] Vgl. König, W. (2000), S. 29f.

[13] Ebenda, S. 90f.

[14] Vgl. Berekoven, L. (1987), S. 30f.

[15] Ebenda, S. 39f.

[16] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 44.

[17] Vgl. Berekoven, L. (1987), S. 39f.

[18] Vgl. König, W. (2000), S. 96ff.

[19] Vgl. Grün, O. / Brunner, J. (2002), S. 46.

[20] Ebenda, S. 42.

[21] Vgl. ebd.

[22] Vgl. Grün, O. / Brunner, J. (2002), S. 45.

[23] Vgl. König, W. (2000), S. 173f.

[24] Ebenda, S. 100f.

[25] Vgl. Berekoven, L. (1987), S. 84f.

[26] Ebenda, S. 92f.

[27] Vgl. König, W. (2000), S. 102.

[28] Vgl. Statistisches Bundesamt (2003), S. 304.

[29] Vgl. Berekoven, L. (1987), S. 121.

[30] Ebenda, S. 122f.

[31] Ebenda, S. 133.

[32] Ebenda, S. 148.

[33] Vgl. Grün, O. / Brunner, J. (2002), S. 46.

[34] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 49.

[35] Ebenda, S. 47.

[36] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 47.

[37] Vgl. Ritzer, G. (2006), S. 21f.

[38] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 48.

[39] Vgl. Berekoven, L. (1987), S. 114.

[40] Vgl. König, W. (2000), S. 106f.

[41] Vgl. Berekoven, L. (1987), S. 110.

[42] Vgl. König W. (2000), S. 107.

[43] Vgl. ebd.

[44] Vgl. Berekoven, L. (1987), S. 110.

[45] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 47f.

[46] Ebenda, S. 49.

[47] Ebenda, S. 49f.

[48] Vgl. Grün, O. / Brunner, J. (2002), S. 23ff.

[49] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 50.

[50] Vgl. Toffler, A. (1980), S. 272.

[51] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 50.

[52] Vgl. Hillmann, K. (2003).

[53] Vgl. Gartner, A. und Riessman, F. (1978), S. 120.

[54] Ebenda, S. 220.

[55] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 50.

[56] Vgl. Berekoven, L. (1987), S. 123.

[57] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 51.

[58] Vgl. Grün, O. / Brunner, J. (2002), S. 44.

[59] Vgl. Mourkogiannis, N., Unger, S. und Vogelsang, G. (2.10.2007), [19.10.2007].

[60] Vgl. Voß, G. / Rieder, K. (2006), S. 53.

[61] Ebenda, S. 52.

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Zum Prinzip des "Arbeitenden Kunden"
Untertitel
Automatisierung von DL - Chancen und Risiken
Hochschule
Fachhochschule für Wirtschaft Berlin
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
106
Katalognummer
V89945
ISBN (eBook)
9783640818297
Dateigröße
1003 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Automatisierung, Chancen, Risiken
Arbeit zitieren
Diplom-Kauffrau Zuhal Düzgün (Autor:in), 2008, Zum Prinzip des "Arbeitenden Kunden", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89945

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