Die Rentenreform 2001 - Ein Paradigmenwechsel im deutschen System der Alterssicherung?


Bachelorarbeit, 2007

82 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Policy – Change 1., 2. oder 3. Ordnung? –
Zum theoretischen Analyserahmen des
Reformprozesses nach Hall

3. Historische Entwicklung des deutschen
Alterssicherungssystems und seiner
zentralen Policy Prinzipien bis 1997 –
Von Bismarck zu Kohl
3.1. Phase 1 - Von der Gründung bis zu Adenauer
3.2. Phase 2 – Von der Rentenreform 1957 bis Mitte
der 70-er Jahre
3.2.1. Die Begründung zentraler Policy Prinzipien in der
zweiten Phase
3.2.2. Fazit
3.3. Die dritte Phase bis 1997 – Reformen 1. und
2. Ordnung
3.4. Zusammenfassung

4. Der Zeitraum von 1997 bis 2001 –
Ein Paradigmenwechsel in der deutschen
Alterssicherungspolitik
4.1. Die Reformmaßnahmen der Jahre 1997 bis 1999
4.2. Die Riester - Reform 2001 und Folgegesetze
4.3. Die einzelnen Ebenen des Paradigmenwechsels
4.4. Zusammenfassung

5. Heureka, ein Paradigmenwechsel! – Wie
konnte es dazu kommen?
5.1. Sieben Faktoren auf dem Weg zum
Paradigmenwechsel

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Deswegen ist diese Reform die größte Sozialreform, die in der Nachkriegsgeschichte gemacht wurde“ (Walter Riester in der Frankfurter Rundschau vom 27.01.2000).

„Jeder siebte Deutsche hält „Riester“ für ein Computerprogramm zur Pensionsberechnung“ (Rheinische Post vom 07.11.2006).

Walter Riester, der ehemalige Arbeitsminister in der ersten Regierung Gerhard Schröders, würde die erste Äußerung mit großer Wahrscheinlichkeit auch heute noch so tätigen, über das Ergebnis der Umfrage jedoch zumindest die Stirn runzeln. Und dennoch kann man sich vorstellen, dass die Ambivalenz von „Jahrhundertreform“ auf der einen und „mangelnder Bekanntheit“ auf der anderen Seite eine weit verbreitete Wahrnehmung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre sechs nach Inkrafttreten eines Rentenreformwerkes ist, dessen Name für alle Ewigkeit mit seinem „politischen Vater“ in Verbindung gebracht werden wird: Die Riester -Rente. Während das Ergebnis der Umfrage eher ein Fall für Regierungsberater und PR-Strategen darstellt, so ist die Frage nach einer „Jahrhundertreform“ durchaus dafür geeignet, einer näheren wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen zu werden.[1]

Die Tatsache, dass Akteure im politischen System zur Anpreisung ihrer Tätigkeiten bzw. zur Diffamierung der Opposition des Öfteren zu einer Hyperbel greifen, kann nicht davon abhalten, zu fragen, warum es die damalige Regierung als unumgänglich ansah, die „größte Sozialreform“ im Nachkriegsdeutschland auf den Weg zu bringen. War das 1889 durch das Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung geschaffene System deutscher Alterssicherung, welches durch die Rentenreform 1957 seinen auf die gesetzliche Rentenversicherung (gRV) fixierten, „öffentlichen, umlagefinanzierten, lohn- und beitragsbezogenen“ (Hinrichs 2000, S. 291) Charakter bekam und zum Sinnbild des bundesrepublikanischen Sozialstaats wurde, Mitte der 90-er Jahre des vorherigen Jahrhunderts am Ende? Welche Herausforderungen ließen die Politiker daran zweifeln, dass eine „normale“ Reform nicht mehr ausreicht, um das bestehende System zu retten, sondern „die größte Sozialreform der Nachkriegsgeschichte“ her müsse, um den Herausforderungen zu begegnen?

Mitte der 90-er Jahre war das „goldene Zeitalter des Wohlfahrtstaates“, wie Esping-Andersen (1996) die Zeit der sozialstaatlichen Expansionsphase zwischen Ende des 2. Weltkrieges und dem Ende der 70-er Jahre des vorigen Jahrhunderts bezeichnete, längst vorüber. Vielmehr schien der Wohlfahrtsstaat in seine „nachexpansive Phase“ (Leisering 2006, S. 2) eingetreten zu sein. Der Wohlfahrtstaat im Allgemeinen sowie das System der gRV in der Bundesrepublik im Speziellen sahen sich einem ganzen Bündel von Faktoren ausgesetzt, welches ihre bisherige Ausgestaltung unter Druck setzte und in Frage stellte[2]:

- Ein generell verlangsamtes Wirtschaftswachstum und eine „Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsrate“ (Boeckh et al. 2004, S. 325) sorgten in vielen OECD-Ländern für einen rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit in den 90-er Jahren. Nach dem vorübergehenden Höchststand von über drei Millionen Arbeitslosen im Januar 1992 überstieg deren Anzahl die Grenze von vier Millionen zwei Jahre später, im Januar 1998 vermeldete die Bundesanstalt für Arbeit (heute: Bundesagentur für Arbeit) schließlich mit 4 823 200 Menschen den höchsten Stand an Arbeitslosen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Mit der hohen Arbeitslosigkeit einher ging eine sinkende Erwerbsbeteiligung von Menschen ab 55 Jahren. Dieser „Trend zur Frühverrentung“, der in vielen OECD-Ländern beobachtet werden konnte, sorgte dafür, dass die Anzahl der sich in Erwerbsarbeit befindlichen 60 bis 65-Jährigen bis heute auf ca. 20% von ehemals 66% im Jahre 1960 gesunken ist (vgl. Dünn/ Fasshauer 2001, S. 266). Da die Möglichkeiten zur Frühverrentung häufig als kurzfristiges Mittel zur Senkung der Arbeitslosigkeit benutzt werden, schlugen diese Kosten voll auf die gRV durch. So bezogen allein im Jahre 1997 800 000 Menschen eine Rente wegen Arbeitslosigkeit, die Kosten belaufen sich auf ca. 1zehn Milliarden Euro jährlich. Darüber hinaus sorgt hohe Arbeitslosigkeit in einem System, welches die Einnahmen an die Erwerbsarbeit gekoppelt hat, für sinkende Beiträge.[3] Folglich waren sowohl die Ausgaben- als auch die Einnahmeseite der gRV unter stärkeren Druck geraten.
- Parallel dazu wandte sich der Blick der politischen Akteure auf die strukturelle Veränderung im Altersaufbau der deutschen Gesellschaft. Unter dem Stichwort der „demographischen Veränderung“ wurde allgemein eine Entwicklung subsumiert, die eine Veränderung des Verhältnisses von jungen und alten Menschen zu Gunsten der älteren Bevölkerungsteile beschreibt - unsere Gesellschaft altert. Speziell für das Rentensystem bedeutete dies eine steigende Anzahl an Leistungsbeziehern bei gleichzeitiger Abnahme von Beitragszahlern. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch die sinkende Geburtenrate auf der einen und die steigende Lebenserwartung älterer Menschen auf der anderen Seite. Die Nettoreproduktionsrate pro Frau liegt heute bei etwa 0,64 (rechnerisch müssten zur Beibehaltung der jetzigen Bevölkerungszahl 2,1 Kinder pro Frau geboren werden), gleichzeitig nimmt die Lebenserwartung von Männern und Frauen kontinuierlich zu und wird bis 2030 im Durchschnitt auf ca. 84 Jahre anwachsen (vgl. Dünn/ Fasshauer 2001, S. 266).[4] Die Anzahl der über 60-jährigen Menschen an der Gesamtbevölkerung wird bis 2050 auf über 50% steigen, das Verhältnis von Menschen im erwerbsfähigem Alter (20 bis 59 Jahre) zu Menschen über 60 Jahre wird sich nahezu verdoppeln (vgl. Boeckh et al 2004, S.306). Der Trend zur Frühverrentung und die steigende Lebenserwartung sorgten darüber hinaus noch dafür, dass sich die durchschnittliche Rentenlaufzeit immer weiter verlängerte und die Kosten für die gRV weiter anstiegen.[5]
- Als zusätzliche Belastung der gRV seit den 90-er Jahren kamen auch noch Kosten der Wiedervereinigung hinzu. Durch so genannte Auffüllbeträge und Rentenzuschläge für die Rentner der ehemaligen DDR entstanden zwischen 1992 und 1998 Kosten in Höhe von ca. 20 Milliarden Euro. Die Gesamtkosten der Wiedervereinigung für die gRV werden bis zum Jahre 2003 kumuliert auf ca. 100 Milliarden Euro geschätzt (vgl. Mientus 2006, S. 77).

In Anbetracht dieser Herausforderungen schien der 1998 ins Amt gewählten rot-grünen Bundesregierung keine Maßnahme zu groß, um das deutsche System der Alterssicherung zu reformieren und für die zukünftigen Herausforderungen, wie sie oben dargestellt wurden, zu wappnen. Dies führt gleichsam zu der Frage, mit welchen Methoden die Tragweite einer Reform, die politisch als „Jahrhundertreform“ bzw. „größte Sozialreform im Nachkriegsdeutschland“ bezeichnet wird, auch wissenschaftlich so eingeordnet werden kann, dass man von einer „kleinen“ bzw. „großen“ Reform sprechen kann. Exakt an diesem Punkt setzt ein von Peter Hall (1993) entwickeltes „begrifflich-methodische Instrumentarium“ (Leisering 2006, S. 9) an, welches er für die Untersuchung der britischen Wirtschaftspolitik entwickelt hat. Anhand seiner Studie über den Wandel vom Keynesianismus zum Monetarismus in Großbritannien unter Thatcher arbeitet Hall die Bedeutung von Lernprozessen für die Entstehung und Entwicklung von policies heraus. Durch das von ihm entwickelte Instrumentarium lässt sich dabei eine Abstufung von Reformen je nach Grad ihrer „Innovativität“ durchführen und somit auf wissenschaftlichem Wege die Frage nach dem Ausmaß einer Reform beantworten. Hall unterscheidet dabei rein parametrische oder inkrementelle (First-Order Change und Second-Order Change) von solchen Reformen, die einen massiven Wandel innerhalb eines Politikfeldes zur Folge haben und bestehende Strukturen und Werte durch neue ersetzen. Diese Art von Reform nennt Hall Third Order Change oder Paradigm Shift (Paradigmenwechsel). Nach Hall sind diese Paradigmen maßgeblich für die Architektur eines bestimmten Politikfeldes. Er definiert sie als “a framework of ideas and standards that specifies not only the goals of policy and the kinds of instruments that can be used to attain them, but also the very nature of the problems they are meant to be addressing” (Hall 1993, S. 279).[6] Bricht man also die politische Charakterisierung auf das Hall’sche Vokabular herunter, so müsste die Rentenreform 2001 einen Paradigmenwechsel oder Third Order Change darstellen.

Ziel der vorliegenden Arbeit soll es sein, eben jene These des Paradigmenwechsels zu untersuchen. Das Ausmachen eines solchen Paradigmenwechsels erscheint aus mehreren Gründen interessant. In Verbindung mit dem deutschen Sozialstaat im Allgemeinen und dem Rentenversicherungssystem im Speziellen wird häufig eine Reformunfähigkeit attestiert. Das Stichwort der „Pfadabhängigkeit“ sozialstaatlicher Arrangements beschreibt die „Reformresistenz“ historisch eingeschlagener institutioneller Wege in Bezug auf institutionelle Innovationen: “Policy standstill and inability to reform have become bywords for the serious problems of modifying the German welfare state“ (Lamping/ Rüb 2004, S.185). Allenfalls parametrische bzw. inkrementelle Reformen der bestehenden Institutionen erscheinen möglich. Zeichnete sich die Nachkriegsphase vor allem durch eine massive Ausweitung des Wohlfahrtsstaates aus, so spricht die sozialwissenschaftliche Forschung heute, wie bereits angedeutet, von der „nachexpansiven Phase“ des Wohlfahrtstaates, dessen Wandel vielfach mit einer „Stagnationsthese“ gleichgesetzt wird.[7] Gerade auf Seiten von Wirtschafswissenschaftlern und Arbeitgebern wird diese institutionelle Resistenz sozialstaatlicher Arrangements als die Hauptursache für eine hohe Arbeitslosigkeit, wettbewerbsschädigende Lohnnebenkosten und ein schwaches Wirtschaftswachstum innerhalb Deutschlands angesehen: „Der Sozialstaat sei erstarrt und lähme die Gesellschaft“ (Leisering 2006, S. 3). Mit dem Nachweis eines paradigmatischen Wechsels in der Alterssicherungspolitik könnte dieser weit verbreiteten These entgegengetreten und ein Beitrag zu einem differenzierten Blick auf die deutsche Reformfähigkeit und -debatte geleistet werden. Neben dem „Ob“ ist auch die Frage nach dem „Wie“ des Wandels, also die Prozessebene interessant. Falls ein Paradigmenwechsel festgestellt werden kann, so ist unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten von großer Bedeutung, unter welchen politischen Umständen und institutionellen Rahmenbedingungen eine weitgehende Reform möglich ist. Auch hier bietet die Studie von Hall Anknüpfungspunkte.[8]

Um den Nachweis eines Paradigmenwechsels in der deutschen Alterssicherungspolitik führen zu können, wird im folgenden Kapitel (2) zunächst ein detaillierter Blick auf den theoretischen Analyserahmen des Reformprozesses geworfen: Welche Arten von Wandel bzw. Reformen gibt es in Anlehnung an Hall? Wie unterscheiden sie sich und welche Probleme ergeben sich bei der Abgrenzung? Um die Frage eines Paradigmenwechsels im Jahre 2001 beantworten zu können, erfolgt im dritten Kapitel die Herausarbeitung jener zentraler Policy Prinzipien, die vor der hier untersuchten Rentenreform das Politikfeld der Alterssicherung in Deutschland prägten. Die Ära dieser traditionellen Paradigmen, für welche im Jahre 1889 der Grundstein gelegt wurde (Kapitel 3.1.), endete im Jahre 1997. Insgesamt lassen sich neben der bis 1957 andauernden „Vorläuferphase“ noch zwei weitere große Phasen identifizieren, die sich durch die Begründung zentraler Policy Prinzipien bis Mitte der 70-er Jahre (Kapitel 3.2.) sowie eine Phase inkrementeller Reformen bis zum Ende 1996 (Kapitel 3.3.) auszeichnen. Im Anschluss werden die wichtigsten Erkenntnisse in einer Zusammenfassung gebündelt (Kapitel 3.4.). Im vierten Kapitel erfolgt die Beschäftigung mit der Rentenreform 2001 und der Frage, ob hier ein Paradigmenwechsel erfolgt. Bevor die maßgeblichen Reformmaßnahmen und ihre Folgegesetze vorgestellt werden (Kapitel 4.2.), wird in Kapitel 4.1 kurz die unmittelbare Phase vor Beginn der eigentlichen Reformdebatte im Jahre 1999 beleuchtet. Es wird vermutet,, dass in der Phase vor und während des Regierungswechsels 1998 Prozesse stattfanden, die dem Paradigmenwechsel den Weg bereiteten. Anschließend erfolgt eine ausführliche Analyse der Reformergebnisse hinsichtlich ihrer Tragweite in den Kategorien von Hall. Findet tatsächlich ein Wandel dritter Ordnung statt? Falls ja, welche neuen Prinzipien treten durch die Reform an die Oberfläche und welche Instrumente sollen den neuen Paradigmen zur Durchsetzung verhelfen (Kapitel 4.3.)? Nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse (Kapitel 4.4.) steht im folgenden Abschnitt die Frage nach dem „Wie“, nach Prozessen, institutionellen Rahmenbedingungen und Akteurskonstellationen im Vordergrund (Kapitel 5), die einen Paradigmenwechsel ermöglichen. Können die in der Forschung als für einen Paradigmenwechsel notwendig erachteten Faktoren auch im Rahmen der Rentenreform 2001 identifiziert werden? Abschließend werden im Fazit (Kapitel 6) die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und dargestellt, in wiefern die Ergebnisse Antwort auf die Eingangs gestellten, die Arbeit anleitenden Fragen liefern können. Auch soll in aller Kürze ein Ausblick auf etwaige, sich aus der Rentenreform neu ergebende Aufgaben („Wohlfahrtmärkte“) für das politische System sowie die zukünftige Richtung des Alterssicherungssystems der Bundesrepublik gegeben werden.

2. Policy-Change 1., 2. oder 3. Ordnung? – Zum theoretischen Analyserahmen des Reformprozesses nach Hall

In der politikwissenschaftlichen und soziologischen Forschung ist in den vergangenen Jahren ein aufkommendes Interesse an der Rolle von Ideen und Wissen innerhalb des politischen Prozesses sowie ihr Einfluss auf politischen Wandel und Reformprozesse zu verzeichnen.[9] Immer häufiger wird dabei auch das von Hall für das Politikfeld „Wirtschaftspolitik“ eingeführte Instrumentarium auf den Bereich der Sozialpolitik übertragen. Leisering etwa analysiert unter Berücksichtigung der Hall’schen Kategorien die Reform der deutsche Sozialhilfe im Zeitraum von 1990 bis 2005 und kommt zu dem Schluss, dass „tatsächlich ein tief greifender Wandel, eine echte Reform der deutschen Sozialhilfe stattgefunden hat“ (Leisering 2006, Kap. 23 S. 1).

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, versteht Hall unter Policy Paradigms „a framework of ideas and standards“ (Hall 1993, S. 279), welche neben den angestrebten Zielen und die zur Erreichung dieser Ziele abgeleiteten Instrumente bestimmen, sondern auch die ein Politikfeld konstituierende Problemstellung vorgeben. Policy Paradigms stellen demnach so etwas wie „Grund prinzipien oder (ein) Normensystem“ dar, im Hinblick auf die Anwendung des Instrumentariums für das Politikfeld „Alterssicherung“ kann man auch von „sozialpolitischen Leitbildern“ (Lamping/ Rüb 1993, S. 94) sprechen.[10]

Das von Hall eingeführte Instrumentarium erlaubte ihm, den Zeitpunkt eines tatsächlichen Wechsels in einem dominanten Paradigma von bloßen „inkrementellen“ Reformen anhand charakteristischer Kriterien zu unterscheiden. Diesen Kriterien und Charakteristika widme ich mich im Folgenden.

Hall sah Wandel generell nicht zwangsläufig als Antwort auf objektive Fakten und Problemstellungen, sondern als die Folge eines Lernprozesses mit Referenz zu vorangegangenen Policies. Diese Lernprozesse können auf allen Ebenen des politischen Prozesses stattfinden, welcher nach Hall charakteristischerweise drei Ebenen umfasst:

“overarching goals, techniques or policy instruments to attain those goals, and the precise setting of these instruments“ (Hall 1993, S.278). Demnach findet ein Wandel 1. Ordnung (“First-Order Change”) dann statt, wenn “the settings of the government’s policy instruments were modified”. Ein Wandel 2. Ordnung (“Second-Order Change”) ist dann auszumachen, “when the instruments as well as their settings are altered in response to past experience even though the overall goals remain the same”. Der Wandel 3. Ordnung (Third Order Change oder Paradigm Shift) umfasst schließlich “simultaneous changes in all three components of policy: the instrument settings, the instruments themselves, and the hierarchy of goals behind policy” (ebd., S. 278 f.). In Anlehnung an Leisering (2006) erscheint es sinnvoll, für eine Analyse im Bereich der Sozialpolitik eine vierte Ebene des Wandels mit einzubeziehen. Im Hinblick auf die hohe Bedeutung „institutioneller Strukturen und der vielfältigen Akteure “ für sozialstaatliche Arrangements nimmt sich ein Wandel des Politikfeldes auf dieser Ebene wie das „Korrelat eines Paradigmen Shifts“ aus: „Entsprechend ist in der Sozialpolitik die Veränderung von institutionellen- und Akteursarrangements eher Bestandteil des Zielhorizonts von Policy-Making, also gleichsam eine vierte Ordnung von Policy Change“ (Leisering 2006, Kap1. S. 10; eigene Hervorhebung).

Den maßgeblichen Unterschied zwischen einem Wandel erster bzw. zweiter Ordnung und einem Paradigmenwechsel auf Ebene der politischen Prozesse sieht Hall darin, dass sich Erstere vor allem durch „routinized decision making” auszeichnen, während ein Paradigmen Shift einen “disjunctive process” darstellt. Ein Wandel von Parametern oder Instrumenten lässt sich daher unter „normal policymaking“ subsumieren, der von inkrementellen Anpassungsprozessen und breiten Kontinuitätslinien geprägt ist und zumeist auf Ebene von Experten aus Ministerien und Verbänden geplant und entworfen wird. Einem Wandel dritter Ordnung hingegen geht ein “radical change in the overarching terms of policy discourse“ voraus. Der Weg zu einem Paradigmen Shift ist ein hochpolitischer Prozess, in den Politiker, Medien und andere gesellschaftliche Kräfte involviert sind (vgl. Hall 1993, S. 287 f.).

Weiterhin stellt Hall verschiedene Faktoren heraus, welche einen Paradigmenwechsel begünstigen und somit wahrscheinlicher machen. Dazu zählen eine “accumulation of anomalies“ bezüglich der Kohärenz und der Erklärungskraft des alten Paradigmas, “policy failures“ oder auch ein “shift of authority“ (vgl. Hall 1993, S. 280).[11]

Trotz seiner Übersichtlichkeit und der klaren Angrenzung der unterschiedlichen Dimensionen eines Wandels ist das Hall’sche Instrumentarium in einigen Punkten nicht ganz „eindeutig“. So wird etwa keine Aussage darüber getroffen, ob sich ein Paradigmenwechsel innerhalb eines begrenzten Zeitraumes gleichsam als Konsequenz eines „großen Reformwerkes“ vollzieht oder auch eine Akkumulation von Reformen erster und zweiter Ordnung über eine längere Zeitspanne dazu führen kann, dass sich der Paradigmen Shift nicht über Nacht, sondern über Jahre einstellt. Der Beantwortung dieser Frage wird in Kapiteln 3.2.1 und 3.2.2 nachgegangen, wenn die Analyse der Reformen und der Entwicklung der Alterssicherung zwischen Ende der 70-er und Mitte der 90-er Jahre beleuchtet wird. Darüber hinaus ist es vielfach nicht ganz eindeutig, wann etwa eine bestimmte Maßnahme bzw. Norm ein Instrument oder doch ein Ziel im Sinne der Definition Halls darstellt oder ob ein Gesetz nun lediglich eine Veränderung eines bestehenden Instrumentes herbeiführt bzw. ein neues Instrument entstehen lässt. Diese Problematik wird in den Kapiteln 3 und 4 deutlicher, wenn es um die Herausarbeitung der Policy Prinzipien vor und nach der Reform 2001 geht.

3. Historische Entwicklung des deutschen Alterssicherungssystems und seiner zentralen Policy Prinzipien bis 1997 – Von Bismarck zu Kohl

Hall hat den Wandel vom Keynesianismus zum Monetarismus in Großbritannien als einen Paradigmenwechsel beschrieben, der sich von rein inkrementellen Reformen auf Ebene der Instrumente, welche zur Erreichung eines bestimmten Ziels eingesetzt werden und Reformen, welche diese Instrumente auf der Ebene der Parameter an veränderte Bedingungen anpassen, unterscheidet. Kommt es zur Ablösung eines bestimmten Paradigmas, dominanter Ideen und Normen, so geht diese Entwicklung einher mit der Schaffung neuer Instrumente, um das neue Paradigma, das neue Ziel innerhalb eines Politikfeldes, effizient zu erreichen.

Folglich gilt auch für das Politikfeld der Alterssicherung, unterstellt man die Möglichkeit eines Paradigmenwechsels durch eine Reform, dass zunächst die ursprünglichen Ziele und Normen, die vor der Reform das Politikfeld und seine Ausrichtung dominierten, identifiziert werden müssen, um im Anschluss daran einen Vergleich mit den nach der Reform bestehenden Prinzipien durchführen und die These eines Paradigmenwechsels verifizieren oder gegebenenfalls falsifizieren zu können. Dazu wird im folgenden Abschnitt die historische Entwicklung des deutschen Alterssicherungssystems, genauer der gRV, welche bis Ende des vergangenen Jahrhunderts (fast) ausschließlich für die Sicherung des Einkommens im Alter verantwortlich war, sowie der ihr zugrunde liegenden Policy Prinzipien in ihren wichtigsten Schritten nachgezeichnet. Im Mittelpunkt der Darstellung sollen weniger die politischen Prozesse oder gesellschaftlichen Debatten um die gRV, als - im Hinblick auf das Ziel der Arbeit - die zentralen Reformprojekte und ihre Einordnung in die Kategorien von Hall stehen. Die lange Zeitspanne von der Entstehung der gRV im Jahre 1889 bis zum Jahre 1997 kann dabei in drei kleinere Phasen mit unterschiedlichen Charakteristika aufgeteilt werden:

- Die erste Phase beginnt mit der Gründung der gRV 1889 und endet mit der „großen Rentenreform 1957“ (Kapitel 3.1). In dieser Zeit wurden einige Weichenstellungen vorgenommen, die bis heute fortwirken.
- Die zweite Phase beginnt mit der Rentenreform 1957 und endete Mitte der 70-er Jahre (Kapitel 3.2). In dieser Phase wurde die gRV zum Eckstein des deutschen Sozialstaats ausgebaut und bekam ihre bis Ende des vergangenen Jahrhunderts währende, charakteristische Prägung. Folglich fällt auch in diese Phase die Ausbildung der zentralen Policy Prinzipien (Kapitel 3.2.1).
- Die dritte Phase beginnt im Anschluss daran und endet im Jahre 1996 (Kapitel 3.3). Diese Phase ist gekennzeichnet durch sich ändernde ökonomische Rahmenbedingungen und steigenden Konsolidierungsdruck auf die gRV. Die bis Mitte der 70-er Jahre gefestigte Normenstruktur bleibt trotz des Aufkommens der Debatte um die Höhe des Beitragssatzes bestehen.

Die hinter dieser Einteilung gewählte These lautet, dass die bis Mitte der 70-er Jahre eingeführten und gefestigten Policy Prinzipien auch durch die zahlreichen Reformen bis zum Jahre 1997 in ihrem Kern nicht angetastet wurden. Trotz der Debatte um die Höhe des Beitragssatzes in den 90-er Jahren konnten bis Ende der dritten Phase „alle Angriffe auf die policy paradigms abgewehrt und Reformen im System gegenüber einem Systemwechsel durchgesetzt (werden)“ (Hinrichs 2001, S.8; Hervorhebung im Original).

3.1. Phase 1 - Von der Gründung bis zu Adenauer

Das durch das Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Alterssicherung im Jahre 1889 geschaffene Alterssicherungssystem war nicht die Konzeption, welche Bismarck ursprünglich ersonnen hatte. Ihm schwebte eine aus Steuergeldern finanzierte Staatsbürgerrente vor (vgl. Schmähl 2004, S. 381f.). Stattdessen setzte man auf einen nach heutiger Terminologie bezeichneten „Multi-Pillar-Approach“, einer Verteilung der Einkommen im Alter auf verschiedene Säulen: Die beitragsfinanzierte Sozialversicherungsrente, welche sich an der individuellen Einkommenssituation auf dem Arbeitsmarkt orientierte, wurde ergänzt durch eine staatliche Säule in Form eines steuerfinanzierten Grundbetrages. Hinzu kamen partiell gewährte Betriebsrenten sowie die finanzielle Unterstützung durch die Familie (vgl. Nullmeier/ Rüb 1993, S. 95 und Hinrichs 2003, S. 5 Ms). Finanziert wurde die Rente durch ein Abschnittsdeckungsverfahren. Über einen Zeitraum von zehn Jahren sollte bei einem konstanten Beitragssatz ein gewisser Vermögensbestand akkumuliert werden. Eine Anpassung der Bestandsrenten an steigende Lebenshaltungskosten war nicht vorgesehen. Ebenfalls war die Höhe der gewährten Renten so gering, dass in größeren Städten erhebliche Versorgungslücken im Vergleich zum vorherigen Arbeitseinkommen entstanden. Diese Tatsachen zeigen deutlich das Policy Prinzip auf, welches hinter der gewählten Konzeption stand: Armutsvermeidung bzw. die Gewährung einer Teilrente, um eine Einschränkung der Erwerbsarbeit im Alter zu ermöglichen (vgl. Döring 2000, S. 169 f.). Die parametrische Ausgestaltung der oben genannten Instrumente war dementsprechend niedrig gewählt.

Darüber hinaus kam es zu weiteren „Weichenstellungen“, die bis in die heutige Zeit nachwirken. Dazu zählen sowohl das Fehlen unterschiedlicher Beitragssätze für Männer und Frauen (neudeutsch: Unisex-Tarife), die ergänzende Finanzierung der Rentenversicherung durch Steuermittel sowie die Einführung der paritätischen Finanzierung von Sozialversicherungsbeiträgen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer (vgl. Schmähl 2004, S. 380f.). Ein weiterer Markstein, der in diese Phase fällt, ist die Einführung einer Hinterbliebenenversicherung sowie die Einführung einer Angestelltenversicherung und die damit einhergehende organisatorische und rechtliche Trennung von Arbeitern und Angestellten in den Jahren 1911 bzw. 1927 (vgl. Nullmeier/ Rüb 1993, S. 94).[12] Die Zeit der beiden Weltkriege und der unmittelbaren Phase nach 1945 kann hier aus Platzgründen nicht weiter beleuchtet werden. Die 1889 implementierte Form wurde jedoch bis zum Jahre 1957 im Wesentlichen beibehalten.

3.2. Phase 2 – Von der Rentenreform 1957 bis Mitte der 70-er Jahre

Mit der Rentenreform des Jahres 1957 wurde der Eckstein des deutschen Sozialstaates nach dem Krieg begründet. Mit der enormen Leistungsausweitung sollte„die Legitimation der demokratischen Grundordnung […] durch die Realisierung sozialer Sicherheit“ (u.a. Hinrichs 2003, S. 6 Ms) erreicht werden. Flankiert von „strukturellen Ergänzungen und Korrekturen bis Mitte der 70-er Jahre“ (Ruland 2000, S. 28) festigte sich das charakteristische Bild der Alterssicherung in Deutschland, repräsentiert durch das dominierende staatliche System der gRV.

Zunächst sollen einige Merkmale des Alterssicherungssystems ab 1957 (bis 1997) dargestellt werden. Nach Boeckh et. al. (2004, S. 306ff.) bestand das Alterssicherungssystem auch nach der Rentenreform 1957 aus drei Säulen[13]. Die erste Säule stellten die Regelsysteme der gRV dar. Hier sind alle Angestellten und Arbeiter seit 1967 pflichtversichert. Durch das Rentenreformgesetz 1972 (RRG 1972) wurde die gRV auch für Selbstständige und Freiberufler geöffnet, bei denen für unterschiedliche Berufsgruppen differenzierte Vorschriften gelten.[14] Die Einkommensgrenze, bis zu der die Versicherungspflicht gilt, lag 2006 im Westen Deutschlands bei 5250€, im Osten bei 4400€ monatlich. Der Beitragssatz, der vom Einkommen zur Finanzierung der Renten erhoben wird, lag im selben Jahr bei 19,5%. Die Finanzierung erfolgt, wie bereits seit der Gründung 1889 festgelegt, paritätisch durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Beamtenpensionen werden dagegen nicht durch Beiträge, sondern aus dem Steueraufkommen finanziert. Die zweite Säule bestand aus den betrieblichen Vorsorgemaßnahmen. Diese konnten entweder freiwillig oder über die Tarifpartner abgeschlossen werden. Die einzige gesetzliche Regelung der betrieblichen Renten erfolgte 1974 mit dem Betriebsrentengesetz und enthielt unter anderem Vorgaben zur Unverfallbarkeit der Anwartschaften. Die dritte Säule privater Vorsorge subsumierte Leistungen aus Lebensversicherungen, Zinseinkünften oder Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung, ohne dabei eine spezifische Grenzen zu anderen Möglichkeiten des Sparens zu ziehen. Eine deutliche Unterscheidung zwischen Altersvorsorge und reiner Vermögensbildung war somit kaum möglich.[15] Das Leistungsspektrum der gRV umfasst die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Rehabilitation (§9ff. SGB VI) sowie die unterschiedlichen Rentenarten, die in einer Übersicht auf der nächsten Seite zusammengefasst werden. Im Folgenden wird nun im Detail auf die einzelnen Regelungen der Reform von 1957 eingegangen und eine Systematisierung anhand der Kategorien von Hall vorgenommen.

Überblick über die Rentenarten nach §33 ff. SGB VI

3.2.1. Die Begründung zentraler Policy Prinzipien in der zweiten Phase

Die Literatur über die grundlegenden Policy Prinzipien, Normen und Standards im deutschen Alterssicherungssystem nach der Rentenreform 1957 ist zahlreich, aber doch von großer Übereinstimmung über die grundlegenden Ziele geprägt (Nullmeier/ Rüb 1993, Abelshauser 1996, Kohli 1989, Viebrock 2001). Ihre Darstellung dient als Ausgangspunkt, um im Verlauf der Arbeit den möglichen Paradigmenwechsel im Jahre 2001 identifizieren zu können.

Als das wichtigste Policy Paradigm und somit Ziel, welches nach der Rentenreform von 1957 das Politikfeld der Alterssicherung in Deutschland dominierte, kann die Lebensstandardsicherung ausgemacht werden: „Grundgedanke war die materielle Absicherung nach endgültiger Aufgabe der Erwerbsarbeit […] ohne jegliche Mindest- oder Grundsicherungselemente“ (Nullmeier/ Rüb 1993, S.95). Fortan sollte die Rente eine Form von Lohnersatz darstellen. Seine normative Entsprechung fand dieses Sicherungsziel im so genannten Eckrentner, der nach 40-jähriger Erwerbsarbeit und einem durchschnittlichem Bruttoverdienst ein Rentenniveau von 60% eben dieses Bruttoverdienstes erreichen konnte.[16] Ein solches System, welches ein gewisses Sicherungsniveau für die Phase des Ruhestandes verspricht, bezeichnet man als „defined benefit type“.[17] Vergleicht man diese Zielausrichtung mit der ursprünglichen Konzeption von 1889, so kann hier von einem Wandel 3. Ordnung oder Paradigmenwechsel gesprochen werden. Stand 1889 noch das Ziel der Armutsvermeidung im Vordergrund, so sollte nach 1957 die Sicherung des Lebensstandards im Alter dominieren. Wie die Normierung des Eckrentners deutlich zeigt, wurde hier der Weg einer Verknüpfung von Rentenhöhe und vormaliger Stellung auf dem Arbeitsmarkt gewählt. Nullmeier/ Rüb (1993, S.96) sprechen daher von einer „einkommensmäßigen Statussicherung auf im Alter bedarfsbedingt vermindertem Niveau“.

Durch die Betonung eines relationalen Rentenniveaus steht das Ziel der Lebensstandardsicherung in einem engen Verhältnis zu einem zweiten, dominierenden Policy Paradigm nach 1957: Dem Versicherungsprinzip mit dem Ziel, eine Äquivalenz von Beitrag und Leistung zu erreichen. Nur die Vorleistung in Form von Einkommenserzielung auf dem Arbeitsmarkt, so das Ziel, sollte dazu berechtigen, später eine Rente beziehen zu dürfen (vgl. Boeckh et. al. 2004, S. 302 und Döring 2002, S.18).[18] Ergänzt wird die Bedeutung der relativen Position auf dem Arbeitsmarkt für die Höhe der Renten durch eine absolute Zeitkomponente. Nur eine Normalerwerbsbiographie in Form einer qualifizierten, dauerhaften und ununterbrochenen Beschäftigung führt zu einer Statussicherung im Alter. Die diesem Paradigma zu Grunde liegende Gerechtigkeitsnorm wird daher als Leistungsgerechtigkeit oder auch Teilhabeäquivalenz bezeichnet, Leistung mit der Höhe des Einkommens gleichgesetzt (vgl. Nullmeier/ Rüb 1993, S.97).

Das Instrument, welches sowohl die Lebensstandardsicherung als auch das Äquivalenzprinzip zu seiner Wirkung verhelfen soll, ist die Rentenformel mit Bezug zum Bruttolohn. Die Rentenformel bestand in ihrer damaligen Konzeption aus vier Faktoren, welche miteinander multipliziert wurden (vgl. Abelshauser 1996, S. 386 f. und Schmähl 2004, S. 386 f.): Der erste Faktor war die individuelle Einkommensposition über die gesamte Erwerbsbiographie betrachtet, ermittelt durch die Relation aus individuellem Einkommen und dem Einkommen aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesem Zeitraum. Den zweiten Faktor stellte die absolute Bemessungsgrundlage dar. Diese Größe ergab sich aus dem durchschnittlichen Jahresbruttogehalt aller Versicherten im Mittel der vergangenen drei Jahre.[19] Als dritter Faktor wurde die Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre in die Rentenformel eingebaut. Neben der absoluten Zahl der Erwerbsjahre wurden auch solche Zeiten für diesen Faktor relevant, die als beitragslose Zeiten vom Gesetzgeber für anrechnungsfähig erklärt wurden, so z.B. Zeiten der Ausbildung. Der vierte Faktor, der so genannte Steigerungssatz. stellte das „sozialpolitisch gewollte Sicherungsniveau“ der unterschiedlichen Rentenarten dar. So galt für die Altersrenten zum Beispiel der Faktor 1,5, für Berufsunfähigkeitsrenten der Faktor 1,0 (vgl. Nullmeier/ Rüb 1993, S. 100). Eine Kombination von durchschnittlichem Bruttoverdienst und 40 Jahren Erwerbsarbeit ergab somit die Möglichkeit, für eine Altersrente mit dem Steigerungssatz von 1,5 auf 60% des lebensdurchschnittlich erreichten Einkommens zu kommen.

Im Vergleich zu 1889 kann somit unter Berücksichtigung von Halls Kriterien von einem Wandel 3. Ordnung gesprochen werden, der sich sowohl durch die Veränderung der Instrumente als auch die Ablösung eines Paradigmas auszeichnet. Das Ziel der Armutsvermeidung durch das Instrument einer staatlichen Grundsicherung (in Kombination mit einer schwachen lohnbezogenen Komponente) unter Festlegung einer absoluten Sicherungsgröße wird durch das Ziel der Lebensstandardsicherung und Leistungsäquivalenz in Form des Versicherungsprinzips und durch die Konzentration auf die lohnbezogene Komponente als relationale Sicherungsgröße innerhalb der Rentenformel (Instrument) ersetzt. Ein weiteres Instrument, um den Lebensstandard zu jeder Zeit sichern zu können, war die Beitragsfinanzierung. Die Kopplung des Beitrages an die Erwerbseinkommen ermöglichte es, flexibel auf veränderte Rahmenbedingungen wie etwa Preissteigerungen zu reagieren und zu jeder Zeit durch eine einfache Anpassung der Höhe des Beitragssatzes das Ziel der Lebensstandardsicherung zu gewährleisten. Diese politische gewollte Abhängigkeit der Variable „Beitragssatz“ vom Sicherungsziel „Lebensstandard“ orientierte sich an einem „Leistungsprimat“ (Schmähl 2004, S. 392). Verallgemeinert war es politischer Konsens, erst die Leistungen zu beschließen und anschließend die Finanzierung über den Beitragssatz „zu regeln“. Auf diese Weise wurde ein weiteres Prinzip begründet, dass konstitutiv für die gRV nach 1957 war: Die ausgabenorientierte Einnahmepolitik. Diesem Grundsatz folgend kam es dann ab 1957 zu mehreren Erhöhungen des Beitragssatzes, um Lohnersatzfunktion und Leistungsausweitungen zu finanzieren, was einem Wandel 1. Ordnung durch parametrische Anpassungen entspricht.[20]

[...]


[1] Natürlich kann unter Gesichtspunkten der politischen Kommunikation interessant sein, warum ein in der Politik als „Jahrhundertreform“ gepriesenes Gesetzeswerk sechs Jahre nach seiner Implementation bei rund zehn Millionen Bundesbürgern nicht „richtig angekommen“ ist. Die vorliegende Arbeit wird sich jedoch ausschließlich der Frage widmen, ob die Reform das Prädikat „Jahrhundertreform“ auch verdient.

[2] Diese Aufzählung der Herausforderungen für die gRV bzw. den Sozialstaat im Allgemeinen finden sich bei vielen Autoren (Viebrock 2001, Dünn/Fasshauer 2001, Ruland 2000, Boeck et. al 2004) und bedarf daher keiner detaillierten Erörterung. Damit ist jedoch noch keine Aussage über den Einfluss dieser „Probleme“ als Auslöser von Reformen getroffen. Ob die in der politischen Debatte als Begründung für die Reform vorgebrachten Probleme tatsächlich eine objektive und somit unumgehbare Reformkausalität enthielten und welche Rolle die subjektive Deutung politischer Akteure hierbei spielt, siehe Kapitel 5.

[3] Die Finanzierung der gRV erfolgt zu einem Großteil aus dem so genannten Umlageverfahren. Die erwerbstätige Generation finanziert über an das Einkommen gekoppelte Beiträge die Renten der nicht mehr Erwerbstätigen („Generationenvertrag“). Detailliert dazu siehe S. 17 f.

[4] Heute liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei 81,9 Jahren. Die Lebenserwartung für 65-jährige Männer ist seit Anfang der 60-er Jahre um 2,3, für Frauen sogar um 3,9 Jahre gestiegen (vgl. ebd.).

[5] 1960 lag die durchschnittliche Rentenlaufzeit bei ca. 10 Jahren, Ende 1999 schon bei ca. 16 Jahren und heute noch ein wenig darüber (vgl. VDR 2006, S. 132 ff.).

[6] Für die Einleitung soll diese Definition ausreichen. In Kapitel 2 erfolgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Hall’schen Methodik.

[7] Als weitere Thesen zum Wandel des Sozialstaates seien die „Abbauthese“ sowie die „Umbauthese“ genannt. Für einen Überblick über die aktuelle Diskussion und die unterschiedlichen Argumentationslinien vgl. Leisering 2006, S.2 ff.

[8] Vgl. Kapitel 2 und 5.

[9] Erwähnt sei hier nur für die Politikwissenschaft im Bereich der Internationalen Beziehungen der steigenden Einfluss konstruktivistischer Theorien zur Erklärung von Reformen (Schimmelpfenning 2001, Sedelmeier 2001) bzw. der Einfluss von Ideen in der soziologischen Erforschung des Sozialstaates (Bönker 2005, Hinrichs 2003 Ms).

[10] Die Begriffe Policy Paradigm und Policy Prinzip werden im Folgenden daher synonym verwendet.

[11] Zu einer genaueren Analyse dieser Faktoren vgl. Kapitel 5.

[12] Eine intensivere Berücksichtigung dieser Faktoren im Hinblick auf die Hall’schen Kategorien erfolgt in Kapitel 3.2.2.

[13] Das es de facto drei Säulen (staatliche, betriebliche und private) gab, lässt sich nicht leugnen und soll für die reine Darstellung in diesem Abschnitt nicht stören. Unter Berücksichtigung des Beitrages der einzelnen Säulen zum Alterseinkommen sowie dem Schwerpunkt der politischen Maßnahmen muss jedoch von einem „One-Pillar-Approach“ gesprochen werden. Detailliert dazu siehe Kapitel 3.2.2 sowie 4.2.

[14] Die ursprüngliche Version der Bismarck’schen Sozialversicherung beschränkte sich auf abhängig Beschäftigte. Die Öffnung für Selbstständige kann somit im Vergleich zu 1957 als ein Paradigmenwechsel beschrieben werden. Als Vergleichszeitraum für einen möglichen Paradigmenwechsel 2001 wird hier jedoch die Phase bis Mitte der 70-er Jahre gewählt, so dass der Mitte der 70-er Jahre gültige Versichertenkreis als Referenz betrachtet und diese Maßnahme nicht weiter ausgeführt wird.

[15] Dies ändert sich erst durch die im Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorgeverträgen (AltZertG) niedergelegten Kriterien zur Unterscheidung von Altersvorsorgeprodukte mit der Möglichkeit staatlicher Federung und „unspezifischen“ Vorsorgemaßnahmen.

[16] Trotz der dominanten Rolle des Eckrentners in der öffentlichen Debatte um das Rentenniveau darf nicht der Eindruck entstehen, dieser Typus von Rentner sei der am weitest verbreitete. Dies war nie der Fall und entspricht auch heute noch nicht der Realität. Im Jahre 2002 etwa bezogen 50% der männlichen Rentner eine Rente, die unter 1000€ und somit dem Niveau des Eckrentners von 1060€ lag (vgl. auch zum Überblick über die unterschiedlichen Einkommenslagen der Älteren Schmähl 2005).

[17] Im Gegensatz dazu bezeichnet man ein System, welches nur die eingezahlten Beiträge garantiert, als „defined contribution type“.

[18] De facto wurde diese strenge Verknüpfung nie durchgehalten, da in Konkurrenz zum Äquivalenzprinzip auch das Solidarprinzip als ein Paradigma der Alterssicherungspolitik dafür sorgte, dass Leistungen abseits des Arbeitslebens zum Erhalt einer Rente berechtigten. Siehe dazu S. 18 f.

[19] Abelshauser (1996, S. 389) und Schmähl (2004, S. 386) merken an, dass sich durch die dreijährige Verzögerung der Anpassung (so genannter time lag) das Leistungsniveau der gRV nie beim angestrebten Ziel von 60%, sondern ungefähr bei 40-50% der Bruttolohnentwicklung lag. Diese Tatsache führt unter anderem dazu, dass ab 1972 eine Niveausicherungsklausel dem Gesetzgeber verpflichtete, das Standardrentenniveau nicht unter 45 bzw. 50% sinken zu lassen.

[20] So „kosteten“ die sofortige Anhebung der Renten durch die Reform 1957 eine Beitragssatzanstieg von 3% (von 11 auf 14%), die 1972 beschlossenen, leistungserweiternden Maßnahmen einen Anstieg von 17 auf 18% (vgl. Ruland 2000; S. 28 ff.).

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Die Rentenreform 2001 - Ein Paradigmenwechsel im deutschen System der Alterssicherung?
Hochschule
Universität Bielefeld  (Fakultät für Soziologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
82
Katalognummer
V89376
ISBN (eBook)
9783638026710
ISBN (Buch)
9783638924405
Dateigröße
764 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Auszeichnung der Fakultät für Soziologie als beste Abschlussarbeit.
Schlagworte
Rentenreform, Paradigmenwechsel, System, Alterssicherung
Arbeit zitieren
Bachelor of Arts Bastian Linsen (Autor:in), 2007, Die Rentenreform 2001 - Ein Paradigmenwechsel im deutschen System der Alterssicherung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89376

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