Der Selbstmord als Makrophänomen am Beispiel des egoistischen Selbstmordes nach Emile Durkheim


Seminararbeit, 2005

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definition des Begriffes ‚Selbstmord’

3. Der Selbstmord als Makrophänomen nach Emile Durkheim
3.1. Integration als beeinflussender Faktor für die Selbstmordrate
3.2. Der egoistische Selbstmord

4. Spätere Stimmen und Kritik zu Durkheim

Literatur

Quellen

Sekundärliteratur

1. Einleitung

Das Phänomen des Selbstmordes kann von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachtet werden. Man kann nach den persönlichen, psychologischen Ursachen suchen, die eine einzelne Person dazu bringen, sich das Leben zu nehmen, oder fragen, unter welchen Umständen im spezifischen Umfeld des Einzelnen es dazu kommt. Auf der anderen Seite können gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge untersucht werden, die möglicherweise auf eine größere Gruppe von Menschen denselben Effekt ausüben, der schließlich zum Selbstmord führen kann.

Letzteres hat der Franzose Emile Durkheim in seinem Werk Der Selbstmord[1] aus dem Jahr 1897 getan. Mit der vorliegenden Arbeit soll diese Betrachtungsweise des Selbstmordes ausgehend von Durkheims Ansätzen erläutert werden. Durkheim untersucht den Selbstmord auf der Ebene größerer Gruppen bzw. ganzer Gesellschaften, also auf der Ebene der Makrosoziologie, als ein Phänomen, das in erster Linie soziale Ursachen hat und nicht entscheidend auf den seelischen Zustand einzelner Personen innerhalb der Gruppen zurückzuführen ist.

Bevor ich zur Darstellung von Durkheims Werk komme, möchte ich zunächst den Begriff ,Selbstmord’ allgemein definieren, d.h. versuchen, die Frage zu klären, unter welchen Umständen oder Voraussetzungen man überhaupt von Selbstmord spricht.

Dann werde ich Durkheims Ansatz über die Ursachen der Selbstmordraten verschiedener Gruppen und seine Begründungen erläutern und dabei speziell auf die von ihm genannte Form des egoistischen Selbstmordes eingehen. Anschließend werden einige spätere Meinungen angeführt, die sich kritisch mit Durkheims Theorien auseinandersetzen.

2. Definition des Begriffes ‚Selbstmord’

Bevor ich Emile Durkheims Ansichten zum Thema Selbstmord behandele, möchte ich mich hier zunächst mit der Frage beschäftigen, wie der Begriff ‚Selbstmord’ definiert werden kann und welche Aspekte berücksichtigt werden müssen, um ihn gegen andere Handlungen, die ähnliche Merkmale aufweisen wie eine Selbstmordhandlung oder die tödlich enden, abzugrenzen.

Durkheim selbst nimmt zu Beginn seines Werkes eine Definition vor, in die er verschiedene Merkmale einer selbstmörderischen Handlung einbezieht. Er beginnt mit der Aktivität des vom Tod Betroffenen; Selbstmord ist also „jede[r] Tod, der mittelbar oder unmittelbar auf eine Handlung oder Unterlassung zurückgeht, deren Urheber das Opfer selbst ist“[2]. Genauso sieht auch der erste Definitionsversuch von Christa Lindner-Braun (1990)[3] aus, sie schreibt: „D1: Von einer suizidalen Handlung soll dann gesprochen werden, wenn eine Person durch aktive oder passive Handlungen den eigenen Tod [...] herbeiführt“[4]. Beide Definitionen beziehen also aktive und passive Handlungen (wie z.B. Nahrungsverweigerung) mit ein und schließen gleichzeitig Fremdeinwirkung aus[5].

Lindner-Braun führt außerdem den Aspekt der zeitlichen Verzögerung an, indem sie sagt, dass die Folge der Handlung, also der Tod, „unmittelbar in einem absehbaren Zeitraum nach Beginn der Ausführung der suizidalen Handlung eintreten“[6] muss. Damit will sie Todesursachen wie exzessiven Alkohol- oder Nikotingenuss, Leistungssport oder extremes Risikoverhalten ausschließen, die ja ebenfalls aktiv und ohne Fremdeinwirkung ausgeführt werden[7]. Allerdings fallen zusätzlich auch selbstschädigende Handlungen wie die Nahrungsverweigerung, die erst nach mehrmaliger Wiederholung zum Tod führen, aus der Definition heraus.

Der zeitliche Aspekt spielt in Durkheims Definition keine Rolle, doch sowohl er als auch Lindner-Braun führen noch ein weiteres Merkmal an, das zur Abgrenzung gegenüber anderen Todesarten wichtig ist. Lindner-Braun nennt dies eine „subjektive Handlungsintention“[8], d.h., dass der Person die Folgen ihrer Handlung bewusst sind bzw. sie diese beabsichtigt. Durkheim wendet jedoch ein, dass die Absicht oder der Wunsch zu sterben nach dem Tod nicht eindeutig nachgewiesen werden kann, gerade was Geisteskrankheiten betrifft, die zu seiner Zeit noch sehr wenig erforscht und unverständlich sind. Außerdem würden dadurch Fälle wie Märtyrer für den Glauben oder ein Soldat, der für sein Regiment den Tod in Kauf nimmt, herausfallen, denn diese Personen wollen zwar nicht eigentlich sterben, opfern sich aber bewusst für ein höheres Ziel; Durkheim weist damit auf die später von ihm beschriebene Form des altruistischen Selbstmordes hin. Wichtig für ihn ist also nicht die Absicht, sondern das Bewusstsein der handelnden Person über die Folgen, d.h., „das Opfer weiß im Augenblick des Handelns, welches die Folge seines Verhaltens sein wird, gleichgültig, was ihn dazu gebracht hat, so zu handeln“[9]. Durkheims endgültige Definition lautet also:

Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Handelns im voraus kannte.[10]

Lindner-Braun fasst die einzelnen von ihr genannten Merkmale folgendermaßen zusammen:

Ein erfolgreicher Selbstmord [...] liegt vor, wenn das Handlungsergebnis (D1’) mit der subjektiven Handlungsintention zum Zeitpunkt der Handlungsausführung (D2, D3) übereinstimmt“[11],

wobei D1’ die unmittelbare zeitliche Folge beinhaltet und D3 die Tatsache, dass „die handelnde Person [...] die tödliche [...] Selbstverletzung als Folge dieser Handlung [...] für wahrscheinlich hält“[12], sich also ihrer bewusst ist.

Eine ähnliche Definition formuliert die World Health Organization (WHO):

Suicide is an act with a fatal outcome which the deceased, with the knowledge and expectation of a fatal outcome, had himself planned and carried out with the object of bringing about the changes desired by the deceased.[13]

Darin sind die gleichen Aspekte berücksichtigt, nämlich die aktive Rolle des Selbstmörders sowie sein Bewusstsein über die Folgen, wobei hier im Gegensatz zu Durkheim von der expliziten Absicht zu sterben ausgegangen wird.

Im Bezug auf diese Arbeit, die sich hauptsächlich mit Durkheims Ansichten auseinandersetzt, ist seine eigene Definition natürlich die angemessenste. Abgesehen davon jedoch wird es wohl trotz differenzierter Definitionen in Einzelfällen immer Unklarheiten über vermeintlich selbstmörderische Handlungen geben.

3. Der Selbstmord als Makrophänomen nach Emile Durkheim

Eine der Hauptthesen Emile Durkheims im Selbstmord geht davon aus, dass das Phänomen des Selbstmordes nicht in erster Linie durch individuelle Einflüsse bestimmt wird, sondern vor allem durch die Gesellschaft, in der das Individuum lebt. Durkheim betrachtet den Selbstmord auf rein soziologischer Ebene als „Indikator der gesellschaftlichen Krise, einer sozialen Krankheit“[14].

Der wichtigste Aspekt dabei ist der Grad der Integration in eine Gruppe. Das heißt, dass der Selbstmord nicht als ein Phänomen auf der Ebene der Mikrosoziologie angesehen wird, sondern als ein Makrophänomen.

Im Folgenden werde ich die Herleitung dieser These erläutern und mich dabei hauptsächlich auf die von Durkheim dargestellte Form des egoistischen Selbstmordes – in Abgrenzung zu der des altruistischen Selbstmordes – beziehen.

3.1. Integration als beeinflussender Faktor für die Selbstmordrate

Durkheims Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass jede Gesellschaft ihre eigene, spezifische Neigung zum Selbstmord aufweist sowie eine relativ konstante[15] Selbstmordrate[16]. Da die Gründe dafür seiner Meinung nach nicht bei den Individuen zu finden sind, muss es nach Durkheim soziale Ursachen geben; er bezeichnet den Selbstmord daher als eine „Kollektiverscheinung“[17]. Seine Forschung richtet sich demzufolge nicht auf Einzelfälle aus, er will das Kollektiv, also das Phänomen Selbstmord in einer ganzen Gesellschaft, untersuchen und sich dabei auf statistische Angaben aus verschiedenen Gruppen/Gesellschaften stützen:

Wenn man wissen will, aus welchen verschiedenen Umständen der als Kollektiverscheinung angesehene Selbstmord entspringt, dann muß man ihn in seiner Kollektivform, das heißt durch das Mittel der statistischen Daten, betrachten.[18]

Durkheim nennt in diesem Zusammenhang den Begriff der „soziale[n] Selbstmordrate“[19], die es zu untersuchen gilt, er will „vom Ganzen auf die Teile schließen“[20]. Da die individuelle Motivation eines Menschen, sich das Leben zu nehmen, im Nachhinein schwer oder gar nicht prüfbar ist, konzentriert er sich auf die „sozialen Begleitumstände“, „die verschiedenen sozialen Milieus“[21], die die Selbstmordrate einer Gesellschaft beeinflussen, nämlich die Religion, die Familie und den Staat.

Er vergleicht die Selbstmordrate der Katholiken mit der der Protestanten und Juden, die von Menschen, die verheiratet sind bzw. in einer Familie leben, mit der von allein Lebenden, und er untersucht die Auswirkungen von staatlichen Krisen und Umbrüchen auf die Selbstmordrate einer Gesellschaft.

[...]


[1] Emile Durkheim: Der Selbstmord. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. (DH)

[2] DH S.25

[3] Lindner-Braun, Christa: Soziologie des Selbstmordes. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990. (LB)

[4] LB S.29

[5] Vgl. ebd.

[6] LB S.30

[7] Vgl. LB S.29

[8] LB S.31

[9] DH S.27

[10] Ebd.

[11] LB S.32

[12] LB S.31

[13] Vgl. Retterstol, Nils: Suicide. A european perspective. Cambridge: University Press 1993. S.2

[14] Némedi, Dénes: Das Problem des Todes in der Durkheimschen Soziologie. In: Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Beiträge zur Soziologie des Todes. Hrsg. von Klaus Feldmann und Werner Fuchs-Heinritz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. S.60

[15] DH S.30f

[16] Die Selbstmordrate, mit der Durkheim arbeitet, ergibt sich aus der Anzahl der Selbstmorde pro Jahr pro eine Million Einwohner in der untersuchten Gesellschaft.

[17] DH S.153

[18] DH S.156

[19] DH S.35

[20] DH S.156

[21] DH S.161

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Der Selbstmord als Makrophänomen am Beispiel des egoistischen Selbstmordes nach Emile Durkheim
Hochschule
Universität zu Köln  (Lehrstuhl für Empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung)
Veranstaltung
Soziale Beziehungen und Gesellschaft
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
17
Katalognummer
V89369
ISBN (eBook)
9783638030571
Dateigröße
1109 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Selbstmord, Selbstmordes, Emile, Durkheim, Soziale, Beziehungen, Gesellschaft, Makrosoziologie, Egoismus
Arbeit zitieren
Eva Kühl (Autor:in), 2005, Der Selbstmord als Makrophänomen am Beispiel des egoistischen Selbstmordes nach Emile Durkheim, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89369

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