Identifizierende und regressive Prozesse in Großgruppen


Hausarbeit, 2004

22 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Individuelle Identitätsbildung

3 Identitätsbildung von Grossgruppen

4 Zur Psychodynamik großer Gruppen und ihrer Führer

5 Regression in Grossgruppen im politischen Prozess

6 Regressionsabwehr in Grossgruppen

7 Ausblick

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Am Gegenstand der Ethnizität, ethnischer Erweckungsbewegungen und ethnisier- ter Konflikte und Gewaltexxesse hätte sich die Aktualität einer psychoanalytisch orientierten, gesellschaftstheoretisch reflektierten Sozialpsychologie heute zu er- weisen (Stender 2000, S.78)“, schreibt Wolfram Stender als Schlusswort seiner Untersuchung über ethnische Bewegungen. Dabei kann es aber nicht nur eine theo- retische Durchdringung dieser Bewegung gehen, da angesichts der Auswirkungen solcher Bewegungen, durchaus politische Reaktionen erfolgen müssen. Reaktionen, wie sie Vamik Volkan als Konsequenz seiner psychoanalytischen Durchdringung in seinem Werk „Das Versagen der Diplomatie“ beschreibt und entwickelt. Beides ist nur möglich, wenn man sich der Prozesse, welche in Grossgruppen, und ethnische Bewegungen sind letztendlich eine Form der Bildung von Grossgruppen, bewußt wird. Ich versuche daher, die identifizierenden sowie die regressiven Prozesse, welche in Grossgruppen erfolgen genauer zu erläutern.

Aus meiner Sicht kann man die Prozesse, welche in und zwischen Grossgruppen ablaufen, wie sie sich konstituieren und welche Konsequenzen erfolgen, nicht ohne einen Blick auf die individuelle Entwicklung beschreiben. Menschen bilden Gruppen und Gruppen bilden Menschen. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Ich werde daher im ersten Kapitel, nicht erschöpfend aber doch ausreichend, darstellen, wie sich die individuelle Entwicklung vollzieht. Besonders hilfreich werden dabei die Erkenntnisse der Objektbeziehungstheorie sein, da sie die Wechselwirkung zwischen Menschen als konstituierenden Faktor der Identität betont. Im zweiten Kapitel verfolge ich dann den Weg, den Vamik Volkan eingeschlagen hat, um die Entwicklung einer Grossgruppenidentität zu erläutern. Dabei geht es vorallem um die Frage, welche Objektbeziehungen, Reservoirs und Symboliken werden über spezifische Mechanismen zur Identitätsbildung eingewoben.

Die wechselseitige Verbindung die es zwischen einem Individuum und einer Gruppe gibt, stelle ich im dritten Kapitel an der Dynamik zwischen Gruppe und Führer dar. Es soll deutlich werden, wie sich individuelle und gruppenbestimmende Eigenschaften der Persönlichkeits-organisation verbinden. Diese Verbindungen bestimmen gerade durch ihre regressiven Momente die Entwicklungsverläufe von Grossgruppen. Ich versuche dies im vierten Kapitel an Hand der Untersuchungen Otto Kernbergs zur Regression im politischen Prozess näher zu erläutern. Dabei geht es mit auch um die Gefahren dieser Prozesse. Wie jeder Mensch, so versucht auch die Grossgruppe Mechanismen zu entwickeln, die eine Regressionsabwehr ermöglichen. Dies soll im fünften Kapitel dargestellt werden. Dabei gehe ich wiederum auf die Verbindungen ein, die zwischen Regres- sionsabwehr und Identitätsbildung bestehen. Bürokratie und Ideologie werden so zu der Seiten der Medaille, welche der Seite der Grossgruppenunsicherheit und -leere gegenübersteht.

Im Ausblick fasse ich dies noch einmal zusammen und erläutere die Konsequen- zen der Überlegungen.

2 Individuelle Identitätsbildung

Da sich Prozesse in Gruppen nicht ohne die sie bildenden Menschen erklären lassen, sollte man zuerst einmal feststellen, wie sich die Identität eines einzel- nen herausbildet, bevor man sich der Grossgruppenidentität widmet. Dies kann jedoch nicht hinreichend hier dargestellt werden. Jedoch werde ich die notwen- digen Mechanismen im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen Individuum und Grossgruppe beleuchten, um später die Möglichkeiten regressiver Entwick- lungen darzustellen. Am fruchtbarsten für die Beobachtungen von Mechanismen innerhalb einer Grossgruppe hat sich die Objektbeziehungstheorie erwiesen. So bilden die Untersuchungen über frühkindliche Seelenzustände eine Möglichkeit, gerade regressive und primitive Abwehrmechanismen einer Gruppe zu beobachten (vgl. Shaked 1998, S.6). Dies wird schon dadurch deutlich, dass es auch innerhalb der psychoanalytischen Theorie und Forschung eine Veränderung hinsichtlich der Erklärungen der Bedeutungen der sozialen Gruppe für das Herausbilden einer Kernidentität des Selbst gegeben hat. Die Bindungsforschung John Bowl- bys oder auch die Untersuchungen zur narzißtischen Persönlichkeitsstörung von Heinz Kohut hat hier mit Sicherheit grossen Einfluß haben können. Wesentliche Begriffe, welche für die Wechselwirkung zwischen Individuum und Grossgruppe Bedeutung haben, sind „soziale Bedürfnisse“, „Selbsterleben“ und „Selbstgefühl“. Denn somit kann der noch sehr weite Begriff der Identität nach Erikson als ein „dauerndes In-Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzüge“ (vgl. Volkan 2000, S.36), ausgeweitet werden auf das Selbst als psychische Struktur, welche durch Selbsterleben Kohäsion und Kontinuität erhält und dadurch seine charakteristische Gestalt und dauerhafte Organisation annimmt (vgl. Köhler 1997, S.72), wobei die Organisation des Selbs- terlebens in Wechselwirkung zu der Fremdwahrnehmung des Selbst durch die anderen Mitglieder des umgebenden sozialen Gefüges steht (vgl. Elias 1993, S.40). Das Selbst entsteht und konsolidiert sich durch die Erfahrungen bzw. Funktionen, die ein Objekt ihm vermittelt. Kohut beschreibt dies daher als „Selbstobjekt“ (vgl. Köhler 1997, S.72). Es erfüllt zwei Funktionen. Zum einen dient es der Vermittlung von Wahrnehmungen, Intentionen und Affekten. Zum anderen, und dies ist auch für die Beobachtungen von Grossgruppen und ihre Führer relevant, bewahrt es das Selbst vor Überstimulation, d.h. vor Zuständen, die es selbst nicht beheben oder aus denen es sich nicht befreien kann (vgl. Köhler 1997, S.73). In dieser Funktion kann so das Objekt durch das Erleben von Omnipotenz ein Ideal entwickeln, mit welchem es verschmelzen kann, um so selbst Größe zu erlangen.

Diese Mechanismen sind notwendig, damit das Selbst zur sogenannten „Objekt- konstanz“ reifen kann. Volkan beschreibt diesen Prozess, der schon sehr früh im Laufe des Lebens beginnt, folgendermaßen (vgl. Volkan 2000, S.39f). Das Kind erfährt wiederholt bedürfnisbefriedigende und bedürfnisfrustrierende Objekte bzw. Quellen. Diese werden zuerst undifferenziert, wohl aber unterteilt in libidinös (gute) und aggressiv (böse) besetzte Selbst- und Objektbilder, wahrgenommen. Im Laufe der psychobiologischen Reifung werden diese Objektbilder durch das Ich integriert und zu Objektrepräsentanzen (Vorstellungen von dem Objekt) ver- bunden. Damit einher geht die Entwicklung einer Selbstrepräsentanz bzw. einer Selbstvorstellung. Mit Repräsentanz ist hier das von Erikson beschriebene stabi- lere In-Sich-Gleich-Sein gemeint. Eine gelungene Entwicklung ist dann erreicht, wenn das Kind diese Bilder so integriert hat, dass es Ambivalenzen aushalten und tolerieren kann, d.h. es ein Objekt sowohl lieben als auch hassen kann. Ein Mechanismus, welcher entscheidende Bedeutung für Identitätsbildung hat, ist dabei die Identifikation. Die wahrgenommenen Objekte und Bilder werden durch das Kind assimiliert, wodurch in der Regel die Fähigkeit, sich auf sich selbst verlassen und vertrauen zu können zunimmt. In der präödipalen Phase spielen vorallem die Eltern als Identifikatoren für ein Zugehörigkeitsgefühl aber auch für das Erleben von „Frustration“ und „Aggression“ eine Rolle, welche ein separates Identitätsgefühl herausbilden lässt. Die Identifikation mit dem Aggressor lässt hierbei dem Kind die Möglichkeit, seine Passivität in Aktivität oder Selbstbehaup- tung zu verwandeln. In der ödipalen Phase bekommen die elterlichen Verbote, Werte sowie die idealisierten Bilder davon entscheidende Bedeutung. Dabei werden gerade die Verbindungen zu kulturellen Vorstellungen der sozialen Umgebung (also der nächsten Grossgruppe) ausgeweitet. Ein Elternteil übernimmt meist die Rolle des Selbstobjektes, während der andere zum idealisierten Vorbild wird (vgl. Köhler 1997, S.74). Diese Ausweitung erstreckt sich dann in der Latenzphase auf Lehrer, Geschwister, und andere wichtige Personen. In der Adoleszenz regrediert dann der Jugendliche, d.h. er lockert seine innere Bindung an Objektbilder und -vorstellungen seiner Kindheit. Dieses führt dazu, dass er diese modifizieren und auch erneuern und erweitern kann. Gerade die Gleichaltrigengruppe befriedigt fast vollständig das Bedürfnis nach Selbstobjektbeziehungen, welche die Aufrechterhal- tung des eigenen Selbstgefühls ermöglicht. Gruppenidole spielen hierbei eine grosse Rolle bei der von Blos genannten zweiten Individuation (vgl. Volkan 2000, S.41).

Dabei treten auch Symbole an die Stelle von realen Personen als Selbstobjekte.

Gerade auch für die Grossgruppe besitzen Symbole einen hohen Grad der Identi- tätsvermittlung und -bildung. Ich werde später noch ausführlicher zurückkommen. „Die schrittweise erfolgende Substitution der frühen Selbstobjekt-Beziehungen, die an konkret vorhandene und anwesende Personen gebunden waren, durch über- persönliche Symbolgehalt von subjekttranszendierender Reichweite schafft für den Erwachsenen eine ganze Matrix von Selbstobjektbeziehungen, die viel von den Funktionen der archaischen Selbstobjekte der Kindheit übernehmen können (Köhler 1997, S.75).“ Gerade dadurch, dass der Mensch ein zur Symbolbildung fähiger Organismus ist, bekommt die Umgebung des einzelnen Menschen, sowie die Erfahrung der Welt über affektiv besetzte Symbole, Personen und Objekte, wie sie innerhalb von Grossgruppen beschreibbar sind, eine bedeutende Rolle. Lorenzer bezeichnet die sinnlich-symbolische Interaktion auch gerade zu als Schaltstelle der Persönlichkeitsbildung (vgl. Lorenzer 2002, S.166).

3 Identitätsbildung von Grossgruppen

Die Kernidentität des Einzeln bildet sich, wie beschrieben, über die Integration von libidinösen und aggressiv besetzten Objekten. Für die noch aufzuzeigenden Mechanismen der Regression in Grossgruppen ist es aber von Bedeutung, zu betonen, dass eben nicht alle Bilder integriert werden können. Volkan beschreibt dieses als eine Art Lebensaufgabe für den Einzelnen, da die flottierenden Bilder die Stabilität des Selbst immer wieder in Frage stellen können (vgl. Volkan 2000, S.50). Die Psychoanalyse benennt drei Mechanismen, wie das Kind mit diesen unintegrierten Bildern umgeht. Es kann sie verdrängen, d.h. es werden die mit einem Trieb zusammenhängenden Vorstellungen wie Bilder, Gedanken, oder Erin- nerungen in das Unbewusste verschoben oder dort festgehalten (vgl. Laplanche 1972, S.582). Man könnte sich diesen Vorgang als eine Art Zensur vorstellen. Eine zweite Möglichkeit ist die Absorption in das Über-Ich, wobei aggressive Selbst- und Objektbilder die strafende Funktion und die libidinös besetzten die idealisierenden Aspekte des Über-Ichs fördern (vgl. Volkan 2000, S.51). Ein dritter Mechanismus ist die Externalisation. Sie ist, so Volkan, eine primitive Form der Projektion, bei der Aspekte des Selbst nach außen projiziert werden (Volkan 2000, S.51). Damit soll es dem Kind erleichtert werden, seine eigene Kernidentität herauszubilden, da es übertriebene Idealisierungen oder Aggressionen in sich und an sich und ihre Wirkung auf andere in ein realistischeres Bild von sich und der erfahrenen Welt umwandeln kann. Häufig werden im kindlichen Spiel Gegenstände zu solchen Re- servoirs der inneren Projektion. Hier beginnt auch für Volkan die erste Verbindung, von ihm als erster Faden bezeichnet, zwischem dem Kind und der umgebenen Groß- gruppe. Die gewählten Objekte, die als passendes Reservoir zur Verfügung stehen, werden in der Regel durch die Erwachsenen bereitgestellt und haben oft kulturelle Bedeutungen. Es entsteht der Prozeß der Akkulturation, d.h. das Kind verbin- det sich während der Herausbildung der Kernidentität mit anderen Mitgliedern seiner Grossgruppe über die spezifischen ethnischen, nationalen oder religiösen Objektbilder, die jeweils die spezifische Identität der Grossgruppe bestimmen.

Dieser Prozeß bekommt in der Adoleszenz eine nochmalige Verstärkung, aufgrund der Veränderungen wie ich sie bereits im ersten Kapitel beschrieben habe. Der entscheidende Punkt jedoch ist, daß sich ab der Adoleszenz eine „Kern-Wir-heit“ herauskristallisiert (vgl. Volkan 2000, S.57). Das besondere an den gemeinsam geteilten Reservoirs der externalisierten Bilder ist die damit verbundene Erhö- hung des Selbstwertgefühls des Einzelnen so wie auch der Gruppe. Gruppenstolz und persönlicher Stolz sind eng miteinander verknüpft.

[...]

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Details

Titel
Identifizierende und regressive Prozesse in Großgruppen
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Institut für Soziologie und Sozialpsychologie)
Autor
Jahr
2004
Seiten
22
Katalognummer
V89362
ISBN (eBook)
9783638068635
Dateigröße
591 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Identifizierende, Prozesse, Großgruppen
Arbeit zitieren
Markus Engelmann (Autor:in), 2004, Identifizierende und regressive Prozesse in Großgruppen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89362

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