Cesare Pavese und der Mythos


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Paveses Erläuterung des Mythos
2.1 Mythos und Symbol
2.2 Entdeckung des Mythos
2.3 Bilder und Motive
2.4 Inspiration und Wirklichkeit
2.5 Poetik des Schicksals
2.6 Der Mythos

3. Der pavesianische Mythos in der Analyse
3.1 Freudsche Einflüsse
3.2 Rückkehr zum Menschen

4. Zusammenfassung

Literatur

1. Einleitung

Paveses Mythos ist nicht, zumindest nicht im wissenschaftstheoretischen Sinne, als Theorie zu verstehen bzw. zu behandeln. Einerseits fehlen klare Strukturen, die das Aufstellen von Thesen und Begrifflichkeiten ermöglichen, andererseits zeichnet sich dieses komplexe Konzept eben auch durch eine gewisse Nichtgreifbarkeit des pavesianischen Standpunktes aus. Der Prozess der Entdeckung und Enthüllung des Mythos, Paveses Bemühen „Ordnung und Planung dorthin zu bringen, wo das Chaos herrscht“ (Calvino 1962: 29), ist von dem Dualismus zwischen Eintauchen in das irrationale und ungewisse Dunkel mythischen Erlebens und dem nüchternen Willen zur Aufklärung gezeichnet. Umso diffiziler erscheint das Vorhaben, Klarheit und Struktur in die Überlegungen und Konzepte zu bringen, zumal Pavese auch nicht als Wissenschaftler und Theoretiker, sondern als Dichter gelesen wird.

Die vorliegende Arbeit versucht, auf Basis der thematisch relevanten Texte aus Feria d ’ agosto und verschiedener Manuskripte, den Mythos in Paveses Werk an Hand verschiedener Motive, Themen und Begriffe zu erklären; der zentrale Text ist dabei Del mito, del simbolo e d ’ altro (Pavese 2006a). Weiterhin soll die Betrachtung zweier fremder Analysen einerseits zum Verständnis der zuvor behandelten Passagen dienen, andererseits jedoch auch exemplarisch die möglichen kritischen Zugänge dokumentieren. Abschließend kommt Pavese selber noch einmal zu Wort und äußert sich zum literaturkritischen Verständnis seiner Arbeit.

2. Paveses Erläuterung des Mythos

2.1 Mythos und Symbol

Pavese beginnt den zentralen Text mit einem Auszug aus seinem Tagebuch Il mestiere di vivere vom 17.September 1943 (Pavese 1956: 273), in welchem er eines der Bilder beschreibt, über die er bereits zwei Tage zuvor schrieb, dass sie insofern mythisch sind, „soweit der Schriftsteller darauf zurückkommt wie auf etwas Einzigartiges, das seine ganze Erfahrung symbolisiert“ (ebd.: 273). Dieser einzigartige und absolute Charakter der Orte wie auch der Taten und Ereignisse, ist der konstituierende Aspekte des Mythischwerdens.

„ Quest’unicità del luogo è parte, del resto, die quella generale unicità del gesto e dell’evento, assoluti e quindi simbolici, che costituisce l’agire mitico. […] fare una cosa una volta per tutte, che perciò si riempie di significati e sempre se ne andrà riempiendo, in grazia appunto alla sua fissità non più realistica. “ (Pavese 2006a: 127)

Eine Wiese oder ein Wald, die für alle Wiesen und Wälder stehen. Entstehen diese Erinnerungen auch im Rückgriff auf die Kindheit, so können spätere Erfahrungen noch hinzukommen, welche die ursprüngliche Bedeutung jedoch nicht schmälern, sondern lediglich bereichern.

Diese Bilder stehen außerhalb der Zeit und des Raumes. Sie sind Symbole und der „Mythos ist immer symbolisch“ (Pavese 2006a: 128). D.h., dass ihm keine eindeutige und allegorische Bedeutung zukommt, sondern dieser sich durch seinen unabänderlich normativen Wert auszeichnet und verschieden interpretiert werden kann (ebd.: 127). So darf auch nicht die Dichtung mit dem Mythos selbst verwechseln werden; Inhalt und Form können sich in der Darstellung verändern, der Mythos verliert jedoch nichts seines Wertes, da er eine Norm, ein Schema darstellt, der stellvertretend für alle Geschehnisse steht.

„ Il mito è insomma una norma, lo schema di un fatto avvenuto una volta per tutte, e trae il suo valore da questa unicità assoluta che lo solleva fuori del tempo e lo consacra rivelazione. […] Un mito è sempre simbolico; per questo non ha mai un significato univoco, allegorico, ma vive di una vita incapsulata che, a seconda del terreno e dell’umore che l’avolge, può esplodere nelle più diverse e molteplici fioriture. “ (Pavese 2006a: 127, 128)

Seine zeitliche und räumliche Isolation unterstreicht dabei seinen universellen Charakter und hilft dem Mythos, seinen normativen Wert an geographische bzw. lokale und kulturelle Gegebenheiten anzupassen. Zur Verdeutlichung führt Pavese den Umgang mit Mythen in der griechische Frühgeschichte auf: Hier wurde oftmals jeder heimkehrende Dorfheld als Herkules bezeichnet (ebd.: 128), gleich auf welche Personen oder Orte sich dies bezog.

2.2 Entdeckung des Mythos

Pavese betont in allen Texten, dass man nichts erkennen kann, was man nicht bereits kannte. Somit muss es einen Ursprung für die Bilder und Zeichen geben, die den „symbolischen Schauder“ (Pavese 2006a: 126) in einem auslösen und den Mythos hervorbringen. Dieser Ursprung befindet sich für Pavese meist in der Kindheit und somit in einer Vergangenheit, die jedoch nicht auf Grund ihrer zeitlichen oder räumlichen Distanz so weit entfernt und verschüttet liegt. Es hat vielmehr mit dem Erleben und Erfahren der Welt im kindlichen Alter zu tun. Kinder lernen das Leben kennen, indem sie es durchleben und nicht rational erschließen. Und sie lernen die Welt durch Zeichen, Bilder oder Erzählungen kennen, die zu Symbolen werden, weil sie in ihrer Phantasie als Realität wahrgenommen und somit als wahre Erkenntnis bewertet werden.

„ Nessun bambino ha coscienza di vivere in un mondo mitico. Ciò s’accompagna all’altro noto fatto che nessun bambino sa nulla del “paradiso infantile” in cui a suo tempo l’uomo adulto s’accorgerà di essere vissuto. […] Gli tocca vivere questo stato e conoscere il mondo. Ora, da bambini il mondo s’impara a conoscerlo non […] con immediato e originario contatto alle cose, ma attraverso i segni di queste […]. Al bambino questo segno si fa simbolo perché naturalmente a quel tempo la fantasia gli giunge come realtà, come conoscenza oggettiva e non come invenzione. “ (Pavese 2006a: 128, 129)

Die Absolutheit dieser Symbole formt Schemata, die den Dingen ihre Existenz in unserer Vorstellung geben. Es handelt sich bei der Kindheit somit um eine vorrationale und vordichterische Zeit, in der die Wahrnehmung noch nicht durch von außen bestimmte Konventionen gesteuert wird, sondern von der Phantasie. Erst nach und nach werden die Mythen der Kindheit von sachlich rationalen Erkenntnissen des Alltags überlagert und leben im Unterbewusstsein weiter. Die mythischen Symbole tauchen somit wie Zeitzeugen eines Urzustandes wieder auf und verdeutlichen: Es gibt beim Entdecken des Mythos kein erstes Mal, sondern immer nur das entscheidende zweite Mal, wenn man die Dinge nämlich wiederentdeckt und durch die Erinnerung bemerkt, dass sie bereits einmal entdeckt und erlebt wurden.

“ Ma questo simbolo, nella sua assolutezza, solleva alla sua atmosfera la cosa significata, che col tempo diviene nostra forma immaginativa assoluta. Tale la mitopeia infantile, e in essa si conferma che le cose si scoprono, si battezzano, soltanto attraverso i ricordi che se ne hanno. Poiché, rigorosamente, non esiste un «veder le cose la prima volta»: quella che conta è sempre una seconda. […] L'ingenuità della barbarie per cui la fantasia è conoscenza oggettiva, non ritorna, una volta violata. Il miracolo dell'infanzia è presto sommerso nella conoscenza del reale e permane soltanto come inconsapevole forma del nostro fantasticare, continuamente disfatta dalla coscienza che ne prendiamo. “ (Pavese 2006a: 129, 130)

Wenn man erkennt, dass man den Dingen, die man in der Literatur findet und bewundert, bereits in seiner Kindheit begegnet ist, wird klar, dass man erwachsen geworden ist und sich verändert hat (Pavese 2006c: 136). Nach und nach verdeutlicht sich, dass diese Dinge sich jedoch nicht verändert haben, sondern unsere Phantasieschöpfungen der Kindheit durch manifestierte Formen und sachlich rationale Erkenntnisse ersetzt wurden (ebd.: 137). Doch diesmal ist es die Dichtung, welche uns die Augen für diese bewundernswerten Dinge öffnet.

„ Il giorno in cui ci si accorge che le conoscenze e gli incontri che facciamo nei libri, erano quelli della nostra prima età, si esce d’adolescenza e s’intravede se stessi. […] Noi ammiriamo soltanto ciò che abbiamo già una volta ammirato. […] Nessun ragazzo, nessun uomo ammira un paesaggio prima che l’arte, la poesia […] gli abbiano aperto gli occhi. […] Noi viviamo l’essere nostro più autentico quando ancora non sappiamo ammirare, cioè cogliere quel che ci accade. “ (Pavese c: 136, 137, 139)

Pavese macht deutlich, dass somit Bilder und Symbole, die zur (Wieder)Entdeckung führen, Schemata sind, welche von außen an uns herangetragen werden und ohne die dieser Entdeckungsprozess nicht initiiert werden kann. Die Entdeckung des Mythos ist somit ein Selbstfindungsprozess, denn, so Pavese, wir waren uns selbst nie näher als eben zu dieser Zeit, als wir noch nicht begriffen und es auch nicht für wichtig erachteten, was mit uns beim Entdecken/Erleben der Welt geschieht.

2.3 Bilder und Motive

Jeder Mensch trägt einen gewissen Reichtum an Bildern, einen „Schatz an Symbolen“ (Pavese 2006b: 135) in sich, der normalerweise auf eine geringe Zahl großer Motive beschränkt ist. Warum aber gerade diese und keine anderen Bilder aus unserem Inneren aufsteigen, ist, so Pavese, weniger durch ihre Intensität als mehr durch unseren Instinkt begründet. Was uns zu diesen Bildern führt ist das Gefühl, es gehe um essentielle Dinge unserer Existenz; keine emotionsgeladenen Erinnerungen an vergangene Zeiten, sondern „Symbole des Seins“ (ebd.: 133).

„ Ciascuno ha una ricchezza intima di figurazioni - normalmente si lasciano ridurre a pochi grandi motivi […]. Perché proprio quelle tali figurazioni, e non altre? […] La scelta avviene secondo motivi che si direbbero capriccio, se non fosse la divorante serietà di questi simboli la quale ci fa credere che in essi condensi l’essenza stessa della nostra singola vita. (Pavese b: 132, 133)

Die Wahl der Bilder wird dabei durchaus von der individuellen Bildung und dem kulturelle Einfluss mitbestimmt, zumal auch nur das erkannt werden kann, was man bereits ästhetisch erfahren hat. Trotzdem handelt es sich dabei nicht um vorgefertigte Strukturen, denn bei mythischen Symbolen handelt es sich immer um Entdeckungen, die erst durch das Zurückgehen in der Erinnerung Gestalt annehmen. Pavese beschreibt die Wahl der Bilder daher als instinktive Reaktion, als „Antworten unseres Instinktes auf die Impulse der Kultur“.

„ È chiaro che il primo contatto con la realtà spirituale è un fatto di educazione […]. […] Un contadino, una donnetta si saranno educati attraverso la canzone, l’aneddoto, ricorrenza festiva del paese. […] E per ciò diremo che i simboli, le scoperte-ricordo della nostra sostanza, sono bensí un fatto di gusto, ma di gusto attivo, sono la risposta del nostro istinto alle sollecitazioni della cultura. “ (Pavese b: 135)

Somit ist zwar lediglich geklärt, wie es zur (inneren) Handlung dieser Auswahl kommt. Es ist aber unverkennbar, dass durch die Herkunft der Bilder auch kulturelle Hinweise auf die Herkunft des Individuums gegeben werden.

Der Fundus an Symbolen, so betont Pavese immer wieder, ist jedoch weder Privileg des Dichters, noch ist er exklusives Werkzeug des Künstlers. Jeder Mensch trägt diese Bilder in sich und versucht unweigerlich seinen Mythos zu Entdecken. Der Künstler sieht sich vor dem Hintergrund seines Wissens um Herkunft und Struktur der Bilder eher noch dem Dilemma gegenüber, den Symbolen ihren mythischen Wert zu nehmen (Pavese 2006b: 135). Er muss sich der Problematik stellen, unter den Eindrücken der „mythischen Offenbarung“ noch minimalste formale Ansprüche zu wahren. Denn nur zu oft, so Pavese, kommt es vor, dass sich der Künstler diesem Dilemma entzieht, indem er am Ende etwas anderes schreibt, als das, was er ursprünglich wollte (Pavese 2006a: 130).

[...]

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Cesare Pavese und der Mythos
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
23
Katalognummer
V89294
ISBN (eBook)
9783638026451
ISBN (Buch)
9783638924597
Dateigröße
538 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Cesare, Pavese, Mythos
Arbeit zitieren
Udo Michel (Autor:in), 2007, Cesare Pavese und der Mythos, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89294

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