"Der Drang" des Franz Xaver Kroetz

Analyse des Volksstücks in der Reibung des Autors zwischen thematischer Kontinuität und formaler Dialektik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

58 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Der Volksstückautor Franz Xaver Kroetz
1.1. Kurzbiografie
1.1. Dramenübersicht

2. Stückanalyse "Der Drang" - Volksstück in drei Akten
2.1. Vergleich zu "Lieber Fritz"
2.2. Sprache
2.3. Struktur
2.4. Figuren

3. Die Tradition des Volksstücks
3.1. Das alte Volksstück
3.2. Das neue Volksstück und dessen Untergattung Schwank
3.3. Das kritische Volksstück
3.4. Das neue kritische Volksstück

Schluss

Literaturverzeichnis

Einleitung

Auffällig im Gesamtwerk des Franz Xaver Kroetz ist es, dass unterschiedliche Kräfte und Einflüsse in ihm wirken: Seine thematische Kontinuität und seine formale Dialektik reiben sich permanent aneinander, denn Kroetz variiert immer wieder sein Grundthema, allerdings mit wechselnden formalen Mitteln.

Kroetz' Bestreben, aus der Dialektik seiner Kräfte und Einflüsse eine Synthese zu entwickeln, die ihm wiederum und endlich Kontinuität ermöglicht, wird mit den Jahren immer bestimmender für seine künstlerische Entwicklung. In dieser Reibung zwischen dem Bedürfnis nach Kontinuität und der Drang nach Weiterentwicklung liegt vielleicht sogar Kroetz' künstlerischer Antrieb begründet, die Quelle seiner enormen kreativen Produktivität.

Im Rahmen dieser Arbeit soll nun zunächst ein Einblick in Kroetz' Biographie und sein Gesamtwerk gegeben werden: Ausgehend von Kroetz' "unkontinuierlich-kontinuierlicher" Biographie soll die von Kontinuität und Dialektik gleichermaßen geprägte Entwicklung seines dramatischen Schaffens verständlich werden.

Mit "Der Drang" soll anschließend ein Volksstück Kroetz' analysiert werden, dessen Entstehungsgeschichte, Konzeption und Sprache im Spannungsfeld zwischen selbstreferentieller Kontinuität und dialektischer Synthese steht und daher als exemplarisch für die Dramenentwicklung des Kroetz'schen Gesamtwerkes angesehen werden kann.

Schließlich soll die Tradition des Volksstücks mit ihren jeweiligen Hauptvertretern behandelt werden: vom alten Volksstück über das neue, von Johann Nepomuk Nestroy beeinflusste Volksstück, insbesondere der Untergattung Schwank, zum kritischen Volksstück der Weimarer Republik mit seinen bedeutendsten Autoren Ödön von Horváth und Marieluise Fleißer sowie der Volksstück-Konzeption Bertolt Brechts, bis zum neuen kritischen Volksstück, das neben Kroetz vor allem Martin Sperr und Rainer Werner Faßbinder geprägt haben. Über diese einzelnen Ausprägungen des Volksstücks soll auch die der Gattung immanente Dialektik von kritischem Anspruch und trivialer Unterhaltung herausgearbeitet und auf die Volksstücke Kroetz', besonders den "Drang", angewendet werden.

1. Der Volksstückautor Franz Xaver Kroetz

1.1. Kurzbiografie

Franz Xaver Kroetz wird am 25. Februar 1946 in München geboren. Er stammt aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus, seine Mutter Maria ist Hausfrau, sein Vater Franz ist ehemaliges NSDAP-Mitglied und arbeitet als Steueramtsmann. Mit seinem Vater verbindet Kroetz eine problematische Beziehung, da dieser ihm seinen Lebensstil und Beruf aufzwingen will. Kroetz lehnt sich gegen seinen Vater und dessen katholischem Konservativismus' auf und tritt mit seiner Volljährigkeit aus der katholischen Kirche aus.

Als sein Vater 1961 stirbt, bricht Kroetz, damals 15-jährig, sogleich seine Schule ab, um Schauspiel zu lernen: Von 1961 bis 1963 besucht er erst verschiedene Schauspielschulen in München, bevor er ans Max-Reinhardt-Seminar nach Wien wechselt, wo er mit Martin Sperr in der Klasse ist. Doch Kroetz fliegt auch aus diesem Seminar, so dass er zuletzt privaten Schauspielunterricht nimmt und schließlich seine Schauspielprüfung erfolgreich absolviert.

Ab 1965 bekommt er dann zwar kleinere Engagements als Schauspieler an Kellertheatern, unter anderem am Büchner-Theater, doch kann er davon nicht leben.[1]

Gleichzeitig beginnt Kroetz autodidaktisch Stücke zu schreiben:

"Aber das Theater hat mich so fasziniert, daß ich mir gesagt hab', ein Theaterhaus hast' nicht, engagiert wirst' auch nicht, dann nimm doch die Schreibmaschine vom Papa, kauf dir Papier und schreib mal was."[2]

Dabei weisen Kroetz' erste Stücke eine sehr große Spannbreite auf, vom Unterhaltungsgenre wie dem klassischen Bauernschwank "Hilfe ich werde geheiratet" bis hin zu verschiedenen Formexperimenten wie absurden und collageartigen Stücken ("Als Zeus zum letzten Mal kam oder: Die Nacht der weißen Segel", 1966).

Diese unterschiedlichen Ausrichtungen beweisen, dass eine formale Dialektik bereits von Anfang an in Kroetz’ Schaffen angelegt ist.

In dieser Zeit verkehrt Kroetz in einem Künstlerkreis, der sich dem Expressionismus, Neo-Dadaismus und Surrealismus verschrieben hat. Kroetz beschreibt seine damalige Phase als extrem formal, abstrakt sowie unpolitisch:

"Wir waren unpolitisch, oder lehnten Politik sogar ausdrücklich ab; fanden sie primitiv und unbedeutend. Kunst und Politik waren unversöhnliche Widersprüche; Kunst unendlich wichtig, Politik Zeiterscheinung. Künstler, deren Werke politisch waren, oder die sich als politische Künstler verstanden, belächelten, ja verachteten wir. Dabei waren wir trotzdem für die großen Bewegungen innerhalb der Entwicklung der Welt offen. Natürlich waren wir für "Gerechtigkeit", "Frieden" und "Glück", aber der Kampf für diese "Ideale" war und sollte nicht Gegenstand unserer Kunst sein. Unser Kunstanspruch zuckte wie von der Natter gebissen zurück, wenn er auch nur in die Nähe von Wirklichkeit kam. Vermutlich haben wir den Widerspruch zwischen künstlerischem Entwurf und schmerzlicher Wirklichkeit zwar empfunden, aber wir haben nichts getan, diese beiden "Schenkel" des Winkels zusammen zu bringen. Wir sind aus der Wirklichkeit in einen esoterischen Kunstanspruch geflohen.

Ich glaube, wir waren davon überzeugt, daß reine Form an sich "Erlösung" sei. Wir meinten, reine Schönheit als ästhetisches Konzept sei positive Utopie "genug", um sich im Chaos menschlich zu behaupten. Ich glaube, wir haben undialektisch gedacht. Die auf reine Form gegründete Ästhetik kann nur ein statisches Konzept haben, da schon die "häßliche" Schönheit" der täglichen Wirklichkeit nur im Zusammenhang mit Inhalt zu erfahren und auch zu vermitteln ist."[3]

Am Büchner-Theater kommt Kroetz auch mit dem antitheater des damals noch unbekannten Rainer Werner Faßbinder in Berührung: Faßbinder bearbeitet zu dieser Zeit Marieluise Fleißers "Pioniere in Ingolstadt" zu einer Collage auf der Textgrundlage des Originals und Kroetz spielt eine der Rollen. Auf diesem Wege kommt Kroetz mit dem kritischen Volksstück in Berührung. Kroetz hat zunächst Vorbehalte gegen das Stück und dessen Realismus.[4] Er lässt sich nur widerstrebend darauf ein, zeigt sich dann aber fasziniert:

"Faßbinder probte ein Stück von Marie-Luise Fleißer. Da merkten wir plötzlich, daß man auf formal hohem Niveau sein kann und trotzdem Inhalte vermittelt. Wir hatten ja bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt, Inhalte würden das Kunstwerk sowieso nur stören."[5]

Später bestätigt Kroetz den nachhaltigen Eindruck, den die Begegnung mit dem kritischen Volksstück bei ihm hinterließ:

"Die extrem formale Phase lag hinter mir. Das Ganze kam mir plötzlich komisch und leer vor. Ich wollte nicht mehr länger allein über das Wie eines Kunstwerkes, sondern auch über das Wofür sprechen. Da begann die Politik. Die ersten realistischen Stücke entstanden."[6]

Doch auch mit seinen realistischen Stücken ist Kroetz zunächst erfolglos, er wird bei etlichen Verlagen und Bühnenvertrieben abgelehnt. So lebt er von Gelegenheitsjobs am Bau, in Großmärkten oder in Fabriken, als Kraftfahrer, Krankenpfleger, Lagermeister, Bananenschneider, Chauffeur, Zeitungsausträger, Hausmeister, Portier und Gärtner.[7]

Kroetz äußert sich rückblickend über diese Zeit: "Mit dem Kopf war ich 'Künstler' und sonst Prolet..."[8] In jedem Fall erweist sich diese Phase, in der er unmittelbar mit der harten sozialen Realität konfrontiert wird, als prägend für Kroetz' Werk, seine Perspektive und sein Thema:

"Ein großer Teil meines Lebens war harte Arbeit, entbehrungsreich, schwer und wenig erträglich. [...] Je mehr das proletarische und subproletarische Arbeiten mein eigentliches Leben wurde, umso weniger war ich bereit, in der Kunst darüber zu schweigen. Langsam kam das Pendel in Gang. Da ich immer ungelernter Arbeiter blieb, hatte ich vor allem Kontakt mit anderen, die es wie ich nicht geschafft hatten, einen "ordentlichen" Beruf zu erlernen, in einer Firma länger auszuhalten, irgendwo sich "nutzbringend" einzugliedern im kapitalistischen Produktionsprozeß; erbärmlicher Menschenschutt der damaligen bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft war erste Verbindung zur Wirklichkeit, Entwurzelte, Behinderte, zu kurz Gekommene, Schwache, Kranke, Verlassene, die unter die Räder gekommenen. Ich hab meine ersten Stücke über Randgruppen unserer Gesellschaft geschrieben. Ich schrieb nicht, um zu helfen, ich schrieb, weil ich betroffen war, einer davon. [...] Ich hatte nicht Mitleid, ich habe gelitten."[9]

Mit dieser sozialen Erfahrung definiert Kroetz Realismus als "aus erster Hand kommend".[10] Er kennt das Milieu und die Figuren, die er schreibt, ganz genau, daher schreibt er auch nicht aus einer Haltung überlegener Distanz.

1971 schafft Kroetz schließlich den Durchbruch, nachdem er quasi von Martin Walser, der zu der Zeit kommissarisch den Suhrkamp-Theaterverlag betreut, entdeckt wird: Kroetz kann seine ersten Stück veröffentlichen und schon im April des gleichen Jahres werden seine beiden Einakter "Heimarbeit" und "Hartnäckig" im Werkraumtheater der Münchner Kammerspiele uraufgeführt.[11]

Die Premiere erfolgt vor der versammelten Kritikerprominenz, da im Vorfeld ein bevorstehender Skandal kolportiert wurde. Tatsächlich kommt es zu einem Skandal: Die Bühne wird gestürmt, es kommt zu einer Protestdemonstration, Stinkbomben und faule Eier werden geworfen, die Zuschauer übertönen mit frenetischem Applaus die Buhrufe und Sprechchöre der Demonstranten, die Polizei schreitet mit einem großen Aufgebot ein. Auslöser der tumultartigen Ausschreitungen sind ein auf der Bühne gezeigter Abtreibungsversuch mit einer Stricknadel, Kindsmord und Masturbation.[12]

Der Skandal trägt wesentlich zu Kroetz' spektakulärem und aufsehenerregendem Einstieg in die deutsche Theaterszene bei, sein katapultartiger Aufstieg ist von Anfang an mit der Schockwirkung seiner Stücke verknüpft, mit dem Reiz des Provokativen und Sensationslüsternen, den sie für Publikum und Kritiker versprühen. Mit seiner Dramatik initiiert Kroetz eine regelrechte Modewelle, die ihn auch außerhalb der Feuilletonseiten als "bayerische[n] Sprengkopf", „Jungschocker“, „Barrikadenstürmer“, "Blut- und Hodendichter", „Wahnsinnige[n]“, „Vulkan“ und „Genie“ bekannt werden lässt.[13]

Zusätzlich genährt wird der "Kroetz-Kult" durch Meldungen wie die von der fristlosen Entlassung einer österreichischen Lehrerin, weil sie mit ihren 14-jährigen Schülern Kroetz-Stücke behandelte,[14] sowie durch zahlreiche populistische Äußerungen Kroetz', die zu einem Stück auch Selbstinszenierung eines gelernten Schauspielers sind, wie zum Beispiel:

„So lange mir kein Intendant sagt, das Stück ist so links, daß man es nicht aufführen kann, werfe ich mir immer vor, daß ich zu brav schreibe.“[15]

Im folgenden veröffentlicht Kroetz nun Stücke am laufenden Band, die allesamt sogleich aufgeführt und ab 1973 auch regelmäßig im Ausland gespielt werden.

Es setzt eine regelrechte Kroetz-Aufführungswelle ein, die Kroetz auch Zugang zu den Massenmedien Fernsehen und Hörfunk verschafft, was ihm nun (theoretisch) ermöglicht, das Publikum zu erreichen, dessen Situation er in seinen Stücken beschreibt, die aber nicht ins Theater gehen. Seine plötzliche Bekanntheit benützt Kroetz aber auch dazu, sich in Interviews und Zeitungsartikeln zu tagespolitischen Themen zu äußern.

1972 kommt es zu einer Zäsur in Kroetz' Biografie, als er in die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) eintritt. Kroetz schaltet sich nun regelmäßig in aktuelle gesellschaftspolitische Diskussionen ein und sein politisches Engagement geht sogar soweit, dass er insgesamt zweimal für die Bundestagswahl kandidiert, ohne Erfolg.

Allerdings versteht sich Kroetz eher als wertkonservativer Kommunist, der in seinen Stücken an traditionsgebundene, christliche Werte und Lebensorientierungen wie Heimat und Familie festhält:

"[Ich] fühl mich schon länger als kommunistischer Konservativer: werterhaltend wo einer ist. Gegen den Großen Zapfenstreich und für die Kleine Arbeiterbibliothek."[16] ;

"Ich [...] beschütze immer die Einheit der Familie."[17]

Kroetz' politischer Schritt stellt aber auch einen entscheidenden Einschnitt in seiner künstlerischen Entwicklung dar. Er hinterfragt nun seine bisherigen Arbeiten und entschließt sich zu einer künstlerischen Neuausrichtung:

"Ich kam mit Leuten zusammen, die [...] mir einen Schritt voraus [waren]. Sie haben die herrschenden Zustände nicht nur verachtet und abgelehnt, wie ich auch, sie haben etwas dagegen zu setzen gehabt, sie waren nicht im Schmoll-, oder Anarchiewinkel, sie haben der "entworfenen" Wirklichkeit einen besseren Entwurf entgegengesetzt. Sie haben zwar mitgelitten, aber nicht nur, sie haben zwar abgelehnt, aber nicht nur; sie haben nicht nur gegen, sondern auch für etwas gekämpft. Ich glaub, das hat mich am meisten fasziniert. [...]

Es ist bekannt, wie schnell und vorbehaltlos ich mich der Kommunistischen Partei angeschlossen hab und aktiv geworden bin. Ich hab es nie bereut; es gab und gibt Schwierigkeiten, aber die Entscheidung steht."[18]

Kroetz' Erfolg nimmt zunächst von Jahr zu Jahr weiter zu: In der Spielzeit 1975/76 wird Kroetz einmal mehr meistgespielter bundesdeutscher Theaterautor und bricht mit acht Stücken, die über 650mal aufgeführt werden, seine eigenen Rekorde aus den Vorjahren. Wenngleich etwas später als in Westdeutschland rezipiert, avanciert Kroetz nun zudem auch zum bekanntesten jüngeren westdeutscher Dramatiker in der DDR.[19]

Als Kroetz jedoch beginnt, seine Stücke zunehmend in den Dienst seiner politischen Haltung zu stellen, fällt er plötzlich in Ungnade bei den (westdeutschen) Kritikern und wird kaum noch rezensiert (anders natürlich in der ostdeutschen Kritik), zumal diese Stücke genau in eine Zeit fallen, in der sich das Politische wieder auf dem Rückzug aus den Theatern befindet.

Analog dazu geht nun auch die Zahl seiner Stückaufführungen zurück, auch weil Kroetz in der Vergabe seiner Aufführungsrechte zurückhaltender wird. So gibt es zwischen Juli 1973 und Januar 1975 keine Uraufführung eines Kroetz-Stücks im deutschsprachigen Raum. Es wird ruhig um Kroetz.[20]

Das öffentliche Interesse erweckt er erst wieder 1980, allerdings nicht mit einem neuen Stück, sondern mit seinem Austritt aus der DKP, den Kroetz mit seiner Desillusionierung über seine Position innerhalb der Partei und mit unterschiedlichen Auffassungen in bundes- und umweltpolitischen Fragen begründet.

Bis Anfang der achziger Jahre ist Kroetz der produktivste Autor des neuen kritischen Volksstücks: Er verfasst bis zu diesem Zeitpunkt etwa 40 Bühnenstücke, außerdem Hörspiele, Film- und Fernsehdrehbücher, Aufsätze, Reden, eine größere Reportage, ein paar Romane und einen Gedichtband. Darüberhinaus ist er als Regisseur und Schauspieler seiner, aber auch fremder Stücke tätig.

Ab Mitte der 80er Jahre empfindet sich Kroetz jedoch nach eigener Aussage als „ausgeschrieben“[21], weshalb er sich wieder der Schauspielerei zuwendet und die Rolle des Klatschreporters Baby Schimmerlos in Helmut Dietls "Kir Royal" übernimmt und damit nun auch dem breiten Publikum bekannt wird.

Seither präsentiert sich Kroetz nicht mehr so offensiv und kampfeslustig, sondern eher gemäßigt, unpolitisch und zurückgezogen, zum Teil wohl auch aus Resignation und Frust, was Kroetz nicht verhehlt:

„Es gibt andere Länder, wo Dichter einen anderen Stellenwert haben. Hier in dieser Scheißrepublik haben wir Null-Stellenwert.“[22]

1.2. Dramenübersicht

Kroetz’ dramatische Werke, auf die sich die folgende, nicht vollständige Übersicht beschränkt, weisen in thematischer Hinsicht eine bemerkenswerte Kontinuität auf und ergänzen sich in geradezu relbstreferentieller Weise, ob als direkte Fortsetzung ("Geisterbahn"/"Stallerhof"), in Form von Zitaten ("Oberösterreich"/"Das Nest"), Neubearbeitungen ("Männersache"/"Wer durchs Laub geht", insgesamt vier Überarbeitungen[23] ; "Maria Magdalena"; "Lieber Fritz"/"Der Drang") oder Trilogien ("Münchner Leben"; "Heimwärts"; "Frauengeschichten"; Künstler-Trilogie).

Besonders in Kroetz' frühen Stücken sind starke thematische und dramaturgische Zusammenhänge auszumachen: Kroetz setzt bei jedem neuen Stück seiner frühen Phase immer wieder bei der gleichen Grundsituation an, um dann das Ende über das vorherige Ende hinausgehen zu lassen. Dabei ist die Familie laut Kroetz sein zentraler Ausgangs- und Bezugspunkt: "Ich bin ein Familienschreiber. In all meinen Stücken gehe ich von der Familie aus."[24]

Auch thematisch fühlt sich Kroetz den gleichen, bei ihm stets wiederkehrenden Motiven verbunden wie Mord, Totschlag und Selbstmord, die ungewollte und/oder uneheliche Schwangerschaft und die damit verbundenen Abtreibungsgedanken oder das entfremdete Leben durch entfremdete Arbeit. Kroetz variiert seine Motive in seinen Dramen immer wieder, um schließlich aus einer Reihe von Einzelstudien das Bild einer Gesamtgesellschaft zusammenzusetzen. Kroetz spricht in diesem Kontext vom Seriencharakter seiner Stücke[25], deren übergeordnetes Thema im Widerspruch von leben wollen und leben können liegt.

Kroetz' sämtliche frühe Stücke behandeln in stetiger Fortführung die Lebens- und Bewusstseinsverhältnisse der unterprivilegierten Menschen, die, weil sie isoliert und hilflos sich selbst überlassen sind, vor ihren Problemen kapitulieren. In ihrer (materiellen) Not sowie in ihrer Unfähigkeit bzw. Ohnmacht, sich mit der empfundenen - gesellschaftlichen oder ökonomischen - Unterdrückung auseinanderzusetzen, wenden sie sich in Substitutionsreaktionen gegen sich und andere und gehen dabei selbst mit unter. Die Objekte ihrer fehlgeleiteten Aggression sind dabei ihre Nächsten und Ihresgleichen, meist diejenigen, die noch schwächer und wehrloser sind als sie selbst.

Ausgelöst wird der Konflikt meist durch eine zusätzliche Belastung, die eine Zwangslage verursacht, die wiederum das Fass zum Überlaufen bringt und zur Eskalation führt. Signifikant ist dabei, dass diese familiäre Erschütterung an sich gar kein Problem darstellt, sondern erst durch die ökonomischen bzw. sozialen Zwänge zu einer Bedrohung wird, wie in Kroetz' häufigstem Motiv, der unehelichen und daher gesellschaftlich geächteten Schwangerschaft.

Diese unmittelbare Störung bringt die eingeübten und festgefahrenen Verhaltensweisen ins Wanken. Sie macht die Diskrepanz zwischen der Sehnsucht der Figuren nach Harmonie und ihrer unerträglichen, sie überfordernden Situation evident. Die daraus resultierenden Frustrationen erwachsen eigentlich nur aus dem existentiellen Bedürfnis der Figuren, ihren letzten Rest an bescheidenem Glück und Geborgenheit zu retten, kulminieren aber in Gewaltakten gegen das vermeintliche Störobjekt, meist ist es das ungeborene Baby. Doch ihre Verzweiflungstaten treffen die Falschen, sie vermögen nicht die beherrschende Ordnung anzugreifen, im Gegenteil: Ihre Taten stützen vielmehr das System und dokumentieren lediglich ihre Hilflosigkeit, ihr Ausgeliefertsein sowie ihre emotionale Vereinsamung und Verkümmerung.[26]

Kroetz stellt in seinen frühen Stücken entmenschlichte sozialer Zustände schonungslos und radikal dar, Missstände, die mangels anderer Alternativen, Perspektiven oder Lebenschancen unausweichlich in Katastrophen münden. Er zeigt einen geschlossenen Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt, stattdessen Hoffnungs-, Trost- und Zukunftslosigkeit:

"Ich will doch in meinen Stücken nichts anderes zeigen als die seelische Abstumpfung und Vereinsamung, in die ein Mensch durch die bestehende Gesellschaftsordnung getrieben werden kann. [...] Nicht die Gewaltakte sind doch Gegenstand meiner Einakter, sondern die sozialen und geistigen Zerstörungen, aus denen diese Gewaltakte entstehen."[27]

Die Bedeutung der (katholischen) Religion ist bei Kroetz' Figuren zu Brauchtum reduziert und als Moral anerzogen. Sie ist von den Figuren genauso verinnerlicht wie ihr Herrschaftsglaube. Letztendlich trägt ihre katholische Sozialisation zur Verankerung der gesellschaftlichen Ansprüche in ihrem Inneren bei. Die Religion stellt für sie eine innere Autoritätsinstanz dar, die zu einer unbewussten Gleichsetzung von Ich und der Welt führt: Die Figuren lassen sich durch das gesellschaftliche Ich-Ideal vereinnahmen, ihr Selbstbild ist geprägt von Normen und Zwängen.[28]

Kroetz' frühen Figuren fehlt jegliche Reflexionsfähigleit und Einsicht in die herrschenden Verhältnisse. Weil sie es nicht vermögen, ihre eigene Lebenssituation zu erkennen, können sie sich auch nicht entwickeln.

Die Gefahr, der Kroetz allerdings mit der Darstellung seiner Figuren als "Bauernopfer" unterliegt, besteht darin, dass ihre Situation dadurch automatisch als unvermeidliches und unveränderbares, fatales Schicksal erscheint: Ihr Dasein wäre dann als determiniert dargestellt, was jedoch Kroetz' Intention entgegenläuft.[29]

Kroetz' Figuren stehen hinsichtlich Bildung und Erfolg auf der untersten Stufe der Gesellschaftspyramide und sind emotional oder ökonomisch eingeschränkt.

Dass sie oft als "Randgruppen" bezeichnet werden, ist dabei irreführend und missverständlich: Denn Kroetz' Figuren zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie verzweifelt versuchen, den gesellschaftlichen Normen zu genügen und entsprechen, und eben nicht gegen die Gesellschaft opponieren. Zum sozialen "Rand" können sie lediglich aufgrund individueller Merkmale wie Alter, Nationalität, Krankheit, (geistiger oder körperlicher) Behinderung oder abweichendem Sexualverhalten gezählt werden. Tatsächlich stellen sie nicht nur eine marginale Gruppe dar, sondern machen einen großen Anteil an der Bevölkerung aus:[30]

"Wenn man unsere 60 Millionen genau unter die Lupe nimmt, dann zerfallen sie zuletzt alle in Randerscheinungen. Die fette Mitte gibt es nicht, sie existiert nur in den Köpfen einiger denkfauler Politiker. Es gibt kein Volk. Es gibt den gewollten oder gezwungenen Zusammenschluß vieler Minderheiten zu einer Masse, die maßlos verschieden ist."[31]

Oft bedient sich Kroetz einer Ersatzbeziehung seiner Figuren zu einem Hund, um die Beziehungs- und Sprachlosigkeit zwischen seinen Figuren zu verdeutlichen. Die Figuren sind angesichts der Notsituation ähnlich stumm wie ihr Hund. Letztendlich werden sie auch noch um ihren letzten, trostspendenden Begleiter gebracht, da auch die Hunde in ihrer Wehrlosigkeit immer wieder zum Opfer falsch kanalisierter menschlicher Aggression werden.[32]

Inspiriert wird Kroetz bei der Suche nach Geschichten für seine Stücke nach eigener Aussage von Schlagzeilen bzw. Meldungen in der Boulevardpresse ("Meine Stücke resultieren meist aus 'Kriminalfällen', die ich aus der Zeitung habe."[33]).

Kroetz geht von authentischen Ereignissen aus, erzählt aber die Geschichte dahinter, und das mit einer diametral entgegengesetzten Intention: Während die Zeitungen die Gewalttat selbst anprangern und verdammen, will Kroetz die sozialen Ursachen dafür anprangern.[34]

Kroetz' Täter sind also Opfer sozialer Zwänge, denn Kroetz will mit der Mitleids- und Negativ-Dramatik seiner frühen Stücke Verständnis schaffen und Mitgefühl provozieren.[35] Für Kroetz ist nämlich „echtes Mitleid [...] der Motor für Hilfe“, da es zur Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Mängeln führen soll.

Die bayerische Provinz, in die Kroetz seine Figuren in seinen frühen Stücken ansiedelt, ist bei Kroetz noch von archaischen, kleinbäuerlichen Produktionsweisen geprägt. Oft verdienen die Figuren ihren Lebensunterhalt mit Heimarbeit (eines der Stücke ist sogar danach benannt), was dazu führt, dass Wohn- und Arbeitsplatz der Figuren zusammengelegt sind und sich die gesamte Handlung innerhalb der Wohnung abspielt. Nichtsdestotrotz wirkt das Außen, also gesellschaftliche Strukturen und Gegebenheiten, dennoch auf die Familie bzw. auf individuelle Existenzbedingungen ein, die Familie kann sich nicht dagegen abschotten: Das Privatleben, der familiäre Bereich wird als abhängig von der Arbeitswelt gezeigt, die individuelle Mentalität als durch die soziale Stellung bzw. Zugehörigkeit bedingt dargestellt.[36]

"Wildwechsel", "Heimarbeit", "Michis Blut", "Hartnäckig", "Männersache", "Stallerhof" und "Geisterbahn", alle diese zwischen 1968 und 1971 verfassten Stücke, sind Studien über dieses ländlich-bayerische Milieu, beschreibende Bestandsaufnahmen dieser sozial und sprachlich niedriggestellten Menschen mit ihren Problemen und Konflikten. Kroetz will in seinen frühen Stücken nichts beweisen, suggerieren oder kommentieren, sondern nur Zustände darstellen.[37]

Dementsprechend ist sein dramaturgischer Angang reduziert: Kroetz beschränkt sich auf eine einfache, leicht nachvollziehbare und in wenigen Worten darstellbare Handlung, er konzentriert sich auf wenige Figuren und einfache familiäre Figurenkonstellationen und siedelt seine Stücke in räumlicher Enge und klaustrophober Abgeschiedenheit an. Neben dem Milieu, der Figurenanlage und der Konfliktgestaltung ähneln sich seine Stücke auch hinsichtlich ihres minimalistischen Dialogs, ihrer kurzen Szenen und ihres geringen, meist nur einaktigen Umfangs, was Kroetz damit begründet, dass die "Republik als solche [...] kein großes Stück wert [ist], nur viele Einakter".[38]

[...]


[1] Vgl.: Kroetz' biografische Daten: Carl: Kroetz, S. 7ff.; Gösche: Kroetz, S. 17; Mísová: Kroetz, S. 10ff; Kroetz: Aussichten, S. 601f.; Mattson: Kroetz, S. 1ff.; Panzner: Rezeption, S. 10f.; Riewoldt: Kroetz, S. 10ff., 321ff.

[2] Zitiert nach Mísová: Kroetz, S. 10.

Da alle wörtlichen Zitate in dieser Arbeit von Franz Xaver Kroetz stammen, werden sie im folgenden nicht mehr einzeln als von ihm stammend gekennzeichnet.

[3] In: "Kirchberger Notizen", zitiert nach Riewoldt: Kroetz, S. 166f.
Vgl.: 1970 äußert sich Kroetz über das absurde Theater als ein "Weggehen von den Menschen, von der Gesellschaft, von den Realitäten hin zu philosophischen Schlamm- und Dreckbauten" (zitiert nach Bügner: Annäherungen, S. 83)

[4] Vgl.: Riewoldt: Kroetz, S. 24f.

[5] Zitiert nach Riewoldt: Kroetz, S. 24.

[6] Zitiert nach Riewoldt: Kroetz, S. 23f.

[7] Vgl.: Ottos und Hildes Beruf in "Lieber Fritz"bzw. "Der Drang".

[8] In: "Kirchberger Notizen"; zitiert nach Riewoldt: Kroetz, S. 11.

[9] In: "Kirchberger Notizen"; zitiert nach Riewoldt: Kroetz, S. 167ff.
Vgl. auch: "Ich habe gesehen, was die Gesellschaft an den Ärmsten der Armen anrichtet. Und da habe ich mich durch die Darstellung der Schicksale der Ärmsten der Armen von meiner Hilflosigkeit gegenüber dieser Gesellschaft befreit." (zitiert nach Riewoldt: Kroetz, S. 209);
"Meine Stücke sind die Antwort auf die Leute, die mich umgeben, Leute, die von der kapitalistischen Leistungsgesellschaft überrollt wurden, die verzweifeln, ohne zu wissen, warum. Leute jenseits von Artikulation und Sprache." (zitiert nach Gösche: Kroetz', S. 19);
"Meine Stücke sind alle ein Resultat der Wirklichkeit. Alle Figuren, die Hoffnungslosen und Verdammten des Proletariats, die seelisch und körperlich Verkrüppelten, sind mir bekannt." (zitiert nach Gösche: Kroetz', S. 187).

[10] Zitiert nach Carl: Kroetz, S. 26.

[11] Fast alle Kroetz-Stücke wurden in den Studiobühnen der großen Theater oder in kleinen Theatern aufgeführt, fast nie in den großen Sälen. Die Gründe hierfür liegen zum einen in der unaufwendigen Realisierbarkeit der Kroetz-Stücke in figuren- und kulissentechnischer Hinsicht und zum anderen in der meist als brisant, heikel, ordinär, obszön, voyeuristisch oder pornographisch empfundenen Darstellung tabuisierter Handlungen auf der Bühne. (Vgl.: Gösche: Kroetz', S. 151)

[12] Vgl.: Carl: Kroetz, S. 52; Mísová: Kroetz, S. 9; Panzer: Kritiker, S. 50; Riewoldt: Kroetz, S. 63.

[13] Zitiert nach Gösche: Kroetz', S. 16f.; Panzer: Kritiker, S. 50.

[14] Vgl.: Gösche: Kroetz', S. 128; Panzer: Kritiker, S. 53.

[15] 1972, zitiert nach Carl: Kroetz, S. 15.

[16] In: "Die Zeit" (Hamburg) vom 16.10.1981; zitiert nach Riewoldt: Kroetz, S. 186.

[17] Zitiert nach Jones: Negation, S. 232.

[18] In: "Kirchberger Notizen"; zitiert nach Riewoldt: Kroetz, S. 169.

[19] Vgl.: Bügner: Annäherungen, S. 153; Riewoldt: Rezeption, S. 226.

[20] Vgl.: Panzner: Rezeption, S. 11; Bügner: Annäherungen, S. 149.

[21] „Ich glaub’, daß ich ausgeschrieben bin. Es erscheinen jetzt nicht umsonst in Kürze meine 40 Stücke gesammelt, ich glaub’, daß das 40. Stück das letzte ist." In: "Der Spiegel" (1986); zitiert nach Mattson: Kroetz, S. 49.

[22] 1985.

[23] Vgl.: Riewoldt: Kroetz, S. 267.

[24] Zitiert nach Riewoldt: Kroetz, S. 287.

[25] Vgl.: Carl: Kroetz, S. 118; Bügner: Annäherungen, S. 50; Mísová: Kroetz, S. 88.

[26] Vgl.: Mísová: Kroetz, S. 69.

[27] Zitiert nach Panzner: Rezeption, S. 16.

[28] Vgl.: Riewoldt: Kroetz, S. 151, 276.

[29] Vgl.: Jones: Negation, S. 235.

[30] Vgl.: Bügner: Annäherungen, S. 157; Jones: Negation, S. 207.

[31] Zitiert nach Bügner: Annäherungen, S. 97.

[32] Vgl.: Ettinger: Kroetz, S. 105. Der Hund wird von Kroetz bezeichnenderweise auch in das Verzeichnis der Figuren aufgenommen. Vgl.: Riewoldt: Kroetz, S. 147, 151.

[33] Zitiert nach Bügner: Annäherungen, S. 41.

[34] Vgl.: Jones: Negation, S. 211; Panzner: Rezeption, S. 21, 29.

[35] Vgl.: Ettinger: Kroetz, S. 109; Kurzenberger: Negativ-Dramatik, S. 8ff.

[36] Vgl.: Ettinger: Kroetz, S. 104; Panzner: Rezeption, S. 34.

[37] Vgl.: Panzner: Rezeption, S. 16.

[38] In: Vorwärts-Spezial (Bonn) (1983), Heft 3, S. 13; zitiert nach Riewoldt: Kroetz, S. 197.

Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
"Der Drang" des Franz Xaver Kroetz
Untertitel
Analyse des Volksstücks in der Reibung des Autors zwischen thematischer Kontinuität und formaler Dialektik
Hochschule
Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" Potsdam-Babelsberg
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
58
Katalognummer
V89285
ISBN (eBook)
9783638026406
ISBN (Buch)
9783638925563
Dateigröße
686 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Drang, Franz, Xaver, Kroetz
Arbeit zitieren
Evi Goldbrunner (Autor:in), 2004, "Der Drang" des Franz Xaver Kroetz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89285

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