Interessenartikulation in China

Eine Untersuchung der verfügbaren Mittel zur Interessenartikulation der Bevölkerung und ihrer Wirkungsweise auf politische Entscheidungsprozesse zur Regierungszeit Mao Zedongs (1949 bis 1976)


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

29 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Interessenartikulation der Volksmassen
1. Formale Wege der Interessenartikulation
1.1 Massenorganisationen
1.2 Wahlen
1.3 Versammlungen
1.4 Schriftliche Ausdrucksformen
2. Informelle Wege der Interessenartikulation
2.1 Beziehungsnetzwerke
2.2 Bestechung, Falsche Berichterstattung und Einbehaltung
3. Interessenartikulation ausgewählter Bevölkerungsgruppen
3.1 Bauern
3.2 Arbeiter
3.3 Intellektuelle

III. Fazit

IV. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

„Alle Erfahrungen, die das chinesische Volk jahrzehntelang gesammelt hat, lehren uns, die demokratische Diktatur des Volkes oder die demokratische Alleinherrschaft des Volkes durchzusetzen (…)“.[1] „Die Basis der demokratischen Diktatur des Volkes ist das Bündnis der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und des städtischen Kleinbürgertums (…)“.[2]

Damit legte Mao Zedong in seinen „Ausgewählten Werken“ die Art der Herrschaftsausübung der kommunistischen Partei fest und bestimmte damit sogleich die zugehörigen Bevölkerungsteile, die diese Herrschaft ausüben sollte. Doch auch bereits auf früheren Parteitagungen der Kommunistischen Partei wurde von Mao Zedong die Diktatur des Volkes und die Volksdemokratie als eine Steigerung oder sogar als die beste Form aller bestehenden Staatengebilde verdeutlicht. Somit sollte die am 1. Oktober 1949 ausgerufene Volksrepublik eine Krönung aller bisher da gewesenen Herrschaftssysteme darstellen, die beste Form für die Verwirklichung des Menschen repräsentieren und durch die sogenannte demokratische Alleinherrschaft des Volkes vorgelebt werden.[3] Anhand dieser Bekanntgabe Mao Zedongs und der kommunistischen Partei ließ sich also auf die Gründung eines Staates schließen, in dem das Volk herrschte und die Interessen des Volkes durch die Staatspolitik Ausdruck fanden und verwirklicht wurden.

In dem Hauptseminar „Politisches System und politische Kultur in der VR China“ gaben nun die verschiedenen Referate wie zum Beispiel über das Militär- und Kadersystem Einblicke in die einzelnen Aspekte des chinesischen Herrschaftssystems und dessen Strukturen. Im Zuge dessen konnten Erkenntnisse über die Merkmale des chinesischen Systems und ein Eindruck über dessen Besonderheiten gewonnen werden. Vor allem jedoch machten die Referate auch die Auswirkungen der kommunistischen Ideale auf die Bevölkerung und deren Lebensweise sichtbar, die die politische Durchsetzung der kommunistischen Ideen mit sich brachte.

Die vorliegende Hausarbeit greift nun im Rahmen des politischen Systems das Thema der von Mao Zedong propagierten Volksdiktatur auf und untersucht die damit verbundene Interessenartikulation. Denn kann nicht erst eine Volksherrschaft durch die Verwirklichung der artikulierten Interessen der Bevölkerung ausgeübt werden? Zur Klärung dieser Frage werden vor allem die zur Verfügung stehenden Mittel der Interessenartikulation in das Zentrum der Untersuchung gerückt. Ebenfalls werden auch die tatsächliche Verwirklichung und der Grad der Einflussnahme dieser Wege betrachtet, die durch die Alleinherrschaft des Volkes scheinbar umfangreich gewesen sein müssten.

In der vorliegenden Analyse wird zunächst mit einer Darstellung der formalen, informellen und illegalen Wege zur Interessenartikulation begonnen sowie das Ausmaß ihrer Verwendung betrachtet. Darauf folgt ein Blick auf die von Mao Zedong genannten Bevölkerungsgruppen der Arbeiter, Bauern und der städtischen Bevölkerung mit ihren besonderen Möglichkeiten zur Interessenartikulation. Der Grad der Einflussnahme auf den politischen Prozess, sowie die Zusammenhänge zwischen der Wahl des jeweiligen Mittels mit dem entsprechenden Lebensumfeld werden anhand dieser Betrachtung aufgezeigt. Zusätzlich soll die Beleuchtung der verschiedenen Arten der Interessenartikulation Aufschluss geben, ob eine tatsächliche Einflussnahme auf politische Entscheidungen für bestimmte Bevölkerungsteile leichter möglich war und dabei gegebenenfalls auftretenden Diskrepanzen zur Wirklichkeit aufgedeckt werden.

Auf Grund der politischen Abschottung zur Zeit Mao Zedongs liegen nur wenige Dokumente und Arbeiten zu diesem Thema vor. Trotzdem soll in dieser Hausarbeit der Versuch unternommen werden, einen annähernd vollständigen Einblick in die Arten der Interessenartikulation zwischen 1949 bis 1976 zu geben.

II. Interessenartikulation der Volksmassen

Um zunächst die Bedeutung der Interessenartikulation im politischen System erfassen zu können, wird der Begriffsinhalt des Wortes kurz bestimmt. Nachfolgend werden die verschiedenen Arten der Interessenartikulation betrachtet.

Die Interessenartikulation in einem politischen System meint den Ausdruck von politischen und sozialen Interessen der Individuen in einer Gesellschaft. Außerdem soll damit das Handeln der Regierung und die Entscheidungen der Politik beeinflusst werden.[4] Bei dieser Begriffsbestimmung wird deutlich, dass es sich nicht einfach um den Ausdruck irgendwelcher Interessen handelt, sondern um spezielle, nämlich politische und soziale Interessen der Gesellschaft. Zusätzlich soll die Politik durch ihre Äußerung beeinflusst werden. Die Artikulation dieser Interessen erfüllt also einen bestimmten Zweck im politischen Prozess.

In jeder Gesellschaft gibt es dabei verschiedene Wege, diese eben definierte Art der Interessen zu artikulieren. Dabei kann dies einmal durch formale, also von der Regierung institutionalisierte und somit vorgegebene legitime Wege geschehen. Im Rahmen von Wahlen, Petitionen und Versammlungen können die Interessen ausgedrückt und verfolgt werden. Zum anderen ist die Interessenartikulation auch durch informelle oder auch illegale Kanäle, wie durch Bestechung, Beziehungsnetzwerke oder passiven Widerstand möglich. Deren Ausprägung variiert je nach politischem System und tritt häufig verstärkt auf, wenn die formalen Wege weniger gewährleistet oder mit stärkeren Repressionen verbunden sind.

1. Formale Wege der Interessenartikulation

Durch die Bezeichnung des chinesischen Staates als Volksrepublik und die Betonung der Volksdiktatur entsteht augenscheinlich der Eindruck, dass in dem kommunistischen Staat unter Mao Zedong großer Wert auf die Interessen und Bedürfnisse des chinesischen Volkes gelegt wurde. Daher soll zunächst eine Betrachtung der formalen und institutionalisierten Kanäle zur Interessenartikulation erfolgen, durch die die chinesische Bevölkerung ihre „Volksdiktatur“ ausüben konnte und im gleichen Zug eine Untersuchung der damit verbundenen tatsächlichen Einflussmöglichkeiten erfolgen.

1.1 Massenorganisationen

Als ein legitimes Mittel zum Ausdruck der Interessen standen den chinesischen Volksmassen die Massenorganisationen als übergeordnete Interessenvertretung zur Verfügung. Die Einordnung der Bevölkerung in die entsprechende Massenorganisation erfolgte dabei automatisch meist durch den jeweiligen Berufsstand. Die Interessen der Arbeiter sollten somit zum Beispiel in den Gewerkschaften, die Interessen der Wissenschaftler in dem Verband für Wissenschaft und Technologie oder die Interessen der Frauen im Frauenverband vertreten und artikuliert werden. Artikel VII des Gewerkschaftsgesetztes hält die Funktion solcher Massenorganisationen auch beispielhaft fest:

“It is the duty of trade unions to protect the interests of workers and staff members, to endure that the managements, or the owners of private enterprises effectively carry out labour protection, labour insurance, wage standards, factory sanitation and safety measures.”[5]

Ein Vergleich zu den Aufgaben westlicher Gewerkschaften als Interessenvertretung im politischen Prozess liegt also nahe. Doch wurden die Interessen der verschiedenen Berufsgruppen tatsächlich durch die Massenorganisationen in China vertreten?

Zunächst erschwerte die Vorrangstellung des kollektiven Interesses über das Interesse des Einzelnen die Durchsetzung der Interessenartikulation der Verbände. Außerdem wurde das Kollektivinteresse durch die Parteiführung und nicht durch die Volksmassen bestimmt, was meist zu einer totalen Unterordnung aller anderen Interessen unter das sogenannte politisch vorgegebene Kollektivinteresse führte, anstatt die kollektive Interessenvertretung der Verbände zu betonen.[6] Eine Interessenartikulation war auf diesen institutionalisierten Weg also kaum möglich, die eigenen Interessen mussten stattdessen den Kollektivinteressen angeglichen oder vollständig unterworfen werden. Sie konnten nur verfolgt werden, wenn sie zufällig den Kollektivinteressen entsprachen. Zudem bestand die Absicht der Massenorganisationen auch gar nicht in der Interessenvertretung der Bevölkerung. Vielmehr dienten sie den Zwecken der Parteiführung als Kontrollorgane und Mobilisierung der Volksgruppen.

Ein Beispiel für eine zufällige Entsprechung der Massenverbandsinteressen mit dem Kollektivinteresse stellt der Frauenverband dar. Denn diese Organisation konnte die Interessen und Rechte ihrer Mitglieder freier ausdrücken und vorantreiben als viele andere Massenorganisationen. Die Gleichberechtigung der Frauen konnte im Zuge der Interessenartikulation durch die Organisation zum Beispiel bei der Nominierung von weiblichen Kandidaten für Wahlen oder die gleichberechtigte Stellung der Frau verbessert werden.[7] Allerdings sollte diese vermeintliche Ausnahme im Hinblick auf das politische Interesse der Parteiführung bei diesem Verband hinterfragt werden. Denn durch die stärkere Einbindung der Frauen in die Gesellschaft konnten die Frauen besser in politische Kampagnen eingebunden werden und entsprach damit dem politischen Ziel der politischen Mobilisierung und Einbeziehung aller Bevölkerungsteile. Zusätzlich konnten dadurch die Arbeiterkapazitäten für das chinesische Industrialisierungsprogramm gesteigert werden und damit der Wirtschaftsaufschwung des Landes vorangetrieben werden. Die Interessenartikulation und –vertretung des Frauenverbandes entsprach demzufolge dem Kollektivinteresse und damit dem Interesse der Partei. Nur auf Grund dessen war eine verstärke Artikulation dieser Interessen der Frauen in der Massenorganisation möglich. Ohne diese Übereinstimmung mit den Kollektivinteressen wäre diese Ausnahme kaum existent gewesen.

Generell können die Massenorganisationen in der Zeit Mao Zedongs also kaum als ein wirklicher Kanal zur Interessenartikulation der Bevölkerung angesehen werden. Vielmehr stellten sie ein Medium der Parteiführung dar, um die Bevölkerung für politische Kampagnen zu mobilisieren, ihre aktuelle Politik zu verbreiten und generell durch die Einordnung der Bevölkerung in Organisationen eine politische Kontrolle über die Volksmassen auszuüben.[8] Die Massenorganisationen dienten also hauptsächlich der Parteiführung zur Artikulation und Durchsetzung ihrer eigenen Interessen, eine ausführlichere Darstellung dieser Verbände hinsichtlich einer Interessenartikulation der Bevölkerung ist daher nicht erforderlich.

1.2 Wahlen

Im Rahmen der Interessenartikulation stellen die Existenz eines Wahlrechts und Wahlsystems entscheidende Faktoren für die Artikulation der politischen und sozialen Interessen der Bevölkerung dar und ist für die Einflussnahme auf die politische Entscheidungsfindung besonders wichtig. Vor allem im Zusammenhang mit der von Mao Zedong proklamierten Volksherrschaft und ihrer Ausübung hätte das Recht zu wählen eine zentrale und bedeutende Position einnehmen müssen.

Artikel vier des Wahlgesetzes der Volksrepublik China von 1953 sicherte zunächst den Volksmassen das Wahlrecht und gleichermaßen auch das Recht gewählt zu werden ab achtzehn Jahren zu. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass dieses Recht unabhängig von der Nationalität, Rasse, Geschlecht, Beruf, sozialer Herkunft, Religion, Bildung, Besitzstand oder Wohnort Geltung hatte.[9] Artikel vier garantierte somit allen Bürgern das Recht zu wählen und sicherte damit die Einflussnahme auf politische Entscheidungen zu. Allerdings untergrub bereits der nachfolgende Artikel fünf die Bedeutung dieses Wahlrechts fast vollständig. Denn der Artikel fünf schloss spezielle Personenkreise wie Landbesitzer, Konterrevolutionäre und die sogenannten fünf schlechten Elemente, zu denen unter anderem reiche Bauern und Rechtsgerichtete zählten, von der Teilnahme an Wahlen aus.[10] Dadurch wurden einzelne Personen von vorne herein aus dem Prozess der Interessenartikulation und Einflussnahme ausgeklammert. Die Parteiführung konnte damit bereits vor der Wahl potentielle Gegner ausschalten oder kritische Diskussionsrunden verhindern. Lediglich regimetreue Personen und augenscheinliche Befürworter der Politik erhielten die gesetzliche Garantie zur Teilnahme an Wahlen. Politischen Gegnern wurde dieses Recht der Interessenartikulation nicht zugestanden und die Gefahr einer kritischen Einflussnahme konnte damit unmittelbar verringert werden.

Doch trotz dieses fundamentalen Ausschlusses bestimmter Personenkreise hatten diese Einschränkungen keine wesentlichen Auswirkungen auf die Zahl der Wahlberechtigten und machten zumindest in den Jahren 1953 bis 1956 lediglich zwischen 0.52 bis 1.52 Prozent aus.[11] Die oben genannten Beschränkungen können somit vernachlässigt werden, allerdings sollte ihre politische Bedeutung dennoch nicht heruntergespielt werden.

Für den Großteil der chinesischen Bevölkerung war jedoch die Interessenartikulation im Rahmen des Wahlprozesses möglich, daher folgt nun ein Überblick über den Wahlablauf. Dabei werden zunächst die Wahlen auf Dorfebene und darauf folgend die Wahlen auf Stadtebene betrachtet.

1.2.1 Wahlen auf Dorfebene

Entsprechend der offiziellen Richtlinien wurden lokale Führer und Delegierte von der dörflichen Bevölkerung gewählt, wobei die Wahlen bis zu den Vertretern der Volkskongresse auf Kreisebene (县级) erfolgten. Die Bestimmungen hielten außerdem fest, dass die Wahlen der Führer, Abgeordneten und Komiteemitglieder der Produktionsgruppen und –brigaden mindestens alle zwei Jahre durchgeführt werden sollten.[12] Die Wahlen fanden dabei innerhalb der dörflichen Organisationsstruktur von Produktionsgruppen und –brigaden statt, in die die gesamte chinesische Dorfbevölkerung ab 1962 gegliedert wurde.[13] Dadurch entstand eine Organisationsstruktur, in der die gesamte dörfliche Bevölkerung und damit jeder einzelne einer entsprechenden Produktionsgruppe angehörte. Demzufolge spielten sich nicht nur die Wahlen, sondern damit auch die Artikulation der Interessen hauptsächlich innerhalb dieser Strukturen ab.

[...]


[1] Tse-Tung, Mao: „Ausgewählte Werke“, Band IV, S. 444f.

[2] Ebd., S. 448.

[3] Vgl. Ebd., S. 441.

[4] Vgl. Nohlen, Dieter: „Wahlen und Wahlsysteme“, S. 219.

[5] Townsend, James R.: „Political Participation in Communist China“, S. 156.

[6] Vgl. Townsend, James R.: „Political Participation in Communist China“, S. 156.

[7] Vgl. Ebd., S. 157.

[8] Vgl. Townsend, James R.: „Political Participation in Communist China“, S. 157.

[9] Vgl. Burns, John P.: „The Election of Production Team Cadres in Rural China: 1958-74“, S. 275.

[10] Vgl. Ebd., S. 275.

[11] Vgl. Townsend, James R.: „Political Participation in Communist China“, S. 118.

[12] Vgl. Burns, John P.: „ Chinese Peasant Interest Articulation“, S. 131.

[13] Vgl. Ebd., S. 129.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Interessenartikulation in China
Untertitel
Eine Untersuchung der verfügbaren Mittel zur Interessenartikulation der Bevölkerung und ihrer Wirkungsweise auf politische Entscheidungsprozesse zur Regierungszeit Mao Zedongs (1949 bis 1976)
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Moderne China-Studien)
Veranstaltung
Politisches System und politische Kultur in der VR China
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
29
Katalognummer
V89146
ISBN (eBook)
9783638025812
ISBN (Buch)
9783638921633
Dateigröße
537 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Interessenartikulation, China, Politisches, System, Kultur, China
Arbeit zitieren
Susanne Topp (Autor:in), 2007, Interessenartikulation in China, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89146

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