Textgestaltungsverfahren im Roman "Pixeltänzer" als Schnittstelle zwischen Romantik und Gegenwart


Essay, 2020

13 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt:

1. Einleitung: Der Text und das Programm

2. Textmontage
2.1. Fragment und das Verhaltnis zum Jetzt
2.2. Sprachen und Formen: das Beta-Skript

3. Am Schluss ist es ein Meta-Skript

Literaturverzeichnis

1. Einleitung: Der Text und das Programm

Definition of Done1 steht als letzte der von Glanz in Pixeltanzer2 immer wieder eingebetteten, mitunter eben typografisch abgehobenen Wiedergabe von Sprache, von Code(s) in Softwareentwicklung und -produktion. Dieser kleine Abschlusstext wirft nach dem marchenhaften Schluss3 die Frage auf, wie weit das Kalkiil geht, mit dem Glanz ihr Debut beschlieGt, bzw. ihren Text gemacht hat. Insa Wilke attestiert dem Roman zu-mindest, dass „er permanent Kommentare zu poetologischen Positionen, Leseprozessen und Literaturbetrieb abfeuert."4 und freut sich, dass „das humorvolle, mit vielen literatur-historischen Wassern gewaschene, auf gegenwartig getunte Debut einer freudig auf Dis-kurswellen surfenden Autorin."5. In ihrer umsichtigen Besprechung des Romans geht sie auf einige Aspekte der Verfasstheit des Werkes ein, die sich wahrend und nach der Lektii-re wieder und wieder in den Vordergrund schieben. Das Verhaltnis von Discours und His-toire, oder besser von Discourses und Histoires changiert unentwegt. Modi, Stimmen und Figuren miissen von uns durchgangig neu identifiziert und zusammengebracht werden. Der als Debut inszenierte Text ist vielleicht der einer „freudig auf Diskurswellen surfen­den Autorin"6, aber durchaus weniger auf Gegengwart getunt7. Pixeltanzer emuliert nicht Gegenwartigkeit, sondern ist viel mehr in tune mit Gegengwart, beziehungsweise ein Ausdruck dieser. Aber da ist noch mehr:

„Bislang blieben die Versuche, die technischen und kommunikativen Entwicklungen der letz-ten zwei Jahrzehnte literarisch zu iibersetzen, meistens unbefriedigend, well nur Requisiten verschoben wurden."8

Insa Wilke, 30.07.19, sueddeutsche.de Wilke trifft einen Punkt der unser Augenmerk verdient. Glanz „iibersetzt" nicht unbedingt „Elemente der Verweis- und Kommentarsysteme des barocken Romans in Programmier-und Managementsprache"9 wie Wilke meint: Wahrend Peter Glaser, der sich selbst als „Schreibprogramm"10 bezeichnet, 1996 zum 1. Internet-Literaturwettbewerb noch davon spricht11, dass die Alitor:innen „nun mit Licht [schreiben]"12, scheint Glanz, ein anderes Verstandnis der „Requisiten" zu haben. Bei ihr wandert nicht das Schreiben einfach vom Analogen ins Digitale, sondern sie wendet Mittel der Herstellung digitaler Anwendungen auf einen fur uns zuerst analog vorliegenden Roman an. Die Ausgefeiltheit, die Wilke Pi-xeltdnzer zuspricht liegt im Gespiihr der Autorin aus ganzlich verschiedenen Schreiban-lassen und personlichen Interessen einen Text zusammenstellen zu konnen, der funktio-niert, sich verkauft und business ist13, Stories und Sprachen zu funktionalisieren, urn ein Produkt zu erschaffen, die user story immer im Blick. Das iibliche Verhaltnis von Tech und Literatur gerat durch Pixeltanzer ins Wanken.

Berit Glanz, die sich „als Literaturwissenschaftlerin mit kulturwissenschaftlicher Ausrichtung" unter anderem explizit fur „Medienwandel [und] den Einfluss der Digital!-sierung auf die Literaturproduktion und -rezeption [interessiert]"14 stellt den Produktions-und Rezeptionskonventionen des Literaterturbetriebs nicht nur das Narrativ, sondern auch die Produktions- und Rezeptionskonventionen der Tech-Welt unmittelbar gegeniiber. Diese Arbeits- und Schaffenskultur teilt sich mit der des Literaturbetriebes eine wesentli-che Requisite, namlich das Medium der Sprache und den Prozess des Schreibens. Mittels Skripts und Programmiersprachen konnen multimodal Zeichen (Programme, Anwendun­gen) geschaffen werden, deren Rezeptionsprozesse hochgradig steuerbar und auswertbar sind. Glanz iiberfiihrt einige Verfahren dieser Schreibweise nicht nur in die Oberflache des Romans, sondern organisiert ihn wie eine Anwendung fur eine bestimmte user experi­ence. Programmatisch programmartig quasi zeigt sie ihr Bewusstsein und ihr Interesse fiir die moglichen Wege der mit der Romanrezeption verbundenen Anschlusskommunikation. In der vorliegenden Arbeit mochte ich ausgehend von der Rezension Insa Wilkes und Aussagen Glanz iiber Literatur und Literaterturbetrieb betrachten, wie die verschiedenen in Pixeltanzer verwendeten Textsorten zueinander im Verhaltnis stehen und welchen Wert sie fiir ein auEerliterarisches Funktionieren des Romans haben. Die besondere Beachtung, die dem Roman als Debut zu kommt, und die damit verbundenen Moglichkeiten sich als Autorin zu prasentieren und mit der Leseninnenschaft zu interagieren, sollen mit einflie-Een.

2. Textmontage

„Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange als der Roman; unter alien 1st er auch der verschiedensten Bearbeitung fahig; denn er enthalt oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Kiinste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten - in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz interessieret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was moglich und denkbar ist, ja das Unmogliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unsern Verstand oder unser Herz interessieret. Die groBesten Disparaten laKt diese Dichrungsart zu; denn sie ist Poesie in Prose."

Johann Gottfried Herder (1796)

PixeMnzer scheint ein aus verschiedenen Textsorten zusammengesetzter Roman zu sein, der produktionsasthetisch am Herderschen15 Standpunkt zum Roman und der Schlegel-schen Forderung, „dass die Willkur des Dichters kein Gesetz iiber sich leide"16 orientiert ist. Das Fragment scheint ein wesentliches Gestaltungsmerkmal zu sein, der Roman sich also eher am Romantischen als am Barocken abzuarbeiten. In diesem Zusammenhang sind auch der Entwurf der Figur Beta und ihres Selbstbildes von Bedeutung: „Seit dieser Reise und den Lavinia-Fragmenten denke ich iiber Erschopfung und Opferbereitschaft nach."17 Beta, die im Kontext „kunftiger Change-Maker"18 nach ihren Moglichkeiten sucht sich abzugrenzen, wahnt in Lavinia ein Modell, das nachzuahmen wegen des Rene-gatenhaften einerseits erstrebenswert, wegen der selbstzerstorerischen Ablehnung von Leistungsvergiitung in Form von Geld andererseits aber nicht moglich ist. Dazu weiter unten noch eingehender. Zunachst mochte ich mich den verschiedenen Textteilen von Pi­xeMnzer widmen, sie identifizieren und gegebenenfalls unterschiedliche Textsorten, ihre moglichen Funktionen und darin verhandelte Themen herausstellen.

2.1. Fragment und das Verhaltnis zum Jetzt

Neben der Themenvielfalt verarbeitet Berit Glanz in Pixeltanzer diverse Textsorten. In den Teilen public static Life one bis six prasentiert sich uns eine Milieu-Studie eines neo-konservativen, zutiefst marktglaubigen Unternehmens, Betas und Johannes Freizeitaktivi-taten werden mit kleinen „wusstest du eigentlich"-Snippets garniert, es finden sich Ge-sprachsprotokolle von Telefonaten, ein Kochrezept und gleich eingangs das Portrat einer rauchenden Frau.

Dieses Portrat der rauchenden Frau am Fenster19 ist wie oben erwahnt von Berit Glanz verfasst worden, bevor sie den Plan hatte einen Roman zu machen.20 Es ist „gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel."21 An ihm mochte ich das Prinzip der Textmontage illustrieren und den Fragment-Charakter des Romans einmal exemplarisch herausstellen. Abgesehen davon, dass dieser Eingangstext rein subjektiv neben der Lavinia-Geschichte eine der schonsten Stellen des Romans ist, fallt doch auf, dass diese Passage zwar erzahlerisch durch einige Momente mit dem Rest der Handlung verkniipft ist, aber eigentlich nicht ganz passt. Dafiir dass Beta dermaEen asthetisiert als Raucherin eingefiihrt wird, spielt ihr Zigarettenkonsum spater eine ziemlich untergeordnete Rolle: In Liibben hat sie das Feuer-zeug dabei, damit die Gruppe ein Feuer anziinden kann. „Ich wiihle in meinen Taschen, finde ein Feuerzeug und halte es Johannes hin."22 Sie ist sich augenscheinlich nicht ein­mal sicher, ob sie so ein Werkzeug dabei. Und dann in Hamburg bei der Abschlussveran-staltung des TechBus-Wettbewerbs „[i]m Raucherbereich des Hotels, weil die aufregende Stimmung im Tagungsraum uns angesteckt hat und Lea den AngstschweiE der anderen nicht mehr riechen wollte"23 vielleicht mit Zigarette, vielleicht auch nicht. Beta raucht nicht, das Portrat der Rauchenden ist aber so gut, dass es in den Roman durfte und mit zwei kleinen Textankern gewissermaEen festgezurrt worden ist. Der historische Roman-im-Roman, dessen Telle von Beta explizit als Fragmente bezeichnet werden24, schafft we-gen seines Umfangs ein textuelles Gegengewicht zu den vielen kleineren Formen Pixel-tanzers und liefert in der Rezeption den notigen Kontrast zu Betas und Johannes Perfo-mance der „Liebe zum Team"25 in der sich Privat- und Berufsleben ineinander auflosen und dessen Teil sie sind. In Betas Welt hat die Identifikation mit und die Anpassung an ei-nen corporate lifestyle zumindest auGerlich einen hohen Stellenwert und wird fiir ein Funktionieren des Unternehmens vorausgesetzt, wahrend bei Lavinia die Perfomance als kiinstlerisches Handeln alles andere in den Hintergrund drangt. Beide Romanteile zusam-men rufen iiber die gegensatzlichen Perspektiven das Programm der Romantik auf, der auGere durch die Affirmation, mit der die Figuren der erzahlten Welt begegnen, die aus vielen kleinen Belanglosigkeiten zu bestehen scheint, der innere durch die Negation eben-dieser. Mit Monika Schmitz-Emans sei es hier wiefolgt zusammengefasst:

„Tatsachlich sind viele romantische Romane als Kombinationen aus verschiedenen Darstel lungsformen konstruiert. So ergibt sich eine bemerkenswerte formale Vielfalt: Lyrisches und Dramatisches wechselt oft mit narrativen und refl exiven Partien ab, verschiedene Stimmen kommen zu Wort - in Vorwegnahme des Bachtinschen Theorems von der „Vielstimmgkeit des Romans" -, und vor allem wird diese Polyphonie dazu genutzt, unterschiedliche Sichtweisen der Wirklichkeit miteinander zu kontrastieren. Damit vermag gerade der Roman die Welt in ihrer Vieldeutigkeit und Interpretationsfahigkeit zu reflektieren."26

Monika Schmitz-Emans, 2009

Die Anwendung des Fragmentarischen als Gestaltungsprinzip birgt das Potenzial viele scheinbar unzusammenhangende Phanomene in einem Gesamtkonstrukt aufzuheben und neben der Presentation der Diversity Sichtweisen iiber die Wirklichkeit eine hohe Reich-weite fiir diese Presentation herzustellen. Viele mogliche Zielgruppen werden in PixeMn-zer angesprochen. 1st die Vermarktbarkeit der Schreibanlass oder hilft dem Schreibanlass das Verstandnis fiir Vermaktbarkeit? Auf der Erzahlebene des Romans wird diese Marke-ting-Fahigkeit explizit vorgefiihrt, beispielsweise bei dem finalen Pitch fiir die Musca-App:

„Auf der Startfolie unserer Presentation ist ein Bild einer Arcade-Spielhalle aus den spaten Achtzigern. Der gesamte Nostalgiefetisch alternder Nerds und junger Hipster wird bespielt, Air Max, begeisterte Jugendliche in Sweatshirts und hellblauen Jeans, Neon-Asthetik."

Pixeltanzer S. 222

Themen die dariiber hinaus fiir uns als Rezipient:innen verhandelt werden sind unter an-derem Technologien, Faszination fiir das Weltall, 3D-Druck, App-Design, Start-up-Kultur, Netzkultur, Tierwelt, Kunst, Masken, Tanz, Mutterschaft, Partnerschaft, Selbstverwirkli- chung, Expressionismus, Gesellschaftskritik und -iiberwachung. Dabei gibt es bestandig was zu lernen, wir erfahren zu all diesen Themen etwas, das uns vielleicht in der einen oder anderen Small-Talk-Situation niitzlich sein kann. Sprachlich wird uns Betas Leben und Arbeiten im akuten Jetzt des 21. Jahrhunderts in Berlin in einer nicht naher benannten Softwareschmiede gleich zu Anfang mit einer ordentlichen Prise Anglizismen27 als schnelllebig, globalisiert und von Ablieferungsdruck gepragt vorgestellt. Als digital sozia-lisierte Personen fiihlen wir uns gleich gut aufgehoben, der „pace" stimmt und eigentlich ist egal, was uns durch Betas Perspektive gezeigt werden wird, das Identifikationspotenzi-al mit dieser Figur ist schonmal hoch. Oder ist es das mit der anderen Protagonistin, die aus biirgerlichen Kleinstadterhaltnissen ausbrechen und sich eine eigene Identitat schaffen mochte, entgegen der Vorstellungen ihrer Eltern?

„Sie [die romantische Poesie] will und soil auch Poesie und Prosa, Genialitat und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und ge sellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die For men der Kunst mit gediegenem Bildungsstoff jeder Art anfiillen und sattigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen."

Friedrich Schlegel, AF 166, 1798

Neben die Formenvereinigung tritt im Fragment auch die Vermittlung von Wissen (Witz) und die Kommunikation dariiber (Gesellschaft poetisch machen), beziehungsweise im-pulsartig andere Tatigkeit anzuregen (beseelen). Das Fragment ist als Form, die klein oder umfangreich ausgepragt sein kann, unaufhorlich ein Ausdruck der Gegenwart.

2.2. Sprachen und Formen: das Beta-Skript

AuEerlich ist Pixeltanzer in sieben Abteilungen gegliedert, die nach Assembler-Befehlen benannt sind. Assembler ist eine Programmiersprache, in der der physikalische Zustand einer Maschine in Gedachtnisstiitzen, sogenannten Mnemonics aufgehoben ist. „Assem-blerprogramme sind sehr hardwarenah geschrieben"28. Binarcode, also eine Folge von Einsen und Nullen, die einem Computerchip eine Folge von Strom-an/Strom-aus-Zustan-den vorgibt und damit Verhalten befiehlt, einen Prozessorzustand erzeugt, wird in dieser Programmiersprache in einer fiir Menschen verstandlichen Abkiirzung wiedergegeben. Beispielsweise die in Pixeltanzer verarbeiteten Befehle NOP, MOV, WFE, SEV, NEG und Urn zu zeigen, wie diese Kapiteliiberschriften und das Geschehen des Romans zusam-menhangen, ist ein kurzer Gang durch die Handlung notig. Der Zweck ist nicht vorder-griindig die Handlung zusammenzufassen, sondern herauszustellen, wie der Program-miertext im Handlungstext iibersetzt und eben doch systematisch durchgespielt ist. Dem sei zur Erinnerung noch mal Insa Wilkes Kommentar zu den Kapiteliiberschriften vor-weggeschickt:

„Textbewegungen und Leserlenkung scheinen offengelegt zu werden, wobei das Ganze nicht systematisch durchgespielt wird, man also nur auf eine Fahrte gefuhrt werden soil, urn dann der eigenen Neunmalklugheit uberfiihrt zu werden. Damit ist man Teil des Spiels, dessen oberste Regel lautet: Du kann das System nicht schlagen."29

InsaWilke, 30.07.19, sueddeutsche.de Auf der Erzahlebene gereichen die Assembler-Befehle zur Zustandsbeschreibung Betas. Diese sieben Zustande seien hier kurz benannt und charakterisiert. Ganz „neunmal-klug" mochte ich behaupten, dass alles was nicht in Drei-Buchstaben-Mnemonics iiber-schrieben ist, eher Unterkapitel sind. In „NO OPERATION"30 lernen wir Beta kennen und erleben intern fokalisiert neben ihrem Berufsalltag als Junior-Quality-Assurance-Testerin ihr Privatleben kennen, in dem sie zunachst nichts weiter tut als Tinder-Dates, Smartpho-ne-Apps, Ausflugsziele und Eis zu konsumieren. Die Lektiire wird immer wieder von Kommentaren zu Start-up-Kultur unterbrochen, deren Urhebenin nicht Beta ist. Es folgt nun die Anweisung „MOVE"31, die in Assembler fiir einen Kopiervorgang steht. Beta macht einiges mit Kopien. Sie wirft einen Roboterfisch (also eine Kopie) in die Spree (von der das Aquarium die Kopie gewesen sein kann) und fertigt eine Schallplatte von ei-nem 8-Bit-Computerspiel-Sound an. Hauptsachlich begibt sie sich aber auf die Suche nach dem was „Toboggan" ist und findet zeitgenossische Videoaufnahmen in denen Kopi­en der Tanzmasken in einer Performance bewegt werden. In kurzen tagebuchahnlichen Notizen fangt sie das Gesprach mit Dawntastic-User Toboggan an und berichtet ihm dann in „Lieber Toboggan,"32 fast kopieartig, urn einige Reflexionen erganzt, davon wohin sei­ne Hinweise sie gefuhrt haben. Die Binnenerzahlung mit einer Protagonistin, deren Konzept von Work-Life-Balance Beta zur Nachahmung anregen wird (Kopie), beginnt. Im Abschnitt „WAIT FOR EVENT"33 will Beta sich Lavinia (Protagonistin der Binnenerzah-lung), deren Geschichte sie nun bei Wikipedia zur Kenntnis nehmen konnte, gefiihlsma-Eig annahern und fahrt nach Liibben, Lavinias Geburtsort. Ohne Effekt. Dann in „SET EVENT"34 findet Beta einen anderen, aktiveren Zugriff, namlich den der Nachahmung (Kopie), der basalsten Form des Lernens: „Habt ihr nicht manchmal Lust, etwas vollig unerwartetes zu tun?"35 gibt das Initial fur den Versuch die Langeweile loszuwerden, die Beta empfindet. Eine unbenutzbare App soil auf einer Pitch-Veranstaltung fur Irritation sorgen. Mit „NEGATE" wird in Assembler eine positive Zahl ins Negative gekehrt, ein Richtungswechsel veranlasst. In diesem Abschnitt36 scheitert Lavinias Form der Kritik und Beta zunachst scheinbar auch: Sie und ihr Team gewinnen fur ihre unbenutzbare App ein Preisgeld und einen Work-Space. Beta fragt Toboggan: „Sollte ich mich schamen, weil andere niemals die Chance bekommen, sich so zu langweilen wie ich?"37 Die Erleb-nisse des Wettbewerbs wandeln Betas Langeweile in die Erkenntnis, dass sie die Fahig-keit hat „Kritik mit ihrem Gegenstand verschmelzen [zu lassen]"38. SchlieElich, als Kon-sequenz aus „NEGATE" folgt nun der Abschnitt „CHANGE PROCESSOR STATE"39. CPS ist eine wichtige und gleichzeitig basale Funktion in Assembler. Sie ist dafiir da ver-schiedenen Nutzungsinstanzen der CPU verschiedene Nutzungsrechte einzuraumen. Die des Betriebsystems sind umfanglicher und tiefgreifender als die einer Anwendung an der Nutzeninnenoberflache. CPS dient zum Schutz des Prozessors und der Funktionalitat des gesamten Systems vor fehlerhaften Operationen, die Abstiirze, also einen Totalausfall ver-ursachen konnen. Im Unterschied zu Lavinia findet Beta einen Weg sich kritisch zu beta-tigen ohne sich dabei zu zerstoren. Durch den Preis, das betreute Arbeiten an einem voll eingerichteten Arbeitsplatz und die Moglichkeit hauptberuflich Stunden zu reduzieren, haben sie und ihr Team die Chance ihre leicht subversiven Ideen (die Entwicklung einer Anti-Biometrie-App) voranzutreiben. Sie miissen das System nicht schlagen, sie miissen es verstehen und benutzen konnen.

Diese auEere Einteilung nach Befehlen fur Maschinen ist ein Fingerzeig, der die geneigte Literaturwissenschaftler:in in helle Aufruhr versetzen kann, kommt hier doch eine Sprache, eine Art zu Kommunizieren zum Einsatz fiir die sich Literatur- und Kultur-wissenschaft erst allmahlich „einlassig"40 zeigen. Berit Glanz formuliert es in einem Es­say wie folgt:

„Kultur- und Literaturtheorien lassen sich von verschiedensten ideengeschichtlichen Entwick-lungen und Wissensbereichen inspirieren. Begriffe werden ubernommen, nach Bedarf umge formt, fachfremde Konzepte dienen als Inspiration, werden abgewandelt und verandert - ein Zeichen fur die groKe denkerische Dynamik und Offenheit der Geisteswissenschaften. "

Glanz: Sonnenaufgang im Uncanny Valley (2019)41

Die wenigsten (auch arrivierten) Literatur- und Kulturwissenschaftleninnen konnen wahr-scheinlich vollends von sich behaupten, „mit den aus der Digitalisierung und aktuellen technischen Entwicklungen resultierenden Veranderungen produktiv [umgehen zu kon­nen]."42 Uber das „Verschieben der Requisiten" hinaus gedacht, hieEe das, sich eine Sprach- und Schreibweise anzueignen, die es vermag kultursemiotische Prozesse iiber die eigene unmittelbare Wahrnehmung hinaus, automatisiert zu erfassen, zu deuten und kiinstlerisch oder wissenschaftlich darzustellen oder eigene herzustellen. Johannes Hert-wig erklart in der von Wilke erwahnten Anthologie Mindstate Malibu, zugegebenermaEen politisch zugespitzt, dass „[d]ie Verhandlung der Gegenwart auf breiter Basis also mog-lich [ist], in Form maximaler Affirmation. Jeder Mechanismus muss soweit verstanden werden, dass er adaptierbar wird, bevor der nachste Schritt folgen kann."43 Gelinde gesagt macht Glanz^ Verwendung von Assembler deutlich, dass zumindest ich hier zunachst, frei nach Funny van Dannen „mit der Nackten Hand im Wind stehe"44, und mir jetzt ein grundsatzliches Werkzeug fehlt mit Literatur der Gegenwart irgendwie angemessen um-zugehen, ich kann nicht parsen, hochstens selber lesen und dann analysieren. Hierin liegt ein starkes Potenzial des Romans, auch auEerhalb der erzahlten Welt(en) eine Kommuni-kation iiber Schreib- und Wissenschaftspraxis anzuregen und das die Qualitat von Unvoll-endetheit45 aktualisiert: „[mediale] Veranderungen werden von von den Geisteswissen- schaften zwar beobachtet und analysiert, es gibt jedoch ein deutliches Ubergangsproblem zwischen den im Studium erworbenen theoretischen Fahigkeiten und ihrer ganz prakti-schen Anwendung im Berufsleben."46 Die Geisteswissenschaften als Teil des Literaturbe-triebs haben nun also Dank Autoninnen wie Berit Glanz oder dem Kosmos urn den Froh-mann-Verlag vor Augen gefiihrt bekommen, dass die Literatur der Gegenwart nicht unbe-dingt auf der Tastatur geschrieben werden muss, sondern mit Programmiersprachen auch Skripte geschaffen werden konnen, die Gegenwart auslesen und nachschreiben konnen.

3. Am Schluss ist es ein Meta-Skript

Berit Glanz verbindet in ihrem Debiitroman Pixeltanzer das fragmentarische Schreiben mit dem programmartigen Schreiben. Aus der Lust an der Textproduktion erwachst hier-bei ein Kommentar zum Literaturbetrieb, der ziemlich deutlich macht, dass „einfach mal etwas vollig unerwartetes zu tun" unter Umstanden damit einhergehen kann, einerseits die Erwartungen, die ein Individuum oder eine Institution an sich selbst haben, dabei in Frage stehen und andererseits diesem vollig Unerwartetem kein kalkulierbares Ergebnis folgen, dem Ganzen aber in jedem Fall eine Entwicklung, beziehungsweise ein Verstehen voraus-gehen muss. Die Kontrastierung der Biografien ihrer Figuren Beta und Lavinia regt dazu an, das Verhaltnis von Privat- und offentlichem, bzw. Berufsleben zu iiberdenken. Die Er-kenntnis, dass sie eigentlich nicht scharf von einander zu trennen sind, ist nicht neu, wird mit Pixeltanzer aber spielerisch aktualisiert.

Primarliteratur:

Glanz, Berit: Pixeltanzer. Frankfurt am Main: Schoffling & Co, 2019.

Wilke, Insa. In Sekten arbeiten. Wie der subtile Zwang der kreativen Arbeitswelt sogar Widerstand zur Arbeit am System macht, erzahlt Berit Glanz in ihrem anspruchsvoll gebauten Roman "Pixeltanzer". https://www.sueddeutsche.de/kultu^erit-glanz-pixeltaenzer-buchkritik-rezension-1.4545864, 30.07.2019

Literatur:

Barner, Wilfried. „Vorwort". Geschichte der Literatur von 1945 bis zur Gegengwart. 2. erw. Auflage. Miinchen: Beck, 2006, S. XXV

Brake, Michael, Lars Hubrich und Sascha Lobo. „Riesenmaschine als Handapparat". Riesenmaschine. Das Beste aus dem brandneuen Universum. Hrsg. von Holm Friebe, Sascha Lobo, Kathrin Passig undAleks Scholz. Miinchen: Heyne, 2007. 12-15 http://riesenmaschine.de/riesenmaschinebuch.pdf

Glanz, Berit: „Sonnenaufgang im Uncanny Valley."Kursbuch 199: Unglaubliche Intelligenzen. Hrsg. von Armin Nassehi und Peter Felixberger Hamburg: Kursbuch-Kulturstiftung 2019. S. 47-61.

Glanz, Berit: „Digitales Publizieren - Praktische Projektarbeit zum Erwerb digitaler Schliisselkom petenzen."Teaching is Touching the Future. Academic Teaching within and across Discipli­nes. Tagungsband. Hrsg. Von Schelhowe Heidi, Melanie Schaumburg und Judith Jasper. Bielefeld: UVW UniversitatsVerlagWebler 2015. 321-323

Glaser, Peter. Autorenseite bei Technology Review. https://www.heise.de/tr/autor/Peter-Glaser-1023869.html zugegriffen am 27.02.2020 14:32

Glaser, Peter. Ein Essay von Peter Glaser zum 1. Internet-Literaturwettbewerb. Die Zeit Nr. 39/1996. https://www.zeit.de/1996/39/glaser.19960920.xml S. 3

Hertwig, Johannes: „Grinden wie die Delphine im Interwebs". Mindstate Malibu. Kritik istauchnur eine Form von Eskapismus. Hrsg. von Joshua GroE, Johannes Hertwig und Andy Kaiser in Zusammenarbeit mit dem Insitut fiir moderne Kunst Niirnberg. Niirnberg: Starfruit, 2018. S.16-39

Herder, Johann Gottfried. „99. Brief zur Beforderung der Humanitat" (1796). Herders Sammtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 18, Berlin 1883. 109f.

Schlegel, Friedrich. „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie" (1798). Athenaum Fragment 166. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitw. von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Paderborn: Schoningh, 1967. Bd. 2, S. 182-183

Schlegel, Friedrich. Athenaum (Berlin), 1. Bd., 2. Stuck, 1798. http://www.zeno.org/nid/20005618908

Schmitz-Emans, Monika. „Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik". Revue Internationale de philosophie. De Boeck Superieur, 2009. Nr. 248, S. 99-122

[...]


1 Glanz, Berit: Pixeltanzer. Frankfurt am Main: Schoffling & Co, 2019. S. 251 (ohne Seitenzahl, Hervor-hebung wie im Original)

2 Glanz, Berit: Pixeltanzer. Frankfurt am Main: Schoffling & Co, 2019.

3 zwei Figuren finden (nun auch analog) zusammen, aber dies ist nicht mehr Teil der Erzahlung

4 Wilke, Insa: In Sekten arbeiten. https://www.sueddeutsche.de/kultu^erit-glanz-pixeltaenzer-buchkri-tik-rezension-1.4545864 30.07.2019

5 Wilke, Insa: In Sekten arbeiten.

6 Wilke, Insa: In Sekten arbeiten.

7 ebd.

8 ebd.

9 ebd.

10 Glaser, Peter: ,,1957 als Bleistift in Graz geboren" https://www.heise.de/tr/autor/Peter-Glaser-1023869.html

11 zitiert nach Brake, Michael, Lars Hubrich und Sascha Lobo. „Riesenmaschine als Handapparat". Rie-senmaschine. Das Beste aus dem brandneuen Universum. Hrsg. von Holm Friebe, Sascha Lobo, Ka-thrin Passig und Aleks Scholz. Munchen: Heyne, 2007. S. 12 http://riesenmaschine.de/riesenmaschinebuch.pdf

12 Glaser, Peter: Ein Essay von Peter Glaser zum 1. Internet-Literaturwettbewerb. Die Zeit Nr. 39/1996. https://www.zeit.de/1996/39/glaser.19960920.xml S. 3

13 Bei einer Lesung des Romans 25.10.2019 machte Glanz einige Aspekte ihres Schreibens transparent und wies darauf hin, dass sich verschiedene Phasen ihres Schreibens, bzw. auch ihres Schreibalters im Roman nieder-geschlagen haben.

14 https://www.beritglanz.de/ „Uber mich"

15 Herder, Johann Gottfried: „99. Brief zur Befbrderung der Humanitat" (1796). Herders Sammtlic Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 18, Berlin 1883. 109f.

16 Schlegel, Friedrich: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie" (1798). Athenaum Fragment 166. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitw. von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Paderborn: Schbningh, 1967. Bd. 2, S. 182-183

17 PixeMnzer S. 215

18 PixeMnzer S. 217

19 Pixeltanzer S. 7-8: „Sobald ich den Zug heranrauschen hore, blase ich gegen die Scheibe und ver-schwinde in einer Rauchwolke. ... Ich liebe diesen Gedanken"

20 Lesung und Diskussion am 25.10.19 in Greifswald

21 Schlegel, Friedrich. Athenaum (Berlin), 1. Bd., 2. Stuck, 1798. AF 206

22 Pixeltanzer S. 110

23 Pixeltanzer S. 220

24 Pixeltanzer S. 215, 235, 245

25 Pixeltanzer S. 8

26 Schmitz-Emans, Monika. „Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik". Revue inter nationale dephilosophie. De Boeck Superieur, 2009. Nr. 248, S. 105

27 Pixeltanzer S. 8-11

28 vgl. https://de.wikipedia.org /wiki/Assemblersprache#Vergleich_zur_Programmierung_in_einer_Hochsprache CPS, hinter denen sich eigentlich jeweils eine fiir den Prozessor verstandliche Zahlenfol-ge verbirgt.29

29 „hallo" wiirde wohl mit ,,0100100001100001011011000110110001101111" iibersetzt

30 Pixeltanzer NOP (l)-(6) S. 7-47

31 Pixeltanzer MOV (l)-(6) S. 48-102

32 Pixeltanzer S. 68, 72, 74, 78.

33 Pixeltanzer WFE (l)-(4) S. 103-143

34 Pixeltanzer SEV (l)-(5) S. 144-170

35 Pixeltanzer S. 146

36 Pixeltanzer NEG (l)-(3) S. 171-234

37 Pixeltanzer S.234

38 Hertwig, Johannes: „Grinden wie die Delphine im Interwebs". Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Hrsg. von Joshua GroB, Johannes Hertwig und Andy Kaiser in Zusam menarbeit mit dem Insitut fur moderne Kunst Nurnberg. Nurnberg: Starfruit, 2018. S.18

39 Pixeltanzer CPS (l)-(2) S. 235-251

40 Barner, Wilfried. „Vorwort". Geschichte der Literatur von 1945 bis zur Gegengwart. 2. erw. Auflage. Munchen: Beck, 2006, S. XXV. Mit dem Konzept Einla&lichkeit wird hier die Veranderlichkeit bestehender Literatursysteme uber die Zeit beschrieben. Es ist ein Hinweis darauf, dass diesen Systemen inharente Normen sich Stuck fur Stuck verandern und zu einer geringeren konzeptuellen Abgeschlossenheit fiihren.

41 Glanz, Berit: „Sonnenaufgang im Uncanny Valley."Kursbuch 199: Unglaubliche Intelligenzen. Hrsg. von Armin Nassehi und Peter Felixberger Hamburg: Kursbuch-Kulturstiftung 2019. S. 47-61. Abschnitt „Die Handlungsorientierung von Intelligenz und Literatur"

42 ebd. Abschnitt „Deepfakes und Fiktionskompetenz"

43 Hertwig, Johannes: Grinden S. 18

44 Funny van Dannen: „Kunstler sind nicht uberflussig". Basics. Trikont, 1996. Titel 9

45 vgl. SchlegelAF166

46 Glanz, Berit: „Digitales Publizieren - Praktische Projektarbeit zum Erwerb digitaler Schlusselkom- petenzen."Teaching is Touching the Future. Academic Teaching within and across Disciplines. Ta gungsband. Hrsg. Von Schelhowe Heidi, Melanie Schaumburg und Judith Jasper. Bielefeld: UVW UniversitatsVerlagWebler, 2015 S. 321

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Details

Titel
Textgestaltungsverfahren im Roman "Pixeltänzer" als Schnittstelle zwischen Romantik und Gegenwart
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Institut für Deutsche Philologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
13
Katalognummer
V889420
ISBN (eBook)
9783346189240
ISBN (Buch)
9783346189257
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gegenwart, Pixeltänzer, Berit Glanz, Jetzt, Romantik, Medien, Start up, Frauen, Lavinia, Toboggan, Komet, Der Sturm, Fragment, Hochschullehre
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Peter Schulz (Autor:in), 2020, Textgestaltungsverfahren im Roman "Pixeltänzer" als Schnittstelle zwischen Romantik und Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/889420

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Titel: Textgestaltungsverfahren im Roman "Pixeltänzer" als Schnittstelle zwischen Romantik und Gegenwart



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