Unmarkierte Heiligkeit. Zur Diskrepanz familiärer, geschlechtlicher und räumlicher Hierarchien in Hrotsvit von Gandersheims "Abraham"


Bachelorarbeit, 2019

78 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe


Inhaltsangabe

1. Einleitung

2. Historische Kontextualisierung
2.1. Gandersheim
2.2. Leben, Wirken und Werke der Hrotsvit von Gandersheim

3. Primartextanalvse:Figurenkonstellation
3.1. Effrem
3.2. Abraham
3.2.1. Brautvermittlung: Abraham der Oheim
3.2.2. TatundTater
3.2.2.1. Traum und Vorahnung
3.2.3. Bekehrung im Bordell

4. Interpretation: Unmarkierte Heiligkeit
4.1. Heiligkeit
4.2. MarkiertheitundHierarchie
4.3. Unmarkierte Heiligkeit: Familie
4.4. Unmarkierte Heiligkeit: Geschlecht
4.5. Unmarkierte Heiligkeit: Raume

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang
7.1. TabelleUbersetzung
7.2. Grafik weibliche Archetypen

1. Einleitung

Keuschheit und Sexualitat, Religiositat und Missbrauch - das, was augenscheinlich wie ein Paradoxon daherkommt, ist in Wirklichkeit nicht nur ein allgegenwartiges Thema in christlichen Zirkeln, sondern scheint, unabhangig von jedweder zeitlichen Disposition, Bestandigkeit zu haben. So erzahlt beispielsweise eine kurzlich ausgestrahlte Dokumentation vom deutsch-franzosischen Fernsehsender arte mit dem Titel Gottes missbrauchte Dienerinnen1 in vier Kapiteln von aktuellen Fallen von Missbrauch und Prostitution in der katholischen Kirche.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Kanonissin und Schriftstellerin Hrotsvit von Gandersheim bereits im neunten Jahrhundert in ihrem Drama Abraham weibliche Korper im Spannungsfeld von Religion und Erwartung, Missbrauch und Prostitution2 beleuchtet hat, lasst den Schluss zu, dass die Problematik so alt ist wie das religiose Miteinander selbst. Ganz ahnlich wie in der Dokumentation, macht Hrotsvit in ihrem Werk auf literarische Weise deutlich, dass dem weiblichen Korper in kirchlichen Institutionen kaum Autonomie zukommt, dass Regeln eindeutig und Realitaten vieldeutig sind und dass ein Befreiungsmechanismus der Opfer nur durch groBe Vertrauensinvestitionen in Gott und den Glauben ihrerseits bewaltigt werden kann. Die Sanktionierung der Tater ist hier wie da sekundar und zwingt glaubige Betroffene nicht nur die Misshandlung des Korpers zu verkraften, sondern das Vertrauen zu Gott zu erneuern.

Jene Investitionen setzen geradezu Ubermenschliches voraus; Vertrauen trotz Betrug, Akzeptanz statt Rebellion. Hrotsvits weibliche Figuren scheinen alle mit dieser ubernaturlichen Kraft ausgestattet zu sein, war es doch das Ziel der Schriftstellerin die „preiswurdige Keuschheit heiliger Jungfrauen"3 zu betonen und sie den weltlichen Figuren des lateinischen Dichteres Terenz entgegenzusetzen, die nur in ihrer moralischen Aussagekraft uberlegen, nicht aber in ihrer Befriedigung asthetischer Bedurfnisse und ihrem Unterhaltungswert verschieden sein sollten.4

Viele weibliche Figuren in Hrotsvits Erzahlung erleiden Schreckliches, ahneln sich indes dadurch, dass sie das Weltliche uberwinden und den Status der Heiligkeit erlangen. In ihren sechs Dramen, die, wider ihre selbstproklamierten Intention, allesamt die mannlichen Antagonisten zum Titel tragen5, sticht insbesondere die Erzahlung des Abraham hervor, die von dem „Fall und der Bekehrung der Maria, der Nichte des Einsiedlers Abraham"6 handelt.

Maria, die als verwaiste Nichte von ihrem Onkel Abraham aufgenommen wird, wird in der Absicht des jungfraulichen, keuschen Lebens in eine Kammer geschlossen, in welcher sie zwanzig Jahre spater von einem verkleideten Buhler verfuhrt wird.7 Durch das Fenster ihrer Kammer ergreift sie die Flucht und lebt fortan als Prostituierte in einem Wirtshaus. Abraham, der von einem einnehmender Traum abgelenkt wurde, der ihm das Aufhalten seiner Nichte verwehrte, lasst sie von einem Freund suchen, der sie zwei Jahre nach ihrer Flucht findet. Als Ritter verkleidet begibt er sich in das Freudenhaus, dort gibt er sich als Freier aus und umwirbt seine Nichte. Seine wahre Identitat offenbart erst in der Privatheit eines Raumes, in den Maria ihn fuhrt. Entsetzt von Abrahams Anwesenheit und durch einen entscheidenden Bekehrungsmoment ausgelost, folgt Maria Abraham schlieBlich in die Kammer ihrer Kindheit, in der sie fortan BuBe tut.

Der kurze Abriss verdeutlicht drei Haupthemen, die auch in weiteren Texten Hrotsvits Eingang finden; „virginitas, lapsus et conversio".8 Jungfraulichkeit dient als Charaktermerkmal der Protagonistinnen, wohingegen Fall und Umkehrung zum narrativen Inventar der Dramen gehoren und geradezu routiniert inszeniert werden, sowohl auf inhaltlicher als auch auf rezeptionsasthetischer Ebene.

Das Drama Abraham ist auf diverse Weisen zu untersuchen, offeriert Hrotsvit thematisch nicht nur die drei genannten Grundpfeiler, sie macht auch einen Diskurs zu Heiligkeit moglich, die in Abhangigkeit von Hierarchien und vermeintlich etablierten gesellschaftlichen Strukturen analysiert werden kann. Die vorliegende Arbeit mochte genau diesen Ansatz verfolgen und nach einer kurzen historischen Kontextualisierung, im ersten analytischen Schritt die Figurenkonstellation im Allgemeinen und damit das Verhaltnis der weiblichen Protagonistin Maria zu ihren mannlichen Antagonisten untersuchen. Dabei werden neben den impliziten Heiligkeitskonzeptionen, vor allem die kommunikativen Modi sowie narratologischen Besonderheiten untersucht, die wiederum die Vermutung bestatigen, dass es sich bei Marias Vergewaltiger urn ihren Ziehvater Abraham handelt.

Die Primartextanalyse veranschaulicht hinsichtlich der Figur des Effrems, gultige soziale Strukturen und Heiligkeitskonzeptionen. An der Figur des Abraham hingegen werden schlieBlich thematische Komplexe wie Brautvermittlung, Missbrauch und Inzest, Traum und Wirklichkeit erarbeitet.

In einem zweiten interpretatorischen Schritt wird die zentrale Fragestellung exponiert. Hier widmet sich die Arbeit der Frage nach der Diskrepanz der gezeigten familiaren, geschlechtlichen, sowie raumtheoretischen Hierarchie, die durch einschlagige Literatur und Theorien belegt wird. Sowohl Analyse als auch Interpretation sollen die These veranschaulichen, die betont, dass entgegen gelaufiger Erwartungen, das Heilige immer dort aufzufinden ist, wo es nicht erwartet, ja geradezu gesellschaftlich ausgeschlossen wird. Das Heilige wird gerade dort etabliert, wo es abwegig oder geradezu nicht begreiflich erscheint; sowohl in sozial-familiarer, geschlechtlicher als auch raumlicher Hinsicht. Entgegen heteronormativer, raumtheoretischer und sozialer Erwartungen zeigt sich Heiligkeit in auffalliger Weise bei der jeweils augenscheinlich unmarkierten Binaropposition, die wiederum machtstrukturell und hierarchisch kodiert sind. In Hrotsvit von Gandersheims Drama Abraham werden diese unmarkierten, hierarchisch unterlegenen Binaroppositionen an der Figur der Maria deutlich, die, wie meine Arbeit untersuchen mochte, Heiligkeit reproduziert.

2. Historische Kontextualisierung

Als erste deutsche Dichterin und als erste Dramatikerin der gesamten christlichen Welt9, ist Hrotsvit Gandersheim nicht nur Teil des deutschsprachigen Literaturkanons des Mittelalters, sondern gilt dariiber hinaus, durch ihre intellektuellen und thematisch pragnanten Schwerpunkte als eine der ersten Humanistlnnen uberhaupt. Wie ihre Lebensumstande und das Leben in Gandersheim aussahen, soil das folgende Kapitel erlautern.

2.1.Gandersheim Die im heutigen

Niedersachsen liegende Stadt Bad Gandersheim war zu Zeiten Hrotsvits ein kulturell pulsierender Ort und die politische Hochburg des sachsischen Adelsgeschlechts der Liudolfinger, die sich um das Jahr 800 in Gandersheim etablierten. Im Jahre 852 griindeten Herzog Liudolf von Sachsen und seine Frau Oda den Kanonissenstift, deren erste Abtissin Hathumod, die Tochter der Grunder war und die im Jahre 930 die Kanonissin Hrotsvit von Gandersheim aufnahm. Das Gandersheimer Stift wurde vom Karolingerkonig Ludwig dem Jungeren unter den Schutz des Reiches gestellt und bekam dadurch zahlreiche Privilegien zugesichert.10

Im Jahre 919 etablierte sich Gandersheim schlieBlich zum Mittelpunkt kulturellen und politischen Geschehens, das sich durch die Ernennung Konig Heinrichs I. zu einem „pfalzahnlichen Hausstift der ottonischen Konige und Kaiser"11 entwickelte. In jener politisch, sowie gesellschaftlich dynamischen Zeit, lebte Hrotsvit von etwa 930 bis 980 im Gandersheimer Stift. Sowohl die Griindung des Benediktinerinnenklosters St. Marien bei Gandersheim als auch die Kronung Heinrichs zu Otto der GroBe, fielen in ihre Lebzeiten. Die Nahe zum Benediktinerinnenstift ermoglichte einen regen Austausch literarischer Werke, die Hrotsvit Zugang zu Bildung und Wissenschaft eroffneten. Die Nahe zum Konig bot ihr Einblick in politische und weltliche Machtstrukturen. Nicht zu missachten ist die Tatsache, dass in jener Zeit „Frauenkloster nicht nur als Uberlieferungs-, sondern zugleich als Herrschaftszentren"12 verstanden wurden, deren Aufgabe darin bestand „das Gebet fur die Stifter und Klosterherren und das Gedenken ihrer Verstorbenen, der Verwandten und der Freunde"13 zu leiten. Wie auch im Kloster in Gandersheim, ubernahm die Leitung des Klosters ein weibliches Mitglied der Stifterfamilie. Nicht nur der Grabstatten der Monarchen14 wurde dort Schutz gewahrt: Die Frauen in Klostern, wurden „zu Hutern des Wissens urn die Geschichte der Geschlechter".15 Die „hinsichtlich der Disziplin und Strenge der Lebensfuhrung"16 vorbildlichen „ottonischen Frauen"17 des Gandersheimer Stifts, hatten das Ziel „monastische Gewohnheiten"18 zu uberwachen. Demzufolge war der Eintritt in das Kloster und das Stift nicht jeder Person vorbehalten; „Rang und Stellung der Abtissinnen aus Quedlinburg und Gandersheim orientierten sich also deutlich an deren Herkunft aus der der stirps regia [.. .]"19. Fur das zweite Familienkloster Ottos des GroBen in Quedlingburg gibt es Belege, dass die Konigin Mathilde „keine Personen niederen Standes in das Konvent [...], sondern nur solche von hochstem Adel"20 aufnahm. Die Annahme, dass Hrotsvit aus jenen adeligen Kreisen stammt, liegt daher nahe, muss bedauerlicherweise nur Vermutung bleiben, da iiber ihre Herkunft keine Belege zu Verfugung stehen.

2.2. Leben, Wirken und Werke der Hrotsvit von

Gandersheim Bereits im 9. Jahrhundert entstanden Hrostvits literarische Werke, die sich inhaltlich, insbesondere aber durch die Ausnahmeerescheinung ihrer Autorin, zu einem Phanomen fruhmittelalterlicher Literatur profilierten.

Hrotsvits Einzigartigkeit lasst sich allein daran feststellen, dass sie zu den einzigen neun schreibenden Frauen in „eine[m] Zeitraum von 900 Jahren (3.-11. Jahrhundert)"21 gehort. Auch wenn ihre Texte uberliefert sind, so machen es die geschichtlichen Umstande fast unmoglich ihre Lebensdaten, ihren urspriinglichen Namen und ihre familiare Herkunft zu erforschen. Dennoch finden sich Hinweise auf ihr Wirken sowohl in den Vorreden ihrer Schriften als auch durch „[p]ers6nliche Bemerkungen und geschichtliche Anspielungen in ihren Werken".22 In der Vorrede der Legenden erwahnt sie „dass ihre friihere Lehrerin und jetzige Abtissin Gerberg II. um einiges junger"23 sei als sie. AuBerdem bemerkt sie in ihrem Gedicht iiber die Griindung Gandersheims, dass Herzog Otto bereits lange vor ihrer Geburt verstorben sei.24 Diesen Anhaltspunkten zufolge, muss Hrotsvits Geburt zwischen den 930er und 940er Jahren gelegen haben.

Es ist anzunehmen, dass „das alte Stammesherzogtum Sachsen ihre Heimat war".25 Zudem ist es wahrscheinlich, dass Hrotsvit aus einem sachsischen Adelsgeschlecht stammte, war das Gandersheimer Stift ein „exklusiv aristokratische[] [...], einem dem sachsischen Kaiserhaus eng verbundene"26 Institution. Viel diskutiert ist das tatsachliche Eintrittsalter von Hrotsvit. Es wurde oft vermutet, dass sie als altere, durchaus sexuell erfahrene, Frau in das Kloster eintrat und ihre Schriften, unter anderem, Memoiren ihres bewegten Lebens seien.27 Dagegen spricht jedoch ihre exzellente Bildung, die auf eine „friihes Lernalter"28 hinweisen und ihre eigene Auskunft, dass sie „schon friih zu dichten begann".29 Der Zugang zu literarischen Werken und das Leben in dem Ort Gandersheim, muss Hrotsvit Zugang zum Zeitgeist gegeben haben, der sie am der „sich entfaltenden Politik der Ottonen"30 hat teilhaben liefi.

Das hohe Ansehen der Autorin zu Lebzeiten wird kaum bezweifelt werden konnen, wurde sie doch wahrscheinlich von dem machtigen Otto I. selbst mit der Gestaltung einer kaiserlichen Biografie beauftragt- eine Ehre, die Frauen nicht nur im friihen 10. Jahrhundert, sondern auch zu erheblich spateren Zeiten kaum zuteil wurde.31

Zu Hrotsvits (Euvre zahlen, neben der kaiserlichen Biografie, die auch als gesta otonis bekannt ist, ein Legendenbuch, carmina, das insgesamt acht Verslegenden umfasst und in leoninischen Hexameter beziehungsweise elegischen Distichen32 verfasst wurden, sowie die darauffolgenden sechs Dramen, zu denen auch Abraham zahlt.

Hrotsvit setzte sich mit namhaften lateinischen Dichtern der Augusteischen Zeit wie Horaz, Ovid und Vergil auseinander, vor allem aber der in der romischen Antike wirkende Terenz nahm besonderen Einfluss auf Hrostvits literarisches Schaffen.33 Terenz' Komodie entstanden bereits zwischen 166 und 160 v. Chr.34 und waren meist „Adaptionen der griechischen Stucke des Menander fur ein stadtromisches Publikum".35 Hrotsvits adaptierte Terenz Werke, die sich wie eingangs bereits geschildert, nur inhaltlich, nicht jedoch stilistisch von der Vorlage unterscheiden sollten.36

Erwahnenswert ist auch, dass Hrotsvit zeitlebens Kanonissin und letztlich keine Nonne war, demnach legte sie zwar kein Gelubde ab, unterwarf sich jedoch einem klosterlichen und demutigen Leben: „Es ist eine kultivierte Form der Frommigkeit, bestimmt von der unangestrengt anmutenden Askese jungfraulichen Lebens und von einer fast grenzenlosen Wertschatzung wissenschaftlicher Bildung, die auch die literarische Tatigkeit Hrotsvits gepragt hat."37

Einblick iiber die innere Konstitution der Hrotsvit von Gandersheim geben ihre Vorworte und Briefe. Darin erfahren wir nicht nur iiber ihren Zugang zur Literatur, sondern auch urn den Austausch mit geistigen Vorbildern und dem Wunsch nach Kritik. Mit Unterlegenheitstopoi38, die gangig fur die Praefationes fruhmittelalterlicher Schriftstellerlnnen des friihen Mittelalters waren, positioniert sich Hrotsvit nicht nur als unterlegenes Geschlecht, sondern sieht sich vor allem einem „Mangel an Unterweisung und Forderung"39 ausgesetzt: „Fur den Schreibprozess entscheidend war fur Hrotsvit nicht nur das Wissen urn gottliche Talentzugabe, sondern vor allem das Auseinandersetzen mit Gelehrten und Lehrern, so beanstandet sie den mangelnden Input und mangelnde Korrektur an ihren Texten."40 Doch neben dem Wunsch nach mehr Kritik zeichnet sie in ihren Vorwortaussagen immer wieder ein „seltsam spannungsreiches Nebeneinander einer eigenen positiven Identitat als Schriftstellerin und einer misogynen Sicht der Kategorie Frau".41 Bei Briefwechseln mit mannlichen Schriftstellern zeigt sich indes eine „Ebenburtigkeit unter Gebildeten gleich welchen Geschlechts".42 Trotz der dezidierten Unterscheidung der Geschlechter, die hier gezeichnet wurde, scheint die schreibende Frau im Fruhmittelalter, konkreter Hrotsvit von Gandersheim, nicht als akut grenzuberschreitend wahrgenommen worden zu sein43 und das trotz ihrer, zumindest aus der heutigen Perspektive erkenntlichen, schriftstellerischen Ausnahmeposition.

Hrotsvits Wunsch nach Austausch und Belehrung, sowie die Implementierung „philosophische[r], musiktheoretische[r] und sogar mathematische[r] Elemente"44 deuten auf eine bildungsaffine Person hin, die das gelernte Wissen kunstvoll literarisch umzusetzen vermochte. „In der Anreicherung ihrer Dichtungen mit Elementen der Philosophie und Theologie hat sie eine asthetische Erhohung gesehen und die Literatur wesentlich als eine dazu: Gabe, Schwaches Weib und starker Schrei, (Anm. 21), S.450. „Alle diese [Vorwort] [a]ussagen scheinen in der Tat darauf hinzuweisen, dafi schreibende Frauen im Fruhmittelalter durch ein eigenes Gefflhl der Minderwertigkeit Mannern gegeniiber bei der Entfaltung ihrer literarischen Produktion eingeschrankt gewesen sind. Zudem entsprechen solche Nichtigkeits- und Unfahigkeitsbeteuerungen [...] den Nichtigkeits- und Unfahigkeitsbehauptungen mannlicher Theologen, die in ihrem Diskurs iiber Frauen diese sehr wohl und zwar von Anfang an als Gruppe definiert haben, und hierin wahre Orgien der Misogynie feiern."

Gelehrtenangelegenheit aufgefaBt. Es war ihr hochster Ehrgeiz, als Dichterin die Zustimmung der Gelehrten zu finden und sich als ,magistra artium liberalium' zu erweisen."45

Formal zeichnet sich Hrotsvits literarisches Wirken durch den kunstvollen Umgang mit der lateinischen Sprache und der Darstellungsform ihrer Texte in Dramenform aus. Sie nutzt „die strengen antik traditionellen Ausdrucksformen der metrischen Dichtung bzw. der Prosa"46 und schmuckt diese „durch das harmonisierende Prinzip des Reims"47 aus. So profiliert sie sich, neben ihrer Tatigkeit als Dramatikerin, auch als Dichterin.48 Hrotsvits Dramen, praziser Lesedramen49, sind deswegen so auBerordentlich, weil sie trotz der Abwesenheit von Theatern, Dramen schuf und das „obwohl sie dafur keine erprobten Vorbilder hatte".50 Es ist hochst unwahrscheinlich, dass eines der Dramen zur Auffuhrung bestimmt war: „Es fehlt jeder historische Anhalt, und H[rotsvit] selbst auBerte kein einziges Wort, das solche Absichten erkennen laBt".51 Dennoch ist die Wahl „religiose Novellenstoffe zu auffuhrbaren Theaterstucken"52 zu formen bemerkenswert. „In jungster Zeit ist auf uberzeugende Weise gezeigt worden, daB schon in den Vorlagen der Dramen die Suggestion des Dramatischen enthalten ist, daB Hrotsvit also auch durch ein <Leseerlebnis> auf den Weg ihrer neuartigen Dichtung gebracht worden sein konnte".53 So ist ihre bewusste inhaltliche Stoffwahl mit der Komponente der dramatischen Form ebenso spannungsreich, wie die Tatsache, dass sie als erste deutsche, wenn auch nicht deutschsprachig schreibende Autorin in die Geschichtsbucher eingeht. Dass sie Platz in jenen Geschichtsbuchern gefunden hat, ist jedoch Conrad Celtis zu verdanken; der Erzhumanist54 hatte sich 149355 „auf die Suche gemacht urn der italienischen Kulturtradition eine noch altere deutsche entgegenzusetzen"56 und stieB dabei auf Hrotsvits „Emmeran-Munchener Handschrift"57, die er veroffentlichte und die damit Einzug in den Kanon „deutsche[r] Autoren des Mittelaltes"58 erhielt.

3. Primartextanalvse:Figurenkonstellation

Weil es sich bei Abraham urn ein Drama und nicht urn ein prosaisches Werk handelt, wird den Figurenkonstellationen und den Sprechakten der Figuren eine immense Bedeutung beigemessen, denn „[d]ie Binnenkommunikation der Figuren im Abraham ist fingierte Mundlichkeit und im Sinne der aristotelischen Mimesis lebensweltlicher Kommunikation nachgebildet".59 AuBerdem ist es der Gattung des Dramas geschuldet, dass dem Lesenden Vorwissen iiber soziale und theologische und Skripte60 vorausgesetzt werden. Fur die folgende Analyse bedeutet das jedoch auch, dass dementsprechend fruhmittelalterliche Lebenswirklichkeiten in Bezug zu Hierarchie und Heiligkeit retrospektiv vermutet werden konnen. Die Figurenkonstellation, sowie charakterliche und geschichtliche Zusammenhange, konnen ausschlieBlich durch den Haupttext, also der Figurenrede und dem sparlichen Nebentext entnommen werden. Sie dienen als Grundlage der Analyse.

Die Uberreprasentation mannlicher Figuren in Hrotsvits Drama Abraham ist auffallend. Insgesamt fiinf mannliche Figuren stehen der einzigen weiblichen Figur, Maria, gegenuber. Dabei wird nicht nur der geschlechtliche Unterschied deutlich, sondern gerade die hierarchische Diskrepanz, die die Figuren (re-)produzieren; da ist zunachst Effrem, der Freund des Abraham der mit ihm gemeinsam Maria uberzeugen mochte, dass ein Leben als Gemahlin Gottes in der Einsamkeit ihrem Namen gerecht wurde. Da ist der ominose Eindringling und Buhler, der angeblich verkleidet in Marias Kammer eindringt und ihre Flucht provoziert, der Wirt der sie als Prostituierte bei sich im Wirtshaus arbeiten lasst und schlieBlich Abraham, der Onkel Marias, der sich der Verantwortung stellt seine Nichte zu erziehen, sie bei sich leben lasst und nach ihrem Ausbruch aus der Kammer schlieBlich retten mochte.

Die Relation der Geschlechter zueinander versteht sich in hierarchischer Opposition, in der sich die mannlichen, alteren Figuren, der jungen und kindlich inszeniert, weiblichen Figur uberlegen positionieren. Die Sichtbarmachung der sozialen Kriterien sowie der topologischen Verortungen der Figuren werden im Folgenden auf ihr hierarchisches Potenzial untersucht.

3.1. Effrem

Effrem, der Freund Abrahams ist einer der entscheidenden Figuren der Komodie und das nicht nur, weil er das Schicksal Marias maBgeblich beeinflusst, sondern, weil er geradezu als Gegenspieler rhetorischer Fertigkeit und Persuasion des eher emotional handelnden Abraham verstanden werden kann.

Er dient Abraham nicht zuletzt auch immer als Gesprachspartner in komplizierten Situationen und fungiert dadurch als moralischer Kompass. Sein Gottesglaube und seine Unterwerfung werden durch die Aussage „[a]uch unter uns muB Gottes Lob/ Fur jedes Zwiegesprach allem/ Der Gegenstand der Rede sein"61 deutlich. Auch entpuppt er sich rasch als eifriger Fragesteller, der sich nach dem Alter, dem aktuellen Wohnort und schlieBlich dem Namen der Nichte Abrahams erkundigt. Diese Exposition stellt ganz dem aristotelischen Drama62 entsprechend, eine Offenlegung des Konflikts dar und stellt die Protagonistin Maria und entscheidende Charakteristika der weiblichen Hauptfigur vor. Das hier fiber sie gesprochen wird und nicht mit ihr, ist der dramatischen Form geschuldet und zudem auch bezeichnend fur die bestehenden hierarchischen Strukturen, die reproduziert werden; das Schicksal der weiblichen Figur untersteht den Forderungen der geistlichen, mannlichen Erwachsenen.

Effrem ist uberzeugt von Abrahams Vorhaben Maria in der Kammer als Braut Christi zu erziehen und das nicht zuletzt auch wegen Abrahams Argumenten: Dass es sich bei der Betroffenen urn eine Person mit dem Namen Maria handelt, ist auch fur ihn das maBgebliche Zeichen, sie ihrem Namen entsprechend zu erziehen; „Name hoch ihn preist! Der Jungfrau Ehrenkranz gebuhrt/ Der, welche solchen Name fuhrt.".63 Effrems Uberzeugungskraft wird schlieBlich in der zweiten Szene eingesetzt, urn die junge Maria zu einem gottesfurchtigen, keuschen Leben zu ermuntern. So tut er es Abraham gleich und nennt sie bei der ersten Begegnung direkt „[m]ein Tochterlein"64. Die hierarchische Unterscheidung wird hier horizontal zwischen verantwortlicher Erzieherfigur und Kind gezogen und nimmt traditionell familiare Ziige an.65 Das Possessivpronomen „mein" deutet eine erste Instanz hinsichtlich der Verfugungsgewalt der mannlichen Figuren an. AuBerdem wird der direkten Etablierung der familiaren Hierarchie durch die Bezeichnung „T6chterlein", durch die gegenseitige Bezeichnung Abraham und Effrems, die sich als Eremiten, mit „Bruder"66 rufen, erganzt. Effrem und Abraham profilieren sich als eine Einheit, auf einer Stufe stehend, die der kindlichen Maria hierarchisch uberlegen ist. Ein Hauptargument der zwei Manner ist es, dass Maria ihrem Namen gerecht werden muss. Ganz im Sinne des lateinischen Sprichwortes „Nomen est Omen"67 wird hier eine dem Namen gerechte Lebensweise propagiert. Der Name wird als gottlicher Hinweise verstanden, der das Schicksal Marias pradestiniert. Dem Ziel der Persuasion folgend spricht Effrem davon, dass es „ungeziemend"68 sei, uberschritte Maria nicht die Grenze zum Himmlischen und verweile „Herunter auf dem Grund der Erde".69 Neben der familiaren hierarchischen Diskrepanz, wird eine weitere Grenze gezogen - eine horizontal, topologische Trennungslinie, die das Himmlische und das Irdische voneinander trennt. Die Himmel-Erde-Diskrepanz konzipiert hier jedoch einen zur Transzendenz einladenden Zwischenbereich, der es dem Menschen, in diesem Fall Maria, moglich macht, sich der Namensschwester, der Gottesmutter bei zugesellen.70 Dem Konzept einer unerreichbaren, dem Menschen unzuganglichen Heiligkeit wird hier keinerlei Beachtung geschenkt. Viel mehr ist zu erkennen, dass Effrem, die Moglichkeit betont, dass Maria als „Sternlein, welche ewig blinken"71 einen unsterblichen Platz in der Gesellschaft der Heiligen einnehmen kann. Auch wird hier die Markiertheit von topologischen Bereichen deutlich, die das Heilige in einem mentalen ,Oben' verortet. Heiligkeit wird zwar topologisch erhoht, jedoch nicht an konkrete Orte gebunden oder topologisch abgegrenzt, da Transzendenzen und Uberschreitungen denk-und realisierbar sind, wie hier theoretisch konzipiert und im Laufe des Dramas durch Marias Bekehrung im Bordell verdeutlich wird.

Effrems Vorschlag, ahnelt einer Heilsversprechung und betont die menschliche Moglichkeit, das Irdische zu uberwinden und den Status einer Heiligen einzunehmen: „Bewahre nur der Jungfraun Ehre, Dann wirst du Gottes Engeln gleichen/ Und eingereiht in ihren Reigen; / Des Erdenleibes Last wird fallen,/Und du wirst durch den Himmel wallen,/ dich hoch empor im Ather schwingen,/ Durch alle Sternenbilder dringen".72

Hier sei nur kurz auf Effrem prophetischen Duktus hingewiesen73, der sich in der Komodie an die „typologische Struktur"74 der „(Heils-) Geschichte [...] von prophetischer VerheiBung und faktischer Erfullung"75 halt. Effrems Vorausdeutungen werden, iiber Umwege, von der Hauptfigur Maria erfullt, sodass er als literarisch konzipierter Prophet eine besondere, das heifit himmlische oder jedenfalls nicht generell zugangliche, sondern der Einsicht in Verborgenes geschuldete Botschaft von einem Inspirator und Auftraggeber erhalt, um sie an eine Rezipientengruppe weiter zu vermitteln, [dadurch, Anm. H.G.] wird zugleich seine starke Bindung an den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, an eine bestimmte Situativitat seiner Autorenschaft deutlich. Er erfullt im Auftrag eine Rolle im sozialen Raum, der religios, aber auch politisch besetzt sein kann.76

Diese Beobachtung trifft auf Effrem zu, sein Auftraggeber ist zunachst Abraham, der wiederum sein Vorhaben auf Gottes Willen begriindet. Effrems Rezipientin ist Maria und seine Persuasion ist eindeutig an eine konkrete Situativitat, der Persuasion des keuschen Lebens, geknupft.

Hinzukommt, dass er durch seine theologisch-faktische Argumentation und rituellen Sprechakte, nicht nur den sozialen Raum mitgestaltet, sondern auch christliche Erwartungen und damit sozial-theologische Skripte spiegelt.

Dem verbal konstruierten Bild der Gottesmutter Maria wird in dem Uberzeugungsgesprach eine ubergeordnete Funktion zugeschrieben und ihre Kraft als global und allumfassend dargestellt: Diese verheiBungsvollen Botschaften suggerieren der kindlichen Maria nicht nur Immortalitat, sondern zudem einen Platz in der Machtzentrale der Welt, die ein jedem Orientierung und Geleit verspricht. Marias Antwort auf jene Heils-und Uberhohungstopoi widersetzen sich diametral dieser Erhohung: „Wie stieg ich je so hoch hinan/ Zu des Mysteriums Strahlenkranz/ In eigener Verdienste Glanz?/ Ich die so gering und klein Und Lehm der Erde mein Gebein?"77 Nicht nur verwundert sie der konzipierte Bezug zur Gottesmutter, welcher von ihrem Name ausgeht, sondern gerade ihre Selbstverortung auf das Irdische, dass durch das Wortpaar Lehm und Erde zum Ausdruck kommt, widersetzt sie sich den himmlischen Uberhohungen Effrems grundsatzlich. Die Erdverbundenheit des menschlichen Korpers wird im Alten Testament der Bibel konzipiert: „bis du zuriickkehrst zum Ackerboden;/ von ihm bist du ja genommen"78 und entspricht der christlichen Vorstellung des Lebenskreislaufes, die eine direkte topographische Ortszuweisung beinhaltet.

Effrems Heilsversprechungen knupfen sich an Bedingungen, die es moglich machen sollen, dass menschlich pradestinierte Irdische zu uberwinden, urn Zugang zum Himmlischen und Heiligen zu bekommen. Eine Bedingung, die etabliert wird, ist die korperliche Unversehrtheit und die Abwesenheit von sexueller Lust: „Wenn solches nie die Lust entweiht, Und rein des Herzens Heiligkeit".79 Heiligkeit als solches kann, so wird es hier zumindest durch Effrem dargestellt, nur durch die dualen, sich erganzenden Komponenten Korper und Geist erlangt werden. Personifikation und Vorbild dieser heiligen Dualitat ist die Gottesmutter, die heilige Jungfrau Maria, die ohne die Aufgabe der jungfraulichen Reinheit den Stand des Mutterseins erlangt und dabei gleich zwei mogliche Positionen von weiblicher Heiligkeit erfullt.80 Dass diese Annahme uberwunden werden kann, zeigt der weitere Verlauf der Narration: Im Gegensatz zu Effrems und Abrahams Annahme, dass „nur der Jungfraun Ehre"81 bewahrt werden muss, urn „hoch empor im Ather"82 zu schwingen, beweist Maria, dass Heiligkeit auch in der Konvergenz von Jungfrau und Sunderin gefunden werden kann und nicht nur in der Kongruenz von Mutter und Jungfrau.83 Die Jungfrauenehre ist bei Effrems Argumentation Hauptaugenmerk; sie wird als Garant konzipiert, der Nahe zum „Sohn der Jungfrau"84 ermoglicht.

Wie bereits verdeutlicht, wird die verbale Konstruktion des Heiligen vorwiegend von Effrem ubernommen. Er ist es, der die Relationskategorien Erde und Himmel, unheilig und heilig einfuhrt und die Differenzierung dessen fur Maria und auch fur Abraham ersichtlich macht. Dennoch wird hier das Heilige nicht als unerreichbar dargestellt, viel mehr wird Heiligkeit zuganglich gemacht, indem konkrete Vorschriften, Erwartungen und Bedingungen prasentiert werden. In Effrems und Abrahams didaktischem Vorgehen heifit das vor allem Restriktion des Korperlichen, genauer die Restriktion des weiblichen Korpers. Diese Restriktion wird durch mehrere Sprechakte verstarkt. Auf Abrahams Forderung nach einem keuschen Leben fur Marias stimmt sein Freund Effrem ein: „Gehen wir hinein und floBen ihr und ihrem Geiste die Begier des ehelosen Friedens ein".85 Diese Aussage propagiert geradezu ein Paradoxon, steht doch die Begier dem ehelosen Frieden diametral gegenuber. Vermischt wird hier die sexuelle konnotierte und unbeherrschte Begierde, mit welcher die Ehelosigkeit antizipiert werden soil. In dieser Lesart wird Jungfraulichkeit als eindeutiger Garant fur Frieden dargestellt, wohingegen sogar die Korperlichkeit, die in dem Verbund der Ehe stattfmdet, als friedlos, vielleicht sogar als reale Gewalt eingestuft wird.

Maria beschreibt durch zwei ihrer Aussagen ihre ambige Haltung zu den Vorschlagen der zwei erwachsenen Manner, die zwischen Hoffnung und Ablehnung oszilliert. Jene hoffnungsvolle Skepsis wird hier zum einen durch den Gebrauch des Konjunktivs „[w]ie ruhmgekront das Schicksal ware!86 " deutlich, zum anderen wird durch die Aussage „Verleugnet werde Herz und Sinn" 87 ersichtlich, dass Herz und Verstand ubergangen, vergessen, j a sogar verleugnet werden miissen, urn dem Vorschlag der Eremiten zu folgen. Ihre Skepsis intensiviert sich zudem mit der Verleugnung der Gegenwart, die ihre akuten Gefuhle, dem ubergeordneten Ziel, der Erlangung der Heiligkeit unterordnet. AuBerdem wird durch die Aussage: „Das Gegenwartige fahre hin"88 die Kategorie Zeit eingefuhrt, die das Heilige maBgeblich beeinflusst, da sie wie bereits gezeigt, die Unsterblichkeit offeriert und damit dem endlichen Leben entgegengesetzt wird.89

Beobachtet werden konnte bisher, dass das Heilige nicht nur im topologischen ,Oben' verortet wird, sondern zeitlich auch als unbegrenzt und unsterblich markiert wird. Zudem muss das Heilige gleich mehrere menschliche Kategorien uberwinden, urn als solches erkenntlich zu werden: Korperliche, sexuelle Lust, das Irdische, als topologische, raumliche Verortung, als auch das Zeitliche. Die Kategorien Korper, Raum und Zeit sind demnach bereits in der zweiten Szene eingefuhrt und fungieren hier einerseits als „weltkonstituierenden Elemente"90, aber auch als heiligkeitskonstituierende Elemente, die das Weltkonstituierende als unmarkiert kennzeichnen, das Heiligkeitskonstituierende hingegen als markiert. Die etablierten Kategorien, die wiederum die Oppositionspaare bilden, sind maBgeblich urn aus „dem partikularen Geschehen eine koharente Geschichte"91 zu formen. Sie sind im Abraham neben den Koharenzstiftung auch fur die Etablierung der Aussageabsicht und der religios-didaktischen Intention wesentlich.

Mit diesem Diskurs, der die ersten Szenen dominiert, wird die Position der christlichen Religion reproduziert, die die eingefuhrten Kategorien in ihrem Sinne markiert. Dass sich jene markierten beziehungsweise unmarkierten Komponenten nicht wechselseitig aufheben, wird an Marias Schicksal und dem Verlauf der Narration deutlich.

3.2. Abraham Die Figur des Abraham ist nicht nur mit dem gro

Bten Sprechanteil ausgestattet, sondern auch jene, dem die komplexeste Charakterisierung zu Teil wird. Als Onkel und Ziehvater Marias ist Abrahams Figur insbesondere hinsichtlich der sozial-familiaren Hierarchie und Erwartungshaltung entscheidend.

3.2.1. Brautvermittlung - Abraham der Oheim

Die Figur des Oheims oszilliert in der literarisch-dramatischen Tradition auf unterschiedliche Art und Weise92, in der Komodie Abraham ubernimmt Marias Onkel die Fursorge und die Zukunftsgestaltung fur seine Nichte. Er empfmdet Empathie und gleichzeitig auch Sorge, wie ihr Lebensweg verlaufen soil: „Weshalb viel Mitleid mir zerreiBt/ Die Seele, und seit langen Stunden/ Hab ich fur sie viel Sorg empfunden".93 Zu seiner ersten Beschreibung Marias, beschreibt er ihre korperliche Disposition: „Sie jung und zart und schon verwaist."94

[...]


1 Quintin, Eric, Raimbault, Marie-Pierre (Regisseure), (2017). Gottes missbrauchte Dienerinnen [Dokumentarfilm].Frankreich:Arte.

2 Zur Form der vorliegenden Arbeit: Auf der Verfassung der Humboldt Universitat zu Berlin basierend, werden Bezeichnung, die beide Geschlechter betreffen mit dem Binnen-I gekennzeichnet (Siehe Literaturverzeichnis Stichwort: Verfassung Humboldt Universitat). Direkte Zitate sind von diesem Vorhaben ausgeschlossen. Die Annahme einer Binariat der Geschlechter ist, durch etliche wissenschaftliche Auseinandersetzungen bestatigt, nicht vertretbar, dennoch wurde die vorliegende Arbeit hinsichtlich eines zwei Geschlechter Modells verfasst, die die lebensweltliche Realitat von Trans- und Nichtbinaren- Personen nicht angreifen soil. Die hier skizzierte Binaritat fuftt auf der Annahme mittelalterlicher Unterscheidungen von Geschlecht. Ebenso werden die Begriffe Prostituierte und Prostitution in dieser Arbeit genutzt, die die mittelalterliche Tatigkeit im Spannungsfeld von Gewalt und Zwang eher verdeutlicht, als die heute benutzte, politisch korrektere Bezeichnung der Sexarbeit. Formal werden bei Zitaten, die von Webseiten zitiert werden, nur eine verkiirzte URL Adresse angegeben. Die vollstandigen Adressen, sowie Abrufdaten sind mit eindeutigen Schlagworten versehen und im Literaturverzeichnis kenntlich gemacht. Zeilenumbriiche, die sich ausschlieMich auf den Primartext dem Drama Abraham verstehen, werden mit „/" gekennzeichnet. Grammatikalische Anderungen direkter Zitate werden mit eckigen Klammern markiert.

3 Nagel, Bert, Einfuhrung. In: Hrostvit von Gandersheim, Samtliche Dichtungen. Vollstandige Ausgabe. Hrsg. Von Bert Nagel, Miinchen 1966. S. 17.

4 Ebd.

5 Ebd., S. 15. Weitere Dramen der Hrostvit heilten; Gallikan, Dulcitius, Callimachus, Abraham, Paphnutius und Sapientia.

6 Ebd. S. 31. Vgl. auch: Von Gandersheim, Hrostvit, Opera. Hrsg. Von Conrad Celtis. Niirnberg 1501. Nachdruck der Ausgabe. Hildesheim 2000. „Lapsus & conversio Mariae neptis Abrahae [...]"

7 Von Gandersheim, Hrotsvit, Abraham, in dies.: Samtliche Dichtungen. Vollstandige Ausgabe. Hrsg. Von Bert Nagel, Miinchen 1966. S. 21 Iff.

8 Nagel, Einfuhrung, (Anm.3), S. 24.

9 Nagel, Einfuhrung, (Anm.3), S. 34.

10 Vgl. dazu: www.bad-gandeisheim.de (Literaturverzeichnis Stichwort: Bad Gandersheim Zeittafel)

11 Ebd.

12 Althoff, Gerd, Gandersheim und Quedlinburg. Ottonische Frauenkloster als Herr Schafts- und Uberlieferungszentren in: Friihmittelalterliche Studien, Hrsg. Von Wolfram Drews und Bruno Quast et. Al. Minister 1991. S. 123.

13 Ebd.

14 Ebd, S. 124. 15 Ebd., S. 125. 16Ebd, S. 130.

15 Ebd, S. 124. 15 Ebd., S. 125. 16Ebd, S. 130.

16 Ebd.

17 Ebd.

18 Ebd.

19 Ebd, S. 134.

20 "Sbe Salme, Schwackes Welb und starker Schre,

21 In: ArcMv fur KulturgescMchte 85 (2003), H. 2, S. 44.

22 Nagel, Einfiihrung, (Anm. 3), S. 6.

23 Ebd.

24 Ebd.

25 Ebd.

26 Ebd.

27 Ebd., S. 8.

28 Ebd.

29 Ebd.

30 Ebd.

31 Parra Membrives, Eva, Frauen und Macht im Mittelalter. Wenn weibliche Schwachheit siegt und mannliche Kraft hilflos unterliegt. In: Gender und Macht in der deutschsprachigen Literate. Frankfurt am Main 2007, S. 132.

32 Radle, Fidel, Hrotsvith von Gandersheim. In: Deutsche Literatur. Aus der Miindlichkeit in die Schriftlichkeit. Hrsg. Von Horst Albert Glaser. Reinbek 1988, S. 84.

33 Nagel, Einfuhrung (Anm.3), S. 10.

34 Bastert, Bernd, Wissenschaft und Fastnachtspiel. Die Komodien des Terenz zwischen Mittelalter und Fruher Neuzeit. In: Amsterdamer Beitrage zur Alteren Germanistik 75 (2015), H.2., S. 172.

35 Ebd.

36 Vgl. dazu: Nagel, Bert, Hrotsvitvon Gandersheim. In: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 676-678. [Online-Version] ; www.deutsche-biographie.de (Literaturverzeichnis Stichwort: Hrotsvit von Gandersheim Biografie) „Ihre Dramen hat sie expressis verbis als Gegenstiicke zu den lasziven (wenn auch formal eleganten) Komodien des Terenz entworfen: In der gleichen Darstellungsweise, in der man bisher von schandlicher Unzucht iippiger Weiber las, sollte nun die preiswiirdige Keuschheit heiliger Jungfrauen gefeiert werden."

37 Radle, Hrotsvith von Gandersheim, (Anm. 32), S. 84.

38 Radle, Hrotsvith von Gandersheim, (Anm. 32), S. 84.

39 Radle, Hrotsvith von Gandersheim, (Anm. 32), S. 85.

40 Ebd.

41 Gabe, Schwaches Weib und starker Schrei, (Anm. 21), S. 464.

42 Ebd.

43 Ebd., S. 464 ff.

44 Nagel, Einfuhrung (Anm. 3), S. 10.

45 Vgl. dazu: Nagel, Hrotsvit von Gandersheim, (Anm.36), Online Version.

46 Radle, Hrotsvith von Gandersheim, (Anm. 32), S. 87.

47 Ebd.

48 Kuhn, Hugo, Hrotsvith von Gandersheim, Dichterisches Programm. In: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959. S. 91.

49 Gabe, Schwaches Weib und starker Schrei, (Anm. 21), S. 449 f.

50 Tamerl, Alfred, Hrotsvith von Gandersheim, Eine Entmystifizierung, Grafelfing 1999. S. 9.

51 Vgl. dazu: Nagel, Hrotsvit von Gandersheim, (Anm.36), Online Version.

52 Ebd.

53 Radle, Hrotsvith von Gandersheim, (Anm. 32), S. 90 f.

54 Nagel,tfrofev/Yvo» Gandersheim, (Anm.36), Online Version.

55 Nagel, Einfuhrung (Anm.3), S.15.

56 Finck, Ruth, Diehl, Gerhard, Monialis nostra: Hrotsvit von Gandersheim als kulturelle Leitfigur in der Friihen Neuzeit. In: Literatur- Geschichte-Literaturgeschichte. Frankfurt am Main Lang 2003, S. 53.

57 Nagel, Einfuhrung (Anm.3), S.15.

58 Radle, Hrotsvith von Gandersheim, (Anm. 32), S. 84.

59 Gabe, Sabine, Interaktion im Heil. Die Binnenkommunikation im Abraham Hrotsvits von Gandersheim. In: Norm und Krise von Kommunikation. Inszenierungen literarischer und sozialer Interaktion im Mittelalter. Hrsg. Von Alois Hahn und Peter von Moos. Munster 2006, S. 12.

60 Vgl. dazu: Tranow, Ulf, Norm, Soziale. In: Grundbegriffe der Soziologie. Hrsg. von Bernhard Schafers und Johannes Kopp. Wiesbaden 2006, S. 343-346.

61 Von Gandersheim, Abraham, (Anm.7), S. 207.

62 Vgl. dazu: SchoMer, Franziska, Einfuhrung in die Dramenanalyse, Stuttgart 2012, S. 21 ff.

63 VonGandersheim,^ra/za/H, (Anm.7), S. 209.

64 Ebd.

65 Vgl. dazu: Brinker-Von der Heyde, Claudia, Einfuhrung. In: Familienmuster-Musterfamilien, Zur Konstruktion von Familie in der Literate. Hrsg. Von Claudia Brinker- von der Heyde und Helmut Scheuer, Frankfurt am Main 2004, S. 8.

66 Ebd.

67 Vgl. dazu: Paschke, Boris A., Nomen Est Omen: Warum Der Gekreuzigte Jesus WohlAuch Unter Anspielung AufSeinen Namen Verspottet Wurde. In: Novum Testamentum 49 (2007), H.4., S. 313-327. Das Sprichwort lasst sich bis in die romische Antike zuriickverfolgen und wurde hauptsachlich „[z]ur Verspottung von Personen eingesetzt." Ebd. S. 314.

68 Von Gandersheim,^ra/za/H, (Anm.7), S. 209.

69 Ebd.

70 Ebd.

71 Ebd.

72 Ebd., S.210.

73 Die Figur des Effrem kann, in Anbetracht des Rahmens und der Zielsetzung hier leider nur unzureichend analysiert werden. Ergebnis- und Erkenntnisreich ware eine noch tiefergehende Analyse hinsichtlich seiner Nahe zum mittelalterlichen Prophetenduktus. Vgl. dazu: Meier-Staubach, Christel, Einfuhrung, In: Prophetie und Autorschaft: Charisma, Heilsversprechen und Gefahrdung. Hrsg. Von Christel Meier-Staubach et al. Berlin 2014.

74 Vgl. dazu: Ebd., S. 16. Hier wurde zitiert aus: Art.: Typologie, A. Defmitorisch-etymologische Aspekte. B. Facher undAnwendimgsbereiche. I. Rhetorik, Literatur, Theologie undExegese. In; Historisches Worterbuch der Rhetorik, Bd. 9, Tubingen 2009, S. 841-846.

75 Ebd.

76 Meier-Staubach, Christel, nova verba prophatae, Evaluation und Reproduktion der propehetischen Rede der Bibel im Mittelalter. Eine Skizze, In: Prophetie und Autorschaft: Charisma, Heilsversprechen und Gefahrdung. Hrsg. Von Christel Meier-Staubach et al. Berlin 2014. S. 72.

77 YonGw&Qxsheim,Abraham, (Anm.7), S.210.

78 Die Bibel, Einheitsubersetzung, Altes und Neues Testament, 1 Mo 3,19.

79 Von Gwteateim, Abraham, (Anm.7), 210.

80 Siehe dazu Abbildung 1, S.76. Ich nenne diese drei weiblichen christlichen Enrwicklungsmoglichkeiten „Archetypen". Sowohl die Darstellung als auch die Interpretation des Dramas Abraham machen deutlich, dass trotz intendierter Selektion, den drei weiblichen, christlichen Archetypen Uberschneidungen und damit Transzendenzen zum Heiligen moglich sind.

81 Von Gandersheim, Abraham, (Anm.7), S.210.

82 Ebd.: Hier werden zudem weitere Konzeptionen einer oben verorteten Heiligkeit genutzt: „durch den Himmel wallen", „durch alle Sternenbilder dringen", „weiter schweben."

83 Ebd.

84 Ebd.

85 Ebd., S.209.

86 Von Gandersheim, Abraham, (Anm.7), S. 210.

87 Ebd.

88 Ebd.

89 Zeit wird hier ebenfalls als Heiligkeitskategorie etabliert: Unsterblichkeit und Endlosigkeit, werden, wie bereits gezeigt, als heilig konzipiert. Dem Umfang der Arbeit ist es geschuldet, dass dieser lategorie nicht im Detail nachgegangen werden kann.

90 Spanke, Kai und Werner, Lukas, Die gebrechliche Einrichtung der Welt. Raumstorungen und Textbruche in Heinrich von Kleists Erzahlungen. In: Storungen im Raum- Raum der Storungen Hrsg. Von Carsten Gansel und Pawel Zimniak, Heidelberg 2012, S. 72.

91 Ebd.

92 Vgl dazu: Koschorke, Albert, Vor der Familie, Grenzbedingungen einer modernen Institution, Konstanz 2010. S. 31ffundS. 227 ff.

93 Von Gandeisheim, Abraham, (Anm.7), S. 208.

94 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Unmarkierte Heiligkeit. Zur Diskrepanz familiärer, geschlechtlicher und räumlicher Hierarchien in Hrotsvit von Gandersheims "Abraham"
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,6
Autor
Jahr
2019
Seiten
78
Katalognummer
V888631
ISBN (eBook)
9783346178343
ISBN (Buch)
9783346178350
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hrotsvit von Gandersheim, Frühes Mittelalter, Heiligkeitskonzeption, Hagiographie, Post-strukturlalismus, Grenzüberschreitung, Inzest, Raum, Geschlecht, Feminismus
Arbeit zitieren
Bachelor of Arts Hannah Grünewald (Autor:in), 2019, Unmarkierte Heiligkeit. Zur Diskrepanz familiärer, geschlechtlicher und räumlicher Hierarchien in Hrotsvit von Gandersheims "Abraham", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/888631

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