Perspektiven und Grenzen der Digitalisierung in der Gesundheitsversicherungswirtschaft


Masterarbeit, 2019

86 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Motivation und Problemstellung

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Entwicklungen in der Krankenversicherungswirtschaft
2.2 Markttrends

3. Digitalisierung
3.1 Begriffsbestimmung und Abgrenzung
3.2 Digitalisiertes Geschäftsmodell
3.3 Digital angebundene Kunden
3.4 Big Data
3.5 Digitale Wertschöpfung

4. Wandel zur Gesundheitsversicherung
4.1 Service-dominant-logic-Perspektive
4.2 Wandel des Gesundheitsverständnisses
4.3 Serviceorientierte Geschäftsmodelle
4.3.1 Datenmanager
4.3.1.1 Business Analytics
4.3.1.2 Prozessmanagement
4.3.2 Gesundheitsmanager
4.3.2.1 Gesundheitsapps
4.3.2.2 Produktinnovationen

5. Grenzen der Digitalisierung
5.1 Datenschutz
5.1.1 Organisatorische Anforderungen
5.1.2 IT-Sicherheitsmanagement
5.2 Ethische Aspekte
5.2.1 Prinzip der Autonomie
5.2.2 Prinzip der Gerechtigkeit

6. Handlungsempfehlungen

Abstrakt

Mit dem fast inflationär genutzten Begriff „Digitalisierung“ werden oftmals überhöhte Erwartungen verbunden, welche sowohl die Machbarkeit der Umsetzung als auch regu- latorische Spezifika außer Acht lassen.

Ziel der vorliegenden Masterthesis „Perspektiven und Grenzen der Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft“ ist es, zu untersuchen, inwieweit durch das Themenfeld Digitali- sierung die Krankenversicherungsbranche eine Neuausrichtung erfahren kann. Dieses Ziel wird auf Grundlage einer Literaturrecherche verfolgt, welche den Gegenstandsbe- reich definiert, neue Trends der Digitalisierung behandelt und konzeptionelle Zugänge aufzeigt.

Dabei wird als Reaktion auf verändertes Kundenverhalten und ubiquitär verfügbare Da- tenmengen der Wandel zu einem serviceorientierten Geschäftsmodell betrachtet. Dieses bietet die Möglichkeit, dem Versichertenstamm weitere Dienstleistungen im Bereich Da- tenmanagement und Gesundheitsmanagement anzubieten. Die sich daraus ergebenden vielfältigen Gestaltungsräume können in Produktinnovationen, neuen Ansätzen der Da- tennutzung- und -übertragung sowie Prozessautomatisierungen zum Ausdruck gebracht werden.

Neue Digitalisierungstrends lassen sich nicht ohne Beachtung rechtlicher und ethischer Restriktion einführen. Es wird geprüft, welchen Einfluss die neue Datenschutzgrundver- ordnung, das IT-Sicherheitsgesetz, das Prinzip der Autonomie und das Prinzip der Ge- rechtigkeit auf die Implementierung digitaler Elemente in das bestehende Geschäftsmo- dell haben.

Keywords: Digitalisierung, Big Data, Gesundheitswirtschaft, Krankenversicherung, SDL-Ansatz, Versicherungsprodukte, Datenschutz, Ethik.

Abstract

The almost inflationary use of the term "digitalization" is often associated with exagger- ated expectations that ignore both the feasibility of implementation and regulatory spe- cifics.

The aim of the present master's thesis, "Perspectives and Limits of Digitization in the Health Care Industry", is to investigate to what extent the health insurance industry can be reoriented by digitalization. This objective will be pursued based on a literature search defining the subject area, dealing with new trends in digitalization and identifying con- ceptual approaches.

As a reaction to changing customer behavior and ubiquitously available amounts of data, the shift to a service-oriented business model is considered. This offers the possibility to offer further services in the area of data management and health management to the in- sured persons. The resulting diverse scope for design can be expressed in product inno- vations, new approaches to data use and transmission, as well as process automation.

New digitalization trends cannot be introduced without observing legal and ethical re- strictions. The influence of the new Basic Data Protection Regulation, the IT Security Act, the principle of autonomy and the principle of justice on the implementation of dig- ital elements in the existing business model will be examined.

Keywords: Digitization, Big Data, healthcare, health insurance, SDL Approach, insur- ance products, privacy, ethics.

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Motivation und Problemstellung

Der Begriff „Digitalisierung“ wird seit einigen Jahren als Schlagwort benutzt, unter dem sich die Verwender in der Versicherungsbranche offenbar die unterschiedlichsten Dinge vorstellen. In der Literatur finden sich viele Definitionsansätze, jedoch hat sich noch kein allgemein anerkanntes Begriffsverständnis etablieren können. Die Verwendung des Be- griffs ist wenig stringent und erfolgt in sehr unterschiedlichen Kontexten, die jeweils von- einander abweichende Inhalte implizieren und einen divergierenden Bedeutungsumfang aufweisen. Dies lässt sich vor allem daran erkennen, dass unzählige Phänomene, Vorge- hensweisen, Strategien und Anwendungen unter dem Oberbegriff Digitalisierung subsu- miert werden und in unterschiedlichen Kontexten verwendet werden.

Big Data, Smart Data, e-Health, Telemedizin, Agilisierung, Holokratie, künstliche Intel- ligenz, Cloudservice, Insurtechs, Fintech, Healthech, Data-Mining, Business Intelligence, Advanced Analytics und Predictive Modelling sind nur einige exemplarische Beispiele, die eine sprachlich eindeutige Terminologie, welche für eine kontextuell richtige Veror- tung notwendig ist, verwässern. Ohne einer zumindest innerhalb einer Branche gültigen Definition des Realphänomens wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung gestört, wenn nicht sogar verhindert.1

Festzuhalten ist, dass die Digitalisierung disruptives Potenzial besitzt, welches alle ge- sellschaftlichen, unternehmerischen und individuellen Lebensbereiche durchdringt. Krankenversicherungen sind aktuell mit einer Vielzahl unterschiedlicher Digitalisie- rungsimpulse konfrontiert. Um die Chancen der Digitalisierung wertschöpfend zu nutzen, gilt es, einen Transformationsprozess einzuleiten, der die digitalen Möglichkeiten in das Geschäftsmodell passend integriert sowie das Leistungs- und Serviceangebot passend er- gänzt.2

Auf der Grundlage der soeben geschilderten Problemstellung kann konstatiert werden, dass ein Paradigmenwechsel im Gange ist, welcher Strategien und Maßnahmen erfordert, um die Mehrwerte der Digitalisierung im eigenen Geschäftsmodell abzubilden. Es han- delt sich nicht nur um kleine Veränderungen, sondern um einen Wandlungsprozess, wel- cher sich insbesondere auf die immer stärkere Bedeutung des Kunden und die Entwick- lung der Informationstechnologie zurückführen lässt. Ziel der vorliegenden Arbeit ist, den Digitalisierungsbegriff zu präzisieren und Perspektiven sowie Grenzen für die Ge- sundheitsversicherungswirtschaft aufzuzeigen.

In Kapitel 2 werden zunächst die theoretischen und sachinhaltlichen Grundlagen zum Verständnis der Thematik und für eine kontextuelle Eingliederung geschaffen. Dazu ist es von Bedeutung, die Historie des deutschen Versicherungsmarktes nachzuvollziehen sowie die aktuellen Inhalte und Entwicklungen des Themenfeldes Digitalisierung zu er- läutern.

In Kapitel 3 werden die wesentlichen Grundlagen der Arbeit erörtert. Diesbezüglich wird der Digitalisierungsbegriff diskutiert. Digitalisierung mit einer besonderen Form der bi- nären Codierung gleichzusetzen erscheint vor dem Hintergrund der Diskussion im Zu- sammenhang mit Versicherungsunternehmen wenig zweckorientiert. Deswegen werden im Anschluss Definitionsansätze des Geschäftsmodellbegriffs vorgestellt, bevor die der Arbeit zu Grunde liegende Arbeitsdefinition benannt wird.

Der Fokus von Kapitel 4 richtet sich vor allem auf den SDL-Ansatz. Dieser wird in seinen Grundzügen betrachtet. Zudem wird der Fragestellung nachgegangen, welche Implikati- onen eine derartige Betrachtungsweise für das Geschäftsmodell der PKV hat. Insbeson- dere, um der erhöhten Wechselwilligkeit der Kunden entgegenzuwirken, bietet der SDL- Ansatz eine interessante Perspektive. Die Tarife und Produkte sind demnach konsequent als Bündel von integrierten Serviceangeboten zu denken. Dadurch rückt die aktuarielle Beschaffenheit etwas in den Hintergrund und der für den Kunden erbrachte Service als Kernleistung in den Vordergrund. Durch die Service-Orientierung verändert sich die reine Versicherungslogik hin zu einer auf den Kunden ausgerichteten, relationalen, inter- aktiven und kontextuellen Form der Wertschöpfung.

Ein spezieller Fokus wird dabei auf eine potenzielle Weiterentwicklung des PKV-Ge- schäftsmodells zum Daten- bzw. Gesundheitsmanager für den Kunden gelegt. Die intel- ligente Informationsgewinnung wird ein immer wichtigeres strategisches Erfolgskrite- rium für Versicherungen, da Daten in immer größerem Umfang vorhanden sind und sich die Software und Hardware zu ihrer Verarbeitung drastisch verbessert hat. Mit Hilfe von Data-Analytics-Verfahren können Value Propositions geschaffen werden, indem Kun- denprobleme und -bedürfnisse rechtzeitig erkannt werden. Dieses Wissen kann daraufhin in adaptive, auf die jeweilige Lebenssituation des Kunden angepasste Produkte übersetzt werden.

Im Mittelpunkt von Kapitel 5 stehen die rechtlichen Restriktionen bzw. ethischen Frage- stellungen, die mit der Nutzung von großen Datenmengen einhergehen. Ungehemmte Zu- gangs- und Verwertungsmöglichkeiten von Daten kollidieren mit gesellschaftlichen so- wie individuellen Vorstellungen und dem Recht auf Privatsphäre. Europa hat bereits in der Vergangenheit strikte Datenschutzbestimmungen eingeführt und geht mit der neuen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) diesen Weg konsequent weiter.

Außerdem beeinflussen die sich durch die Digitalisierung abzeichnenden Veränderungen nicht nur die Autonomie des Individuums, sondern könnten sich auch auf die Bereitstel- lung und Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen sowie die zukünftige Ge- staltung des Solidarsystems auswirken. Vor diesem Hintergrund kommt der Betrachtung ethischer Aspekte bei der Entwicklung, Implementierung und Evaluation von digitalen Anwendungen eine zentrale Bedeutung zu.

Kapitel 6 fasst die wesentlichen Ergebnisse im Rahmen eines Resümees zusammen.

2. Theoretische Grundlagen

2.1 Entwicklungen in der Krankenversicherungswirtschaft

Versicherungen wird im Zusammenhang mit dem Schlagwort Digitalisierung oft eine ge- wisse Rückständigkeit und Trägheit bescheinigt. Im Vergleich zu anderen Branchen rea- gieren sie nur zögerlich und behäbig auf Veränderungen. Durch die langfristige Denk- weise haben sich in der Unternehmensführung die Werte „Stabilität, Vorsicht und Be- ständigkeit“ durchgesetzt. Das konservative Denken innerhalb des Versicherungswesens ist somit typisch und steht grundlegenden Innovationsprozessen im Weg. Im Kern ist es die Natur der Versicherungsprodukte, den Menschen in der Regel eine langfristige finan- zielle Sicherheit zu bieten. Um die Produkte haben sich komplizierte und schwerfällige Prozessketten ergeben, welche in traditionsreiche und steile Hierarchien eingebettet sind. Anders als beispielsweise Software-Produkte haben Versicherungsprodukte einen deut- lich längeren Lebenszyklus und stellen sich deswegen als wenig transparent, passgenau und flexibel dar. Auch die Absicherung von individuellen Risiken ist heute bei Erstversi- cherungsunternehmen kaum vorhanden.3

In der Historie der Versicherungswelt haben sich in den Organisationen sehr komplexe und starre Strukturen entwickelt, welche sich nur langsam einem Wandel unterziehen las- sen. Moderne, digitale Technologien wie Big Data Analytics oder Robotic Process Auto- mation werden nur sehr langsam adaptiert. Bis dato setzten Digitalisierungsprojekte nicht an der Kundenschnittstelle, sondern vor allem an der Prozessstruktur an.4 In den letzten Jahren wurden überwiegend in der Automatisierung von Geschäftsprozessen sowie mit der Modernisierung der IT-Infrastruktur Fortschritte erzielt. Trotzdem hat sich das tradi- tionelle Geschäftsmodell der Krankenversicherung seit langem als widerstandsfähig er- wiesen, beginnt jedoch auch langsam die Effekte der Digitalisierung zu spüren.5

Die sich hieraus ergebende fundamentale Veränderung in der PKV zeigt sich übergeord- net in drei Bereichen: den Prozessen, der Informationsgewinnung und der Interaktion mit Kunden. In allen drei Themenfeldern geht es darum, die Wettbewerbssituation zu verbes- sern. Die Prozesse sollen effektiver und effizienter ablaufen, um Verwaltungskosten zu senken und den Kundenservice zu erhöhen.6

Der Einsatz von Datenanalyseverfahren (Big Data) ermöglicht zunehmend feinkörnige Profile einzelner Personen oder Personengruppen, was zu einer verbesserten Ausgestal- tung der Customer Journey sowie einer vereinfachten Stratifizierung von Versicherten genutzt werden kann.7

Kunden verhalten sich im Hinblick auf Versicherungsprodukte anders als noch vor eini- gen Jahren. Sie erhalten im Internet leichter Zugang zu Vergleichsangeboten und suchen nach individuellen Lösungen. Standard-Versicherungsleistungen laufen Gefahr, zu einem Commodity-Produkt ohne echtes Differenzierungspotential im Wettbewerb zu werden. Außerdem werden auf den jeweiligen Lebensabschnitt bezogene Angebote und Produkte stärker nachgefragt, was mit dem Begriff der gebrochenen Erwerbsbiographie umschrie- ben wird.8

Viele Versicherungsprodukte werden von den Kunden nicht aktiv nachgefragt, sondern müssen vom Anbieter verkauft werden. Durch die in Deutschland vorherrschende indi- rekte Vertriebsstruktur über Agenten, Makler und Drittvertriebe haben die Versicherer auf der Vertriebsseite in der Regel keinen direkten Kontakt zum Endkunden und besitzen somit bis auf Stammdaten und eine Schadenshistorie nur wenige Kundendaten. Die Kun- denbedürfnisse sind daher teilweise schlichtweg unbekannt, was einerseits die Segmen- tierung von Kunden, andererseits die Berechnung von Prämien für neue Versicherungs- produkte erschwert.9 Wettbewerb von kundenorientierten Geschäftsmodellen, deren Stärke nicht zuletzt darin besteht, schnell auf wechselnde Kundenbedürfnisse zu reagie- ren, gab es daher in der Vergangenheit nicht. Durch das Zeitalter der Digitalisierung bie- ten sich den KV-Unternehmen durch neuartige Technologien jedoch immer mehr Per- spektiven, den analogen Kundenkontakt um digitale Elemente zu erweitern.10

Neben der allgemeinen Entwicklung des Marktes prägen verschiedene externe Einfluss- faktoren das Marktbild im Krankenversicherungssektor. Das aktuell vorherrschende Niedrigzinsumfeld erschwert es Versicherungen zunehmend, garantierte Renditen zu er- wirtschaften, was dazu führt, dass alle Produktsparten, welche einen Ansparcharakter ha- ben (z. B. Krankenversicherungen), unter massiven Druck geraten. Versicherern fällt es deswegen immer schwerer, die notwendigen Renditen zu erwirtschaften, um ihren künf- tigen Verpflichtungen nachzukommen. Sie stehen somit heute vor der signifikanten Her- ausforderung, das Kapital der Versicherungsnehmer gewinnbringend anzulegen.11 Auf der Suche nach Wachstumsmöglichkeiten, die im Kerngeschäft bereits weitgehend aus- geschöpft sind, wird die Wertschöpfungskette um andere Dienstleistungen und Produkte erweitert. Beispielsweise sind im Lebensversicherungssektor – getrieben durch die anhal- tende Niedrigzinsphase – klassische Lebensversicherungen, bei denen einmalig über Jahrzehnte bestimmte Ziele und Ansparraten festzulegen sind, durch fondsbasierte Ver- sicherungen ersetzt worden.12

Als Spätfolge der weltweiten Finanzkrise ist für Versicherungen zum 01. Januar 2016 die Solvency-II-Richtlinie (Richtlinie 2009/138/EG) in Kraft getreten, welche im Kern zur Absicherung der Unternehmen vor Insolvenz dient. Neben der Herausforderung, ausrei- chend Risikokapital vorzuhalten, müssen die Versicherungsgeber den Anforderungen ei- nes ausreichenden Risikomanagementsystems sowie eines umfassenden Berichtsystems gerecht werden. Bedingt durch die starren Strukturen der traditionellen Versicherer kann sich dies als Nachteil gegenüber neuen Marktteilnehmern erweisen.13

Mit der Digitalisierung gewinnt auch ein anderes Thema an Bedeutung: die informatio- nelle Selbstbestimmung und deren Schutz. Um die Verfügbarkeit sowohl von kritischen Infrastrukturen und die von ihnen erbrachten Leistungen als auch die im Zuge der Leis- tungserbringung verarbeiteten vertraulichen, personenbezogenen Daten zu schützen, wurden eine Reihe gesetzlicher Regelungen erlassen oder hinzugefügt. Dazu zählen z. B. das eHealth-Gesetz, die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) oder das IT–Sicherheitsgesetz (IT-SiG) in Verbindung mit der BSI-Kritis-Verordnung.14

2.2 Markttrends

Das klassische Geschäftsmodell eines Versicherungsunternehmens bietet eigentlich vor- teilhafte Voraussetzungen, um digitale Elemente zu integrieren. Es handelt sich bei Ver- sicherungen um Dienstleistungen, welche am Kunden erbracht werden und auf der Erhe- bung und Verarbeitung großer, mehrheitlich strukturierter Daten beruhen. Diese sind zwar personalintensiv, aber durch ihre Immaterialität auch in hohem Maße digitalisierbar.

Die Versicherungsbranche hat sich historisch gesehen seit den 1920er Jahren mit der Ge- staltung standardisierter Prozesse und deren Unterstützung durch Informationstechnolo- gien beschäftigt. Damals führte die Gothaer Feuerversicherungsbank als erster Versiche- rer eine Maschine ein, welche mit Hilfe von Lochkarten Beitragsrechnungen, Provisions- abrechnungen und Statistiken automatisiert erstellen konnte. Eine weitere Welle der Ra- tionalisierungen durch Informationstechnik erfolgte zwischen den 1960ern und 1980ern Jahren durch die Einführung wesentlich leistungsfähigerer Datenverarbeitungsgeräte. Dadurch konnten essenzielle Teile der Wertschöpfung automatisiert werden.15

Kennzeichnend für diese Innovationswelle war, dass ausschließlich der Versicherungs- vertrieb Gegenstand der Betrachtung war. Seit den 1990er Jahren entdeckte die Versiche- rungswirtschaft den Versicherungsvermittler als Bestandteil der rationalisierungsfähigen Wertschöpfungskette, zudem wurden auch in Agentur- und Maklerbetrieben Effizienz- maßnahmen umgesetzt. Dabei wurde zunehmend deutlich, wie komplex die Anbindung von Maklern und Mehrfachvertretern ist. Bis heute scheitert diese oft genug an fehlenden Daten- und Datenübermittlungsstandards. Seit über zehn Jahren bemüht sich beispiels- weise das Brancheninstitut für Prozessoptimierung (BiPRO) um die Entwicklung und Verbreitung solcher Standards.16

Im Zuge der Digitalisierung nimmt die Geschwindigkeit, mit der sich die Rahmenbedin- gungen für Unternehmen verändern, massiv zu. Neue Produkte und Services erobern in immer kürzeren Abständen die Märkte.17 Dadurch kann die klassische Versicherung, die heute meist einzeln und isoliert abgeschlossen wird, künftig zum Bestandteil eines mehr- teiligen Leistungspakets werden, das Lösungen für komplette Lebensbereiche bietet. Gleichzeitig erweitern Unternehmen aus anderen Branchen ihre Wertschöpfung und bie- ten Zusatzleistungen an, die eigentlich dem Versicherungswesen zuzuordnen sind.18

In diesem Zusammenhang sind Insurtechs, Fintechs oder Healthtechs Begriffe, welche in der Assekuranz vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. Darunter werden meist Unterneh- men oder Geschäftsmodelle verstanden, die mit Hilfe von technologischen Anwendungen einzelne Bereiche der klassischen Wertschöpfungskette von Versicherern bearbeiten. In- surtechs setzen verstärkt auf die Kraft von potenziell branchenverändernden Technolo- gien. Sie treten mit neuen Digitalkonzepten an, welche über die reine Digitalisierung der Wertschöpfungskette hinausgehen, um entweder Kundenbedürfnisse besser zu bedienen oder mit sonstigen Mehrwerten Geschäftsanteile hinzuzugewinnen.19

Die Versicherungsbranche bietet viele Anknüpfungspunkte. Kennzeichnend ist der hohe Innovationsgrad des Geschäftsmodells. Die Startups zielen durch disruptive Geschäfts- modelle offensiv auf Marktanteile traditioneller Versicherer ab, bieten aber auch Koope- rationsmöglichkeiten an.20

Zu unterscheiden sind dabei Insurtechs, die neue Versicherungsangebote offerieren, neue Kontaktpunkte im Versicherungsvertrieb finden oder den Versicherungsbetrieb verbes- sern. Jeder der drei Bereiche besteht wiederum aus mehreren Kategorien.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Insurtechs

Quelle: Oliver Wyman, Zukunft von Insurtech in Deutschland, 2016, S. 11.

Die Digitalisierung ermöglicht innovative Versicherungslösungen auf verschiedenen Ebenen: Zum einen lassen sich klassische Versicherungsprodukte mittels digitaler Ele- mente weiterentwickeln. Daneben entstehen neue Angebote auf Digitalbasis, die risiko- behaftete Lebenssituationen in den Fokus nehmen und dabei Versicherungsschutz als ei- nen Bestandteil umfassen.21

Diese Entwicklungen auf der Produktseite korrelieren positiv mit dem Bedürfnis der Kun- den, flexibler auf veränderliche Erwerbsbiographien und persönliche Nutzenvorstellun- gen reagieren zu können. Dazu passen digitale Lösungen, welche den Kunden befähigen, eigenständig die relevanten Informationen zu beschaffen und Änderungen im Versiche- rungsportfolio vorzunehmen.22

3. Digitalisierung

3.1 Begriffsbestimmung und Abgrenzung

Die Begriffsbestimmung im Rahmen wissenschaftlicher Arbeiten stellt eine notwendige Voraussetzung dar, um eine präzise Vorstellung vom jeweiligen Untersuchungsgegen- stand zu erhalten. Der Digitalisierungsbegriff wurde insbesondere im Rahmen der dritten Industriellen Revolution geprägt, dennoch sind aktuell noch terminologische Unklarhei- ten zu konstatieren. Die Begriffe „digital“ und „Digitalisierung“ sind trotz oder gerade wegen der andauernden Kontroverse seltsam unbestimmt, und die Definitionen divergie- ren in der Literatur teilweise stark voneinander. Bei der rein technischen Betrachtungs- weise der Digitalisierung handelt es sich um eine besondere Form der binären Codierung, jedoch beinhaltet Digitalisierung mehr als nur einen Kodierungsvorgang. Somit handelt es sich bei dem Terminus Digitalisierung nicht zwingend um ein neues Phänomen, son- dern um einen dehnbaren Begriff, der aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und wahrgenommen werden kann und abhängig vom jeweiligen Kontext mehrere Bedeutun- gen annehmen kann.

Der ursprüngliche Anstoß zur Digitalisierung geht auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurück, welcher arabische Nummern in binäre Strings transformierte. Frühere Anwendungen der digitalen Informationsübermittlung wurden im Rahmen von Morsezeichen verwendet, welche im Jahr 1835 von Samuel Finley Breese Morse zur Übermittlung binärer Signale durch einen Telegraphen erfunden wurde. In einer rein technischen Betrachtungsweise kann Digitalisierung als Kodierungsvorgang (0/1) beschrieben werden, der eine Um- wandlung und Darstellung von Informationen ermöglicht. Zur Umwandlung von analo- gen Signalen in digitale Daten muss auf der Analogseite zunächst eine Abtastung erfol- gen, deren Dichte die Qualität des Ergebnisses determiniert.23

In der Literatur konnte sich bis dato noch kein einheitliches Begriffsverständnis etablie- ren, weshalb der Digitalisierungsbegriff teilweise sehr unterschiedlich definiert wird:

„Unter dem Begriff der ‚Digitalisierung‘ werden im Allgemeinen die Auswirkungen der Nutzung digitaler Technologien verstanden. Dabei kann sich diese Nutzung digitaler Technologien sowohl auf die Produktebene eines Unternehmens als auch auf die Prozess- ebene beziehen.“24

„Digitalisierung bedeutet heute im Wesentlichen für viele Menschen grenzenlose Kom- munikation, ständig und überall verfügbares Wissen und die unerschöpfliche Verfügbar- keit von Waren und Gütern, selbst in den entlegensten Winkeln dieser Welt.“25

„Digitalization ist den Sozialwissenschaften zuzuordnen und bezieht sich auf die Aus- wirkungen der IT und software insbesondere der digitalen Kommunikation und digitaler Medien auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und weitere Lebensbereiche.“26

„Digitalisierung ist die partielle bzw. totale Transformation von Geschäftsmodellen unter der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien mit dem Ziel der Wertschöpfung.“27

„Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist die inhaltliche und zeitliche Veränderung von Prozess-Abläufen zwischen Akteuren in der Gesundheitsversorgung und den Ver- tragsbeziehungen durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnolo- gien (IKT) mit Nutzung von teilweise sehr hohen Datenvolumina mit der Zielsetzung der Effektivitäts- und Effizienzsteigerung sowie der Kundenzufriedenheit.“28

„Digitalisierung umfasst heute vor allem Bereiche der Kommunikation, Schnittstellenbe- dienung und der Datenanalyse. Durch die technischen Möglichkeiten können mit innova- tiven, gezielten Initiativen genau die Schwachstellen der traditionellen ganzheitlichen Systeme angegangen werden.“29

Digitalisierung mit einer besonderen Form der binären Codierung gleichzusetzen er- scheint vor dem Hintergrund der Diskussion im Kontext von Versicherungsunternehmen wenig zweckorientiert.30

Deswegen wird in jüngerer Zeit unter „Digitalisierung“ und sinnverwandten Begrifflich- keiten wie z. B. „Digitale Revolution“ oder „Digitale Transformation“ auch ein Verände- rungsprozess in Gesellschaft und Unternehmen verstanden. Digitalisierung ist demnach Teil einer längeren Entwicklung, welche einschneidende und grundlegende Veränderun- gen ganzer Geschäftsmodelle oder wesentlicher Teile nach sich zieht. Die digitale Trans- formation stellt insbesondere etablierte Unternehmen, unabhängig vom Betriebstyp oder Branchenzugehörigkeit, vor die Herausforderung, das bestehende Geschäftsmodell oder einzelne Elemente daraus partiell oder komplett zu digitalisieren oder um ein oder meh- rere digitale Elemente zu ergänzen31

Ein Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Geschäftsmodellen wurde von Becker et al. im Jahr 2013 hergestellt. Die Autoren verstehen unter Digitalisierung die Verände- rung von Geschäftsmodellen durch die Verbesserung von Geschäftsprozessen aufgrund der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechniken.32

3.2 Digitalisiertes Geschäftsmodell

Die rasante technologische Entwicklung der Gegenwart erschwert es im Vergleich zu früheren Wirtschaftsepochen, die Entwicklung der Ökonomie oder einzelner Branchen zu antizipieren. Vielmehr bestimmen Diskontinuitäten den Wettbewerb des 21. Jahrhun- derts. Veränderte Umweltanforderungen und Komplexitätstreiber wie die Globalisierung, Deregulierung und Schnelllebigkeit ändern die traditionellen Grundsätze des Wettbe- werbs.33

Die oben skizzierte Digitalisierung von Produkten, Dienstleistungen und Prozessen for- dert in allen Branchen eine Neuausrichtung der Geschäftsmodelle. Die erforderlichen Veränderungsprozesse greifen dabei tief in bestehende Ablauf- und Aufbauorganisatio- nen sowie die zentralen Leistungsfelder der Unternehmen ein. Um die neuen digitalen Gestaltungmöglichkeiten einerseits und die innovativen Anforderungen der relevanten Stakeholder andererseits auszugleichen, wird eine digitale Transformation notwendig. Dabei hat das Geschäftsmodell in erster Linie die Funktion eines Mittlers zwischen der technologischen Innovation und der Nutzung durch den Kunden. Neue bzw. verbesserte Produkte oder Dienstleistungen führen nicht zwangsläufig zur Verbesserung der Unter- nehmensleistung, sondern ein geeignetes Geschäftsmodell ist zwingend notwendig, um die Überführung einer innovativen Technologie in einen wirtschaftlichen Wert sicherzu- stellen.34

Unternehmen, welche diesen Transformationsprozess nicht frühzeitig und umfassend ge- nug aufgreifen, könnten einer Art digitalem Darwinismus zum Opfer fallen. Damit wird der Auswahlprozess bezeichnet, welcher sich automatisch einstellt, falls Unternehmen sich den veränderten Gegebenheiten nicht schnell genug anpassen und deshalb vom Markt „aussortiert“ werden. Der digitale Darwinismus setzt immer dann ein, wenn sich Technologien und die Gesellschaft schneller verändern als die Fähigkeit der Adaption.35

Unternehmen sind daher dazu gezwungen, ihr bestehendes Geschäftsmodell immer wie- der auf den Prüfstand zu stellen und an den veränderten Rahmenbedingungen reaktiv an- zupassen oder zukünftige Bedingungen vorwegzunehmen. Dabei profitieren solche Un- ternehmen, die es verstehen, einen Vorteil aus dem strukturellen Wandel der Umwelt zu ziehen und diesen in eine Geschäftsmodell-Innovation zu überführen. 36

Trotz des stetig steigenden Interesses am Geschäftsmodell hat sich in der Betriebswirt- schaftslehre kein einheitlicher Geschäftsmodellbegriff etablieren können. Die Entstehung des Begriffs „Geschäftsmodell“ wird häufig mit dem Aufkommen der New Economy in der Zeit von 1998 bis 2001 in Verbindung gebracht, in welcher der Geschäftsmodellbe- griff vermehrt als Modebegriff im Zusammenhang mit dem Internet Verwendung fand.37

Im Folgenden werden einige für diese Arbeit relevanten Definitionen genannt:

„Die Digitalisierung steht für die umfassende Vernetzung aller Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Fähigkeit, relevante Informationen zu sammeln, zu analysie- ren und in Handlungen umzusetzen. Die Veränderungen bringen Vorteile und Chancen, aber sie schaffen auch ganz neue Herausforderungen.“38

„Digital transformation (DT) – the use of technology to radically improve performance or reach of enterprises – is becoming a hot topic for companies across the globe. Execut- ives in all industries are using digital advances such as analytics, mobility, social media and smart embedded devices – and improving their use of traditional technologies such as ERP – to change customer relationships, internal processes, and value propositions.“39

„Die Digitalisierung der Gesellschaft verändert sämtliche Lebensbereiche. So ist auch die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens eng mit den Potentialen und Herausforderun- gen verbunden, die aus der zunehmenden Verbreitung von eHealth und Big Data entste- hen. Eine frühzeitige Identifizierung sich abzeichnender Veränderungen bei sämtlichen Akteuren sowie deren Interaktionen untereinander bilden die Grundlage für die Erschlie- ßung von Digitalisierungspotentialen in diesem Sektor.“40

„Digitale Transformation verstehen wir als durchgängige Vernetzung aller Wirtschafts- bereiche und als Anpassung der Akteure an die neuen Gegebenheiten der digitalen Öko- nomie. Entscheidungen in vernetzten Systemen umfassen Datenaustausch und -analyse, Berechnung und Bewertung von Optionen sowie Initiierung von Handlungen und Einlei- tung von Konsequenzen.“41

„Die Innovationsobjekte im Rahmen der Geschäftsmodell-Innovation sind einzelne Ge- schäftsmodell-Elemente (z. B. Kundensegmente, Leistungen) bzw. das gesamte Ge- schäftsmodell. Der Innovationsgrad betrifft sowohl die inkrementelle (geringfügige) als auch die radikale (fundamentale) (Weiter-)Entwicklung eines Geschäftsmodells. Die Be- zugseinheit zur Feststellung des Neuigkeitsgrades ist primär der Kunde; sie kann aller- dings auch den Wettbewerb, die Industrie und das eigene Unternehmen betreffen... Die Zielsetzung ist, Geschäftsmodell- Elemente so zu kombinieren, damit für Kunden und für Partner auf eine neue Weise Nutzen gestiftet wird; somit ist auch eine Differenzierung gegenüber Wettbewerbern möglich. Diese Differenzierung dient dazu, die Kundenbezie- hungen zu festigen und einen Wettbewerbsvorteil aufzubauen.“42

„Bei der Digitalisierung geht es zum einen um die inhaltliche und zeitliche Veränderung von Prozess-Abläufen, wie z. B. eine Automatisierung von vormals manuell oder maxi- mal computerunterstützten Arbeitsschritten und zum anderen um die Informationsgewin- nung aus großen Datenvolumina als Entscheidungsgrundlage, auch als „Big Data“ be- zeichnet. Die Veränderung der Prozess-Abläufe kann dabei sowohl innerhalb der jewei- ligen Akteure in der gesamten Gesundheitsversorgung, als auch zwischen ihnen stattfin- den. Es werden somit zeitliche und räumliche Distanzen überwunden, Prozesse ver- schlankt und beschleunigt sowie Marktakteure besser vernetzt.“43

Demnach soll unter Digitalisierung zusammenfassend die partielle bzw. totale Transfor- mation von Geschäftsmodellen unter der Nutzung von Informations- und Kommunikati- onstechnologien mit dem Ziel der Wertschöpfung verstanden werden. Die Digitalisierung von Geschäftsmodellen führt u. a. zu einem neuartigen Wertversprechen des Unterneh- mens am Markt, sodass die Digitalisierung von Geschäftsmodellen als Innovationspro- zess verstanden werden kann.

Die Zielsetzung ist, Geschäftsmodell-Elemente so zu kombinieren, damit für Kunden auf eine neue Weise Nutzen gestiftet wird. Dies ist auch notwendig, weil Kunden in der In- teraktion mit Unternehmen aus anderen Branchen erkannt haben, dass viele Vorgänge rund um Informations- und Angebotsbeschaffung, Kauf sowie Services nach dem Kauf vollständig oder überwiegend digital umsetzbar sind. Die Erwartungshaltung an Versi- cherer, ebenfalls digital, jederzeit erreichbar und flexibel zu sein, wird bisher kaum er- füllt. Es ergeben sich neue Formen der aktiven Zusammenarbeit. Mit Hilfe digitaler Er- weiterungen können Kunden in ein proaktives Ökosystem eingebunden werden und zum Prosumenten ihrer eigenen Gesundheitserhaltung befähigt werden. Durch Self-Service- Portale können Kunden bestimmte Prozesse eigenständig ausführen, ohne direkt mit der Versicherung in Kontakt treten zu müssen, wodurch sie deutlich enger in den Produkt- entwicklungsprozess integriert werden.44

3.3 Digital angebundene Kunden

Der Kunde ist im Krankenversicherungsgeschäft von elementarer Bedeutung, da er im Kaufprozess von der ersten Wahrnehmung des Leistungsangebots bis zum After-Sales- Service mit dem Unternehmen interagiert.45

Die Anforderung an die Informationsbereitstellung hat sich in den letzten Jahren durch die flächendeckende Nutzung des Internets gewandelt. (Potenzielle) Kunden erwarten heutzutage, dass sämtliche relevanten Informationen jederzeit auf allen Kanälen verfüg- bar sind. Diese Tendenz wird durch eine Vielzahl neuer Kontaktpunkte wie Apps, Wearables oder Self-Service-Portale beschleunigt. Gab es früher nur einen Versiche- rungsvertreter, gibt es heute eine Vielzahl von Informationsmöglichkeiten über zahlrei- che analoge und digitale Vertriebskanäle hinweg.46

Eine der Kernbotschaften der Studie „Capturing the insurance customer of tomorrow”, welche von der Managementberatung Accenture durchgeführt wurde, ist, dass nur 29 Prozent der Versicherungskunden tatsächlich zufrieden mit den Dienstleistungen ihrer Versicherer sind. Als Folge dessen wird in der Studie einem Großteil der unzufriedenen Kunden eine hohe Wechselbereitschaft attestiert. Diese sogenannte „Switching Eco- nomy“ machen diejenigen Kunden aus, welche auf Grund verschiedener Faktoren wie mangelndem Service, fehlender Transparenz oder auch unzureichender individueller Be- treuung sensibel für Versicherungswechsel sind.47

Wesentliche Kundenbedürfnisse lassen sich laut Esser folgendermaßen definieren:

- „Individuelle Produkte und Betreuung der Versicherten
- Eine transparente und nachvollziehbare Produkt- und Preispolitik
- Faire Produktberatung (der Kunde bekommt, was er wirklich braucht) und Preis- gestaltung (der Kunde zahlt für das, was er wirklich braucht)
- Begeisterung und Empathie im Service“48

Um die Chancen der Digitalisierung wertschöpfend zu nutzen, gilt es, einen Transforma- tionsprozess einzuleiten, der die digitalen Möglichkeiten passend integriert sowie das Leistungs- und Serviceangebot bedarfsgerecht erweitert. Ziel muss es dabei sein, Strate- gien und Maßnahmen zu entwickeln, welche die Mehrwerte der Digitalisierung für Kun- den herausstellen. Dabei gilt es zu beachten, dass sich durch die fortschreitende Digitali- sierung die Anzahl potenzieller Kontaktpunkte vervielfacht hat. Während Konsumenten beim Einkauf klassischer Konsumgüter immer öfter das Showrooming-Verhalten an den Tag legen, lässt sich bei Kaufentscheidungen für Versicherungsprodukte häufig der ROPO-Effekt (Research online purchase offline) beobachten. In der Phase vor dem Ab- schluss eines Versicherungsvertrages ist die Bereitschaft, sich ohne Beteiligung des Ver- mittlers zu informieren, relativ hoch. Fast jeder Zweite nutzt dazu Onlineangebote. Aller- dings erfolgt der Abschluss danach in der Regel analog über den Vermittler. Die Relevanz und Tragweite der endgültigen Entscheidungsfindung führen dazu, dass ein Versiche- rungsabschluss selten ohne persönliche Beratung abgewickelt wird. Hierbei zeigt sich, dass in der Versicherungsbranche zunehmend der hybride Kunde an Bedeutung gewinnt.

Dieser zeichnet sich durch eine Offenheit gegenüber neuen Medien und Digitalisierungs- trends aus, da der Zugewinn an Flexibilität und Erreichbarkeit eine zeitliche Entlastung ermöglicht.49

Eine Reaktion auf diese Entwicklung kann im Umbau der Unternehmensstrategie zu einer simultan-hybriden Wettbewerbsstrategie liegen. Dies bedeutet, dass sämtliche bedeutsa- men Kommunikationskanäle genutzt werden, um mit dem Kunden in Kontakt zu treten. Dabei kann der Kunde zu jeder Zeit seinen präferierten Kommunikationskanal auswäh- len. Eine solche Strategie muss darauf ausgerichtet sein, durch eine Kombination aus di- gitaler und persönlicher Beratung positive Kundenerlebnisse zu schaffen, Daten wert- schöpfend zu generieren und die Prozesseffizienz zu verbessern. Versicherungsunterneh- men, denen es gelingt, für ihre Kunden einen spürbaren dauerhaften Nutzen anzubieten, erlangen einen strategischen Wettbewerbsvorteil, der wiederum mit einer tendenziell grö- ßeren Kundenzufriedenheit einhergeht.50

Allerdings ist für eine erfolgreiche digitale Kundenintegration nicht nur die Digitalisie- rung einzelner Kontaktpunkte mit dem Kunden entscheidend, sondern die Ausgestaltung und das Management der gesamten sog. Customer Journey.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Customer Journey

Quelle: Oliver Wyman, Versicherungsvertrieb 2020. Die Vertriebsmodelle der Zukunft digital gestalten 2015, S. 5.

Die Customer Journey beschreibt die gesammelten Erfahrungen, welche ein bestehender oder potenzieller Kunde über die verschiedenen Kontaktpunkte mit einem Unternehmen hat. Die Verknüpfung stationärer und digitaler Vertriebskanäle sowie der systematische Einsatz digitaler Technologien zeichnen eine effektive Customer Journey aus. Ziele sind sowohl eine einheitliche Kundenwahrnehmung, die nahtlos über alle Kanäle integrierte Unternehmensleistungen (sog. Cross Channel Experience) verbindet, als auch die Option des Kunden, im Kauf- bzw. Vertriebsprozess zwischen den Kanälen zu wechseln. Infor- mationen und Kundeninteraktionen werden bewertet, Kunden automatisiert weitergelei- tet und mit zielführenden Informationen versorgt, sodass der einzelne Vertriebskanal aus Kundensicht bei der Kaufentscheidung nicht mehr relevant ist.51

Eine erfolgreiche Customer Journey bedeutet für Krankenversicherungen, die aus den Umweltentwicklungen resultierende tendenziell sinkende Loyalität von Vertragspartnern durch geeignete Maßnahmen zu kompensieren. IT-Anwendungen und Customer relati- onship management Software fungieren als Werkzeuge, um durch passende Kommuni- kationsmittel eine langfristige Kundenbindung zu gewährleisten. Durch das gesammelte Kundenwissen sollen die Aktivitäten des Unternehmens konsequent an den individuellen Bedürfnissen des jeweiligen Kunden ausgerichtet werden. Dabei ist zu beachten, dass der Digitalisierungsgrad der Kundenschnittstelle kompatibel mit dem digitalen Reifegrad der Kunden oder eines Kundensegments ist. Deswegen ist ein maximaler Digitalisierungs- grad nicht das ausschließliche Ziel. Traditionelle Kommunikationskanäle können jedoch durch entsprechende Onlinekanäle wie etwa Videoberatung, Chatbots oder Messenger- Dienste ergänzt werden.52

[...]


1 Schmidt, Überlegene Geschäftsmodelle. Wertgenese und Wertabschöpfung in turbulenten Umwelten, 2015, S. 6.

2 Leyh/Spieleder, Digitalisierung nutzen-Mehrwerte für Kunden, Vertriebspartner und das Unternehmen schaffen. In: Digital Insurance, 2018, S. 183.

3 Esser, Versicherungen und der digitale Kunde. Chancen und Risiken für InsurTechs, 2018, S. 17.

4 Lünendonk & Hossenfelder GmbH, Versicherungen in der Zeitfalle. Wie die digitale Transformation ge- lingt und das Spannungsfeld aus Innovation und IT-Modernisierung aufgelöst wird, 2018, S. 3.

5 Mußhoff, Jenseits des Hypes-wo die digitale Transformation der Versicherer steht und wie es weitergeht. In: Digital Insurance, 2018, S. 206.

6 Prestin/Schmidt, Alles Leibnitz-das digitale Ökosystem der privaten Krankenversicherung. In: Digitali- sierung im Gesundheitswesen, 2018, S. 23.

7 Ethikrat, Big Data und Gesundheit-Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung. Stellung- nahme, 2017, S. 18.

8 Pöll, 2018, #DigitAAAHlisierung-eine persönlich-kritische Würdigung in vier Thesen. In: Digital Insu- rance, S. 8.

9 Esser, Versicherungen und der digitale Kunde. Chancen und Risiken für InsurTechs, 2018, S. 81.

10 Esser, Versicherungen und der digitale Kunde. Chancen und Risiken für InsurTechs, 2018, S. 20.

11 Oliver Wyman, Zukunft von Insurtech in Deutschland, 2016, S. 9.

12 Beenken, Digitalisierung der Versicherungsbranche-ein Muss oder ein Hype?,In: Digital Insurance 2018, S. 166.

13 Esser, Versicherungen und der digitale Kunde. Chancen und Risiken für InsurTechs, 2018, S. 7.

14 https://www.all-about-security.de/security-artikel/management-und-strategie/single/auswirkungen-von- kritisvdsgvo-auf-die-gesetzlichen-krankenver/

15 Beenken, Digitalisierung der Versicherungsbranche-ein Muss oder ein Hype?In: Digital Insurance, 2018, S. 163.

16 Beenken, Digitalisierung der Versicherungsbranche-ein Muss oder ein Hype?In: Digital Insurance, 2018, S. 165.

17 Swisscom, Die digitale Transformation von Geschäftsprozessen. Erfolgsfaktoren und Empfehlungen für die Umsetzung, 2016, S. 5.

18 Adcubum/Versicherungsforen Leipzig, Assekuranz 4.0-Versicherungen im digitalen Dreieck. Wie sich das Geschäftsmodell Versicherung in seinen Produkten, Prozessen und Arbeitswelten verändern wird, 2018, S. 71.

19 Braun/Schreiber, Disruption oder Evaluation. In: Insurance & Innovation. Ideen und Erfolgskonzepte von Experten aus der Praxis, 2018, S. 151.

20 Esser, Versicherungen und der digitale Kunde.Chancen und Risiken für InsurTechs, 2018, S. 7.

21 Oliver Wyman, Zukunft von Insurtech in Deutschland, 2016, S. 11.

22 Beenken, Digitalisierung der Versicherungsbranche-ein Muss oder ein Hype? In: Digital Insurance, 2018, S. 167.

23 Botzkowski, Digitale Transformation von Geschäftsmodellen im Mittelstand. Theorie, Empirie und Handlungsempfehlungen, 2018, S. 22f.

24 Eckert, Business Model Prototyping. Geschäftsmodellentwicklung im Hyperwettbewerb. Strategische Überlegenheit als Ziel, 2014, S. 263.

25 Kalinowski/Verwaayen, DigITalisierung-quo vadis? In: Digitalisierung und Innovation. Planung-Entste- hung-Entwicklungsperspektiven, 2013, S. 489.

26 Jodlbauer, Digitale Transformation der Wertschöpfung, 2018, S. 16.

27 Botzkowski, Digitale Transformation von Geschäftsmodellen im Mittelstand. Theorie, Empirie und Handlungsempfehlungen, 2018, S. 24.

28 Prestin/Schmidt, Alles Leibnitz-das digitale Ökosystem der privaten Krankenversicherung. In: Digitali- sierung im Gesundheitswesen, 2018, S. 22.

29 Schilling/Herold, Digitalisierung in der Industrieversicherung-Im Spannungsfeld zwischen Automatisie- rung und Individualisierung. In: Insurance & Innovation. Ideen und Erfolgskonzepte von Experten aus der Praxis 2018, S. 105.

30 Botzkowski, Digitale Transformation von Geschäftsmodellen im Mittelstand. Theorie, Empirie und Handlungsempfehlungen, 2018, S. 23.

31 Botzkowski, Digitale Transformation von Geschäftsmodellen im Mittelstand. Theorie, Empirie und Handlungsempfehlungen, 2018, S. 2.

32 Botzkowski, Digitale Transformation von Geschäftsmodellen im Mittelstand. Theorie, Empirie und Handlungsempfehlungen 2018, S. 24.

33 Schmidt, Überlegene Geschäftsmodelle. Wertgenese und Wertabschöpfung in turbulenten Umwelten 2015, S. 1.

34 Hölzle et al, Big Data und technologiegetriebene Geschäftsmodellinnovation. In: Digitale Transforma- tion von Geschäftsmodellen. Grundlagen, Instrumente und best practices, 2017, S. 358.

35 Kreutzer, Treiber und Hintergründe der digitalen Transformation. In: Digitale Transformation von Ge- schäftsmodellen. Grundlagen, Instrumente und best practices, 2017, S. 33.

36 Botzkowski, Digitale Transformation von Geschäftsmodellen im Mittelstand. Theorie, Empirie und Handlungsempfehlungen, 2018, S. 2.

37 Botzkowski, Digitale Transformation von Geschäftsmodellen im Mittelstand. Theorie, Empirie und Handlungsempfehlungen 2018, S. 26.

38 BMWI, Industrie 4.0 und digitale Wirtschaft. Impulse für Wachstum, Beschäftigung und Innovation 2015, S. 3.

39 Capgemini, Digital transformation: A roadmap for billion-dollar organizations, 2011, S. 5.

40 PWC, Weiterentwicklung der ehealth Strategie. Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Ge- sundheit, 2016, S. 22.

41 Roland Berger strategy consultant & Bundesverband der deutschen Industrie, Die digitale Transforma- tion der Industrie. Was sie bedeutet. Wer gewinnt. Was jetzt zu tun ist, 2015, S. 6.

42 Schallmo/Rusnjak, Roadmap zur digitalen Transformation von Geschäftsmodellen. In: Digitale Trans- formation von Geschäftsmodellen. Grundlagen, Instrumente und best practices, 2017, S. 7.

43 Prestin /Schmidt, Alles Leibnitz-das digitale Ökosystem der privaten Krankenversicherung. In: Digitali- sierung im Gesundheitswesen, 2018, S. 22.

44 Beenken, Digitalisierung der Versicherungsbranche-ein Muss oder ein Hype? In: Digital Insurance, 2018, S. 175.

45 Appelfeller/Feldmann, Die digitale Transformation des Unternehmens. Systematischer Leitfaden mit zehn Elementen zur Strukturierung und Reifegradmessung, 2018, S. 35.

46 Lautenbacher/ Will, Digitale Kollaboration als Schlüssel für mehr Erfolg, Wachstum und Kundenorien- tierung im Versicherungsvertrieb 4.0. In: Digital Insurance, 2018, S. 133.

47 Accenture strategy, Capturing the insurance customer of tomorrow. Three key questions to guide success, 2015, S. 2.

48 Esser, Versicherungen und der digitale Kunde. Chancen und Risiken für InsurTechs, 2018, S. 20.

49 Leyh/Spieleder, Digitalisierung nutzen-Mehrwerte für Kunden, Vertriebspartner und das Unternehmen schaffen. In: Digital Insurance, 2018, S. 182f.

50 Knörrer et al., Smartes Datenmanagement als Wettbewerbsvorteil auf dem Weg zum Versicherungsver- trieb X.0. In: Digital Insurance, 2018, S. 644.

51 Appelfeller/Feldmann, Die digitale Transformation des Unternehmens. Systematischer Leitfaden mit zehn Elementen zur Strukturierung und Reifegradmessung, 2018, S. 36ff.

52 Appelfeller/Feldmann, Die digitale Transformation des Unternehmens. Systematischer Leitfaden mit zehn Elementen zur Strukturierung und Reifegradmessung, 2018, S. 41.

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Perspektiven und Grenzen der Digitalisierung in der Gesundheitsversicherungswirtschaft
Hochschule
Hochschule Ludwigshafen am Rhein
Note
1,7
Autor
Jahr
2019
Seiten
86
Katalognummer
V888571
ISBN (eBook)
9783346183422
ISBN (Buch)
9783346183439
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Digitalisierung, Krankenversicherung, Versicherungswirtschaft, Datenschutz, Ethik, Prozessmanagement
Arbeit zitieren
Marius Kaltwasser (Autor:in), 2019, Perspektiven und Grenzen der Digitalisierung in der Gesundheitsversicherungswirtschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/888571

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