Ethische Existenz

Karl Jaspers Menschenbild als Beitrag zu Hans Küngs "Projekt Weltethos"


Magisterarbeit, 2005

112 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I: Geschichte und Gegenwartssituation von Mensch und Welt und die Notwendigkeit des Weltethos
1. Die Achsenzeit - ein epochaler Paradigmenwechsel
1.1. Die Kumulation der Bewußtseinsentwicklung in der Achsenzeit
1.2. Die geschichtlichen Auswirkungen der Achsenzeit
2. Die Jetztzeit - ein globaler Paradigmenwechsel
2.1. Die wesentlichen Ursachen des derzeitigen Paradigmenwechsels
2.2. Parallelen der Achsenzeit zur Postmoderne
3. Perspektiven der Zukunft

Teil II: Der Mensch zwischen Welt und Transzendenz - Zu Karl Jaspers Menschenbild
4. Die Frage nach dem Sein des Menschen
4.1. Die Weisen des Seins im Raume des Umgreifenden
4.1.1. Zum Begriff des Umgreifenden
4.2. Das Umgreifende als das Sein an sich
4.3. Das Umgreifende, das der Mensch ist
4.3.1. Die objektiven Weisen des Menschseins
4.3.2. Die Existenz als mögliche Seinsweise des Menschen
4.4. Die Vernunft als Bindeglied und das Beziehungsgeflecht der Weisen des Umgreifenden
5. Die Möglichkeiten des existentiellen Seins des Menschen
5.1. Freiheit als Grundbedingung existentieller Entfaltung
5.1.1. Freiheit als Wille, Wahl und Entschluß
5.1.2. Freiheit und Notwendigkeit
5.1.3. Freiheit zum Du
5.2. Das Zu-sich-selbst-Kommen in der Kommunikation
5.2.1. Die objektiven Weisen der Kommunikation
5.2.2. „Einsamkeit“ und „liebender Kampf“ - Zu Problematik und Prozeß der existentiellen Kommunikation
5.2.3. Grenzenlose Kommunikation als Weg zum Menschen oder: Kommunikation aus dem „philosophischen Glauben“
5.3. Das Sich-selbst-Verwirklichen in den Grenzsituationen
5.3.1. Das Erfahren der Existenz in der Grenzsituation „Tod“

Teil III: Der Mensch als „ethische Existenz“ - Karl Jaspers´ Ethikverständnis in Auseinandersetzung mit Hans Küngs „Projekt Weltethos“
6. Die ethische Lebenshaltung des existentiellen Menschen
6.1. Das Prinzip des Unbedingten im existentiellen Sein des Menschen
6.1.1. Das unbedingte Sein des existentiellen Menschen
6.1.2. Das ethische Bewußtsein des existentiellen Menschen
6.2. Ethisches Handeln als „existentielles Sollen“
6.2.1. Das Beispiel der Lüge
7. Ethische Existenz und die Moral der Religionen
7.1. Philosophischer Glaube und Offenbarungsglaube - Eine ethische Kontroverse
7.1.1. Die Begründung des ethisch Unbedingten aus einem philosophischen Glauben und aus dem Offenbarungsglauben
7.1.2. Das Unbedingte aus deontologischer und teleologischer Perspektive und die Rolle der Vernunft im religiösen Denken
7.2. Kategorien moralisch-sittlichen Verhaltens aus ethischer Existenz
7.2.1. Die Stufenfolge ethisch-sittlichen Handelns im Verhältnis von Gut und Böse
7.2.2. Möglichkeiten moralisch-sittlichen Verhaltens aus ethischer Existenz
7.3. Die Goldene Regel als handlungsleitendes Prinzip
7.3.1. Die Mehrdeutigkeit der Goldenen Regel
7.3.2. Die Frage der Akzeptanz der Goldenen Regel

Schlußbetrachtung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Immer wieder flammt seit Jahren die Rede von einer neuen Religiosität auf, und tatsächlich scheint die gegenwärtige Weltlage einen solchen Trend, wenngleich in negativer Weise, zu bestätigen. Als Antwort auf Terror und Gewalt im Namen der Religion wird neuerdings von der Gegenseite mit ebensolcher religiös begründeten Aggression und fundamentalistischen Haßparolen reagiert mit der Folge von Krieg, Zerstörung, Leid und Tod von Tausenden unbeteiligter Menschen. Weil aber die Menschheit „hoffnungslos religiös“ zu sein scheint, ist es für die Mächtigen dieser Welt oftmals ein Leichtes, die Menschen für ihre eigenen Machtinteressen einzuspannen, sie mit religiös verbrämten Aussagen in falscher Sicherheit zu wiegen und dem menschlich-allzumenschlichen wie auch nationalen Ideal von eigener Größe und Geltung mit heroisch-prophetischen Aufrufen zu entsprechen. Auf die Wahrheit kommt es dabei so genau nicht an, der Zweck heiligt die Mittel, und mit unheiligen Lügen können offensichtlich ohne große Probleme Kriege angezettelt werden, so lange der Glaube an das eigene Sendungsbewußtsein und die Überzeugung von der Allmacht des eigenen Wertebewußtseins mehrheitsfähig ist und jedwede vernünftige Argumentation an einem geschönten und religiös überhöhten Weltbild abprallen muß.

Ist es angesichts einer derartigen Weltsituation nicht dringend geboten, nach Mitteln und Wegen der Verständigung zu suchen und nach Möglichkeiten, dem Zusammenschluß von religiösem Eiferertum und politischen und ökonomischen Machtinteressen entgegenzuwirken, indem man sich auf vernünftige Weise auf das geistig-religiöse Erbe der Menschheit verständigt, sich der Gemeinsamkeiten bewußt wird und dies für Frieden in der Welt und zum Wohl der Menschheit frucht-bringend einsetzt?

Eben solchem Bemühen um Frieden und Verständigung ist Hans Küngs „Projekt Weltethos“[1] gewidmet. Es ist eine Rückbesinnung auf die positive Funktion von Religion, Menschen zu einem friedlichen Zusammenleben zu befähigen durch ein Ernstnehmen der ethischen Perspektiven in den Weltreligionen als Grundorientierung für menschliches Verhalten und eine friedliche und gerechte Weltordnung, zusammengefaßt in einem verbindenden Menschheitsethos, einem Weltethos. Dabei ist nicht an eine Einheitsreligion für die Welt gedacht, vielmehr sind die geschichtlich gewachsenen Besonderheiten der einzelnen Religionen zu achten und ihre Wirklichkeit für das Leben der Menschen zu respektieren. In einem Dialog zwi-schen den Religionen soll es darum gehen, die Prinzipien des Weltethos mit ihrer Grundforderung nach einer menschengemäßen Behandlung jedes Einzelnen und den diese Grundforderung ergänzenden sog. Vier unverrückbaren Weisungen mit ihrem Richtlinienkatalog zum Verhalten der Menschen als kleinsten gemeinsamen Nenner anzuerkennen und nach Strukturen und Handlungsmöglichkeiten zu suchen, in denen diese Regeln umgesetzt werden und ihre Gültigkeit erweisen können. In einer „Erklärung zum Weltethos“[2], erarbeitet vom Parlament der Weltreligionen im Jahr 1993, heißt es dazu: „Deshalb verpflichten wir uns auf dieses Weltethos, auf Verständnis füreinander und auf sozialverträgliche, friedensfördernde und naturfreundliche Lebensformen.“ Und im Jahr 1999 kam es folgerichtig vom Parlament der Weltreligionen zu einem „Aufruf an unsere führenden Institutionen“ als einer Einladung, sich diesem Dialog nicht zu verschließen, der als sehr erfolgreich betrachtet werden kann angesichts seiner Verbreitung und Kenntnisnahme durch führende Vertreter nicht nur der Religionen, sondern insbesondere auch der Politik, der Wirtschaft und Wissenschaft weltweit bis hin zu den Vereinten Nationen.

Sicherlich ist dieser „Appell zu einem aktiven, anhaltenden Dialog über die Schaf-fung einer gerechten, friedlichen und nachhaltigen Zukunft zum Wohl der ganzen Weltgemeinschaft“[3] mit seiner Kernforderung nach einer Konkretisierung des Welt-ethos als Schritt in die richtige Richtung zu werten. Doch ist auch zu fragen, ob Aufrufe allein, selbst wenn sie einen Prozeß der Weiterarbeit in bestimmten Ziel-gruppen und Aktionsfeldern wie der Forschung und Erziehung in Gang setzen, genügen, oder ob es zur Verwirklichung des Weltethos nicht grundsätzlich eines „neuen Menschen mit einem neuen Bewußtsein“ bedarf. Hans Küng selbst gibt eine Teilantwort: „Der Mensch muß mehr werden, als er ist: er muß menschlicher werden “, und sein „menschliches Potential“ soll er „für eine möglichst humane Gesellschaft und intakte Umwelt anders ausschöpfen, als dies bisher der Fall war“[4]. Und in der „Erklärung zum Weltethos“ heißt es ergänzend: „Die Erde kann nicht zum Besseren verändert werden, wenn sich nicht das Bewußtsein der Einzelnen zuerst verändert.“[5] Doch wie soll dieser „neue Mensch“ beschaffen sein und wie kommt er zu seinem „neuen Bewußtsein“? Welches Menschenbild kann für eine solche Veränderung des Bewußtseins stehen?

Die Suche nach einer möglichen Antwort soll die zentrale Fragestellung dieser Arbeit bilden und im Folgenden mit Hilfe von Karl Jaspers philosophischen Überlegungen zum Thema aufgenommen werden.

Teil I: Geschichte und Gegenwartssituation von Mensch
und Welt und die Notwendigkeit des Weltethos

Die Frage nach möglichen Bedingungen von Bewußtseinsveränderung und der Entwicklung von Menschenbildern mag mit einem Blick in die Geschichte beginnen, denn alles Menschsein verwirklicht sich nach Karl Jaspers in der Geschichte.

Betrachtet man den Geschichtsverlauf als eine „Idee der Einheit des Ganzen der Geschichte“, wie Karl Jaspers dies tut, dann können sowohl Einmaligkeiten der Weltgeschichte wie auch eine „Kontinuität des Menschseins“ durch die Wirklichkeit des Weltseins erkennbar werden.[6]

1. Die Achsenzeit - ein epochaler Paradigmenwechsel

Neben den empirischen Tatsachen, die das historische Bewußtsein prägen, haben sich Menschen immer auch Bilder von einem Weltganzen gemacht, seien es kosmologische oder theologische Entwürfe, mit denen sie sich ihr Woher und Wohin und die Fragen nach ihrem Erdensein zu erklären versuchten. Doch die Kumulation der Ereignisse in der Achsenzeit, jener herausragenden Epoche zwischen 800 und 200 v. Chr. mit ihrem Höhepunkt um etwa 500 als der eigentlichen Achsenzeit beschreibt Jaspers folgendermaßen: „In der Achsenzeit erwuchs das Selbstbewußtsein des Menschen...Aber der Mensch erfuhr durch seinen höchsten Aufschwung erst seine ganze Not, die Einsicht in seine Unvollendung und seine Unvollendbarkeit. Das Ziel war Erlösung.“[7] Die Welt schien im Bewußtsein der Menschen immer verwirrender zu werden, denn die unendlichen geistigen Möglichkeiten entwickelten sich in einer machtpolitisch zersplitterten Welt und der freie Geisteskampf hatte auch seinen Preis. Wie kam es zu dieser Situation?

1.1. Die Kumulation der Bewußtseinsentwicklung in der Achsenzeit

Es ist tatsächlich auffällig, daß etwa gleichzeitig um das 5. Jahrhundert v. Chr. sowohl in China als auch in Indien und im vorderasiatisch-hellenistischen Kultur-raum bedeutende Männer auftraten, deren philosophische Konzeptionen zu einer allgemeinen Veränderung des Bewußtseins von einem mythisch-dumpfen Empfinden zu einer geistigen Helle und Klarheit führten und zu einem Denken, aus dem die Menschheit bis heute lebt. „Es geschah in der Achsenzeit das Offenbarwerden dessen, was später Vernunft und Persönlichkeit hieß“, eingeleitet in China durch Laotse und Konfuzius, in Indien durch Buddha und in Griechenland durch Parmenides, Heraklit oder Platon, deren Lehren trotz aller Unterschiede in der persönlichen Gesinnung und den kulturellen Bedingheiten gemeinsam ist, „daß der Mensch über sich hinausgreift, indem er sich seiner im Ganzen seines Seins bewußt wird, und daß er Wege beschreitet, die er als je Einzelner zu gehen hat“.[8]

Wie Platon in seinem Höhlengleichnis den Weg aufzeigt, auf dem der Mensch aus der dunklen „Höhle“ seiner bloß sinnlichen Welt durch Mut und Tapferkeit heraus-findet und zu den lichten Höhen denkerischer Klarheit und Wahrheit gelangt, und wie er dies literarisch in Form der dialektischen Auseinandersetzung und im Dialog als Mittel der Verständigung und philosophischer Wahrheitsfindung versuchte, so haben sich andere, wie vielfach die asiatischen Denker, in Einsiedeleien zurückge-zogen, dort einsam und allein ihre inneren Kämpfe ausgefochten und schließlich zu ihrem eigentlichen Sein gefunden, das sie nach ihrer Rückkehr in die Welt lehrend oder predigend den Menschen nahe zu bringen versuchten. Doch diese Lehren zielten nicht nur auf ein Innewerden und Bewußtmachen der eigenen Geistigkeit, sondern man besann sich auch auf Bildung und Kulturentwicklung und darauf, „auf welche Weise die Menschen am besten zusammen leben, verwaltet und regiert werden“[9] und wie sie im Kampf mit den Göttern bestehen können, statt ihnen ausgeliefert zu sein. Platon entwickelte so seine Staatsphilosophie und versuchte damit, den Tyrannen von Sizilien im Sinne des Guten zu beeinflussen, doch er scheiterte mit diesem Ansinnen ebenso wie Konfuzius am kaiserlichen Hof in China.

1.2. Die geschichtlichen Auswirkungen der Achsenzeit

Schon in der Achsenzeit zeigte sich, daß die Mehrzahl der Menschen dem geistigen Aufschwung der Einzelnen nicht folgen konnte und in ihrer Entwicklung zurück blieb. Während einzelne Individuen sich aus der „Ursprungseinheit“[10] eines weitgehend unbewußten und unselbständigen Kollektivbewußtseins zu lösen begannen und sich zu den höchsten Möglichkeiten des Menschseins und Denkens aufschwingen konnten, verblieben die meisten in einem dumpfen Gruppenbewußtsein und fügten sich in vorgelebten Verhaltensweisen und vorgegebenen Regeln einer Gruppenidentität, in der sie zwar weiterhin eine gewisse Sicherheit und Geborgenheit fanden, gleichzeitig aber ihre Freiheit sowohl bezüglich ihrer persönlichen Entwicklung als auch hinsichtlich ihres bürgerlichen Freiraumes preisgaben.

Die Achsenzeit war also keineswegs gekennzeichnet durch eine einheitliche, aufsteigende und stetig weiterführende Entwicklung des Menschseins und einer entsprechenden staatlichen Ordnung, wie sie von einzelnen Denkern entfaltet worden war. Die alten Hochkulturen hatten ihre eigene Gestalt verloren und waren in den drei Zentren der Achse aufgegangen, was nicht ohne Schwierigkeiten und Verunsicherung der betroffenen Volksgemeinschaften vor sich gegangen war. Am Ende war es der Reichsgedanke, ursprünglich das kulturschöpfende Prinzip der alten Hochkulturen, der als „Prinzip der Einsargung und Stabilisierung“ in bewußt despotischer Weise benutzt wurde, um „die beunruhigende Verwandlung der Menschheit in der Achsenzeit“ vergessen zu machen und Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.[11] Karl Jaspers schreibt: „Als das Schöpfertum dem Zeitalter verloren ging, geschah in den drei Kulturbereichen die Fixierung von Lehrmeinungen und die Nivellierung. Aus der unerträglich werdenden Unordnung erwuchs der Drang zu neuer Bindung in der Wiederherstellung dauernder Zustände.[12]

Die politische Folge war, daß durch Kriegszüge und Eroberungen in China, Indien und ebenso im hellenistischen Kulturraum Großreiche entstanden, die über lange Zeit Stabilität verhießen und doch auch wieder zerfielen, wie die Geschichte zeigt. Die folgenden zweieinhalb Jahrtausende kam es zu mehr oder weniger gravierenden Umbrüchen und die Geschichte blieb wechselhaft, „aber in einem neuen Sinn, nämlich noch ohne die Spannung zum Geiste, der in der Achsenzeit erwachsen ist und von daher ständig wirksam wurde, indem er allem menschlichen Tun eine neue Fragwürdigkeit und Bedeutung gab“[13]. Weil die Bewußtseinsentwicklung nicht hinter die einmal erreichte Stufe zurückfallen kann und der Stand einzelner Individuen auf alle zurückwirkt und sie indirekt mit verändert[14], ist uns seither nicht nur die Zwiespältigkeit unseres Menschseins bewußt, sondern es wurden damals auch „die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. In jedem Sinne wurde der Schritt ins Universale getan“[15].

2. Die Jetztzeit - ein globaler Paradigmenwechsel

Auch heute leben wir in einer Zeit der Veränderung und Wandlung, die einhergeht mit einer fundamentalen Krise der menschlichen Lebensverhältnisse und weltweiten Kontroversen bezüglich Politik, Wirtschaft, Wissenschaft , Kultur, Umwelt und nicht zuletzt Religion. Wir leben in einer Wendezeit, aber auch im Aufbruch zu einem neuen Bewußtsein?

Obwohl der Gedanke von universalen Rhythmen der Geschichte schon mehrfach formuliert wurde[16], scheint jetzt ein globaler Epochenumbruch im Gang zu sein, der verschiedentlich unter der Bezeichnung „Postmoderne“ zusammengefaßt wird[17].

2.1. Die wesentlichen Ursachen des derzeitigen Paradigmenwechsels

Je nach Betrachtung der faktischen oder geistigen Zusammenhänge kann der Beginn des „geschichtlichen Anderswerdens“[18] der Jetztzeit unterschiedlich gesehen werden. So sind es die Entwicklungen in Wissenschaft und Technik, die schon seit dem 17. Jahrhundert die Lebensverhältnisse besonders in der westlichen Hemisphäre nachhaltig verändert und in vielem unbestreitbar zum Besseren gewendet haben. Letztendlich führte dieser scheinbare Fortschritt jedoch in eine Krise, die durch „ technologische Grenzerfahrungen“[19] wie die fragwürdigen Erfolge der Atom-kraft, der Gentechnik, dem medizintechnisch Machbaren oder der inzwischen weltumspannenden Kommunikationstechnologie gekennzeichnet ist, das Leben auf der Erde gravierend verändert hat und die Existenz des Menschen auf dem gesamten Globus zu vernichten droht.

Dieser Wandel führte in der Folge auch zu einer Verschiebung der politischen Machtverhältnisse, und auf Imperialismus und Kolonialismus als Zeichen eines rücksichtslosen Machtstrebens der sich rasch entwickelnden europäischen Staaten folgte um die Zeit der „welthistorischen Wasserscheide von 1918“ der Zusammenbruch des deutschen Kaiser- und des russischen Zarenreiches und damit auch der Untergang der bürgerlichen Gesellschaft und der eurozentrierten Welt.[20] Im weiteren und als Folge des Zweiten Weltkriegs kam es zu Verwerfungen der politischen Einflußsphären mit einer Spaltung in Ost und West und im Zuge der wirtschaftlichen Erfolge des kapitalistisch orientierten Westens auch zu einem Auseinanderdriften in eine Erste und eine Dritte Welt mit den sich im Aufbruch befindlichen Schwellenländern dazwischen.

Doch so tiefgreifend die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften und die Auswirkungen politisch-wirtschaftlicher Macht auch waren und wie einschneidend sie das Leben der Menschen verändert haben, „dieses Neue war keineswegs ein geistig neues Menschsein“, wie Karl Jaspers befindet[21]. Der geistige und gesellschaftliche Wandel seit dem 17. Jahrhundert versprach zwar zunächst den Auf-bruch in eine bessere und menschlichere Zukunft, aber schon die französische Revolution, begonnen „in dem Bewußtsein, durch die Vernunft das Dasein aus

der Wurzel umzuschaffen“ und dem Gedanken allgemeingültiger Menschenrechte zum Durchbruch zu verhelfen, verkehrte sich in ihr Gegenteil und „[d]er Wille zur Herstellung menschlicher Freiheit wurde zum Terror, der alle Freiheit zerstörte“[22].

Die Aufklärung als europäische Geistesbewegung des 18. Jahrhunderts hatte das

Vernunftdenken als dem eigentlichen Wesen des Menschen zugehörig und ein Leben nach natürlichen und vernünftigen Grundsätzen, befreit von kirchlicher Bevormundung und im Streben nach Toleranz und dem Glauben an den Fortschritt der Menschheit, wohlmeinend propagiert. Die Umsetzung dieses Vernunftglaubens scheiterte jedoch bereits während der französischen Revolution an der irrigen Vor-stellung, „die Welt im Ganzen auf Vernunft gründen zu wollen, statt mit Vernunft die geschichtlichen Bindungen, die Autorität und Ordnung der Werte ohne Gewalt zu verwandeln“, wie Karl Jaspers die zweifelhaften Errungenschaften von Aufklärung und französischer Revolution beurteilt.[23] Auch Hans Küng sieht in der Krisensituation unserer Zeit „im Kern die Krise des modernen Vernunftverständnisses“ und folgert: „Die immer mehr sich absolut setzende, alles zur Legitimation zwingende Vernunft (verbunden mit der Freiheit der Subjektivität), die in keinen Kosmos eingebunden ist und der nichts heilig ist, zersetzt sich selbst. Diese analytische Vernunft wird heutzutage von einem ganzheitlichen Ansatz her hinterfragt und ihrerseits zur Legitimation gezwungen.“[24]

Wie aktuell diese Prognosen sind, scheint die jüngste Wertedebatte, ausgelöst durch die politische Entfremdung zwischen Europa und Amerika und dem Kultur-kampf in den USA selbst, in zugespitzter Weise zu bestätigen. So stellte der amerikanische Politikwissenschaftler Alan Wolfe vor kurzem fest: „Es gibt aber ernsthafte Stimmen, die fragen, ob die Welt im 18. Jahrhundert, als sie sich der menschlichen Vernunft verschrieb, die richtige Wende vollzog.“[25] Zur Legitimation gezwungen wird die Vernunft in dieser Auseinandersetzung allerdings nicht durch ein sinnstiftendes und versöhnendes ganzheitliches Konzept, das die gegenläufigen Strömungen von aufklärerischer Vernunft und religiösem Konservatismus wieder verbinden und die inneramerikanische Spaltung ebenso überwinden würde wie die wachsende Kluft zwischen alter und neuer Welt. Vielmehr ist nach Wolfe zu vermuten, „daß Europa seine aufklärerischen Prinzipien bekräftigt, während die Amerikaner diese in Frage stellen“, und dabei stehen möglicherweise zwei völlig unterschiedliche Formen hochentwickelter Gesellschaften auf dem Spiel.[26]

Gerade deshalb kann es aber auch keine einfachen Antworten auf die schwierige Frage nach einem tragfähigen geistigen Fundament für eine neue Weltgesellschaft geben. Zwar wächst das Bedürfnis nach Spiritualität in dieser politisch und wirt-schaftlich unsicheren und von Terror bedrohten Umbruchzeit weltweit, doch Glauben und Vernunft, Religion und Aufklärung müssen sich nicht ausschließen, wie unsere europäische religiös-politische Tradition zeigt und der interreligiöse Dialog beweist.

Vor mehr als einem Jahrzehnt aber diagnostizierte Hans Küng die Krise der führenden Großmacht USA als eine „moralische Krise des Westens überhaupt“, entstanden infolge der „Zerstörung jeglicher Traditionen, eines umgreifenden Lebenssinnes, unbedingter ethischer Maßstäbe und Mangel an neuen Zielen“[27]. Die Situ-ation ist unübersichtlich geworden, doch hinzu kommt: Keinesfalls ist mehr die Tat-sache zu übersehen, daß es kein „Draußen“ auf dieser Welt mehr gibt und daß als geschichtlich neue Situation „die reale Einheit der Menschheit auf der Erde“ anerkannt werden muß.[28] „Die Massen werden zu einem entscheidenden Faktor des Geschehens“, konstatierte Karl Jaspers bereits im Jahre 1949[29], und nach Hans Küng ist der globale Paradigmenwechsel, welcher Lebens-, Arbeits-, Kultur- und Staatenwelt umfaßt und bei dem es ganz wesentlich auch um Religion und ein neues Wertebewußtsein geht, „jetzt auch im Bewußtsein der Massen durchgebrochen“[30].

2.2. Parallelen der Achsenzeit zur Postmoderne

Eine Parallele zwischen Achsenzeit und Postmoderne scheint in verschiedener Hinsicht gegeben. Damals verschwanden die alten Kulturen, sie wurden von der Achsenzeit eingeschmolzen oder bestanden nur fort in den Elementen, die von ihr aufgenommen und verwandelt werden konnten und in ihrer Großartigkeit schließlich zu Quellen der abendländischen Kulturgeschichte wurden, wie beispielsweise die frühen hochentwickelten Kulturen Ägyptens und Babyloniens.[31] In unserer multikulturellen Gesellschaft zeichnet sich ebenfalls ein ineinander Aufgehen verschiedener Kulturen ab, und selbst wenn die jeweiligen Kulturkreise zur Erhaltung ihrer Eigenart Freiräume beanspruchen und sie auch zugestanden bekommen, so ist doch eine Angleichung der Lebensverhältnisse in den bereits entwickelteren Staaten und in großstädtischen Bereichen nicht zu übersehen.

Die Achsenzeit endete in politischer Hinsicht mit großen Staatsbildungen, was jedoch für die Mehrzahl der eroberten oder assimilierten Völker Fremdherrschaft bedeutete. Der imperiale Gedanke verwirklichte sich in religiös begründeten Formen, politische Ohnmacht veränderte das Leben und Bewußtsein der Menschen und führte zur Nivellierung des Menschseins in einer Massenkultur.[32] Heute zeichnet sich politisch ein Macht- und Alleingeltungsanspruch der USA als einzig verbliebener Großmacht ab, wobei wie in der Achsenzeit die imperialen Bestrebungen religiös begründet werden, diese Begründungen aber letztlich nur der Verschleierung massiver Herrschaftsansprüche dienen. Und die Amerikanisierung der Welt in ökonomischer Hinsicht wird von den armen Ländern der Welt inzwischen als Einebnung der eigenen kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten und Verführung zum Konsumdenken entlarvt und als nicht geeignet, die Not der Dritt-Welt-Länder wirklich zu lindern.

Gleichzeitig sind aber auch positive Entwicklungen in Richtung einer sich angleichenden Welteinheit zu vermerken, wie es ebenfalls in der Achsenzeit geschah. Wie sich damals etwa unter der römischen Großherrschaft „ein umfassendes Bewußtsein verantwortlicher Staatsführung,...eine hohe Kunst der Verwaltung [und] der Aufbau einer weltumspannenden Autorität“[33] vollzog, so kann Ähnliches heute in den Bestrebungen der Vereinten Nationen gesehen werden. Oder wie das Beispiel eines sich zunehmend vereinigenden Europas zeigt, kommt es heute „durch Verständigung und Vertrag“ zu einer Vereinigung von Staaten, „die einzeln auf ihre Souveränität verzichtet haben...[und] in einer Rechtsordnung der Herrschaft ihren Weg suchen“, wie dies Karl Jaspers schon von der Achsenzeit berichtet. Und solche politisch-geistigen Einheitsbestrebungen vollziehen sich heute wie damals durchaus auch mit philosophischer Unterstützung, wie entsprechende Veröffentlichungen mit der Skizzierung der institutionellen Grundlagen eines föderalen Weltstaates zeigen.[34] Die Frage ist nur, wie es um die Freiheit in solchen zentral regierten Staatsgebilden bestellt sein wird.

Des weiteren: Wie zwischen den drei Welten der Achsenzeit kommt es auch heute wieder zur Begegnung von Kulturkreisen, und es ist „ein gegenseitiges Verständnis bis in die Tiefe möglich“[35], wie allein die Bemühungen der Religionen um ein Weltethos und seine Adaptation in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zeigt. Wie damals wird heute wieder erkannt, „daß es sich beim andern auch um das eigene handelt. Bei aller Ferne geschieht ein gegenseitiges Betroffensein. Zwar gibt es nicht das objektivierbare eine gemeinsame Wahre (das gibt es allein in der methodisch bewußten zwingenden Wissenschaft, welche einer Ausbreitung über die Welt ohne Verwandlung fähig ist, und für die alle zur Mitarbeit berufen sind), aber das eigentlich und unbedingt Wahre, das von uns Menschen geschichtlich aus verschiedenen Ursprüngen gelebt wird, erblickt und hört sich gegenseitig.“[36] Im Dia-log, in einer weltumspannenden Kommunikation wurde und wird die Verständigung gesucht, auch wenn sie damals wie heute durch totalitäre Regime immer wieder unterbunden wird.

Aus dem, was in der Achsenzeit geschah, was damals geschaffen wurde und als rationales Denken bis heute fortwirkt, lebt die Menschheit also tatsächlich bis heute, und nach Karl Jaspers erhielt die Weltgeschichte von der Achsenzeit her auch „die einzige Struktur und Einheit, die durchhält oder doch bis heute durchgehalten hat“[37].

3. Perspektiven der Zukunft

Alles Geschehen ist in der Postmoderne zu einem weltumfassenden Geschehen geworden und unsere „geschichtlich neue, erstmals entscheidende Situation ist die reale Einheit der Menschheit auf der Erde“[38] Insofern kann die Lösung der Probleme nur in einer ganzheitlichen Sicht der Welt und des Menschen in seinen ihm wesenseigenen Dimensionen gesehen werden. Grundlegend im Menschen ist „nun einmal die Bindung an eine Lebensrichtung, an Lebenswerte, an Lebensnormen, an Lebenshaltungen, an Lebenssinn und dies - wenn nicht alles täuscht - transnational und transkulturell“[39], wie es Hans Küng und Karl Jaspers übereinstimmend immer wieder betont haben.

Was Menschen in dieser Situation also brauchen, ist die Kraft aus einem „Unbedingten“[40], einem Absoluten, einem „Umgreifenden“[41], das dem Einzelnen wieder Sinn in seinem Leben geben kann, das aber „auch die Menschennatur, ja die gesamte menschliche Gemeinschaft umfaßt und durchdringt“, etwas, das „in einem vernünftigen Vetrauen angenommen werden kann“[42]. Und dieses Unbedingte wird dann auch geeignet sein, die Herzen der Menschen zu berühren.

Hans Küngs Standpunkt ist klar: „Eine Zeitanalyse, welche die religiöse Dimension ausklammert, ist defizient!“[43] Das Problem ist nur, daß die überlieferten Religionen für viele Menschen unglaubwürdig geworden sind und ihre Offenbarung und ihre Dogmen nicht mehr verstanden werden, weil sie keine Antworten für die alltägliche Lebenswelt mehr bereithalten, und daß Religion heute eine Sache der persönlichen Wahl und selbstgewählten Bindung geworden ist.[44] Die religiösen Zweifel und der Wertezerfall als Spätfolgen von Aufklärung und wissenschaftlich-technischer Revolution sind jedoch nicht grundsätzlich zu verdammen, schließlich hat der technische Fortschritt durch Verkehrsnetze und Nachrichtenübermittlung die materiellen Grundlagen für die Einheit der Erde geschaffen. Die politische Einheit ist vielleicht erstrebenswert und die religiöse Verständigung sicherlich wünschenswert, „aber nicht auf der Grundlage eines Dogmas, sondern auf der Grundlage der menschlichen Offenheit und der Kommunikation“, und in beidem verbirgt sich bei Karl Jaspers immer auch ein religiöser Auftrag.[45]

Für Karl Jaspers ist neben der Frage nach der Werteorientierung unter den Bedingungen des technischen Zeitalters „die eigentliche, die alles bedingende und einschließende Frage der Zukunft, wie und was der Mensch glauben wird“[46]. Die von der Wissenschaft nicht gelösten Aufgaben hinsichtlich einer menschengemäßen und menschenwürdigen Welt sind für Jaspers lösbar, indem der Mensch durch einen Bezug zur Transzendenz das eigene Selbstsein verwirklicht, d. h. durch einen philosophischen Glauben, der dem Leben des durch die Säkularisation geprägten modernen Menschen wieder Sinn und Bedeutung verleiht in einem Gewißwerden dieser Transzendenz und der Möglichkeit, aus ihr heraus zu leben.

Es gilt also, „den Menschen wieder an sich selbst zu erinnern“, weil das, was geschehen wird, nicht durch eine zwingende Antwort, sondern allein durch das Sein des Menschen und durch das, was er lebt, zu sagen ist.[47] Und es gilt, i. S. des Weltethos und mit Karl Jaspers die kantischen und doch schon jahrtausende alten Fragen nach dem, was der Mensch ist und was er wissen, tun und hoffen darf, neu zu stellen.

Teil II: Der Mensch zwischen Welt und Transzendenz -
Zu Karl Jaspers Menschenbild

Der Mensch ist nach Karl Jaspers in jedem Fall „mehr und grundsätzlich anders als irgendein Lebewesen, und er ist mehr als alles, was er von sich erkennt, wenn er sich zum Gegenstand macht in Anthropologie, Psychologie und Soziologie...Er ist vielmehr ein im Sinne bloßen Lebens brüchiges Wesen, das zu dem für ihn Höchsten bestimmt ist, zum Wagnis aus seiner Freiheit“[48]. Doch bei aller dem Menschen zugestandenen äußeren Freiheit und Unabhängigkeit heutzutage bleibt doch die Frage, ob er diese Freiheit auch als innere Freiheit sich selbst gegenüber nutzt, um zu sich selbst zu finden durch alle Zweifel und Unwägbarkeiten des Lebens hindurch und schließlich erkennt, daß er in dieser Welt immer ein Unvollkommener und Unvollendeter bleiben muß. In seinem Streben nach einer Einheit von Selbst und Welt weiß er zwar: „Ich bin für mich verantwortlich“, ist sich aber zugleich gewiß:“[I]ch werde mir doch nur geschenkt, weil dieses Sichselbstwollen noch eines Hinzukommenden bedarf“[49].

Dieses Hinzukommende nennt Jaspers in seiner philosophischen Sprache „Transzendenz“ und meint damit, von aller Vorstellung und allem mythischen Denken befreit das, was wir alltagssprachlich „Gott“ nennen würden. Der Mensch ist ein Zwitterwesen, eingespannt zwischen Immanenz und Transzendenz, bei Jaspers zwischen Existenz und Transzendenz als den beiden Polen, die sein Dasein bestimmen und es zugleich umgreifen. Doch beides „ist nicht Welt“, sondern das, was „dem gesamten Weltsein gegenüber“ ist: „Das Sein, das - in der Erscheinung des Daseins - nicht ist, sondern sein kann und sein soll und darum zeitlich entscheidet, ob es ewig ist.“[50]

Jaspers unterscheidet streng zwischen „Existenz“ und „Dasein“ des Menschen. In seinem alltäglichen Dasein oder Weltsein, in dem bloß gelebten Daseinswillen, ist der Mensch nur „mögliche Existenz“, denn mit Existenz ist im eigentlichen Sinn „eine qualitativ höhere, erfülltere, wesentlichere Seinsweise, die nicht faktisch gegeben, sondern bloß möglich und uns aufgegeben ist“[51] gemeint. Erst im Durchbruch vom Dasein zur Existenz gelangt der Mensch zu seinem Menschsein und Selbstsein und zu dem, was er sein soll als ein wirklich menschlicher Mensch. Doch erst in der Erfahrung der Transzendenz erkennt er jene Wirklichkeit, mit der er sein eigentliches Sein berührt, jenes Sein, „das bestehend, unwandelbar, täuschungslos ist“[52].

4. Die Frage nach dem Sein des Menschen

„Das Sein als solches hat keinen Namen. Und wenn es überhaupt eine Wirklichkeit im begrifflichen Denken hat, dann nur als Unmöglichkeit, als Namenlosigkeit und Scheitern der Prinzipien“ schreibt Jeanne Hersch in Auslegung der Jasperschen Seinsbestimmung[53]. Eine Weise von Sein ist aber dennoch für uns erfahrbar in den realen Dingen, mit denen wir im täglichen Leben umgehen. Zudem aber erkennen wir eine Wirklichkeit in unserem Bewußtsein, die nicht als Gegenständliches in Erscheinung tritt, die wir aber durchaus als real erleben und die wahr wird in unserem Denken und Empfinden und in der Erfahrung - eine transzendente Art von Sein und eine Wirklichkeit, von der wir genau so betroffen sind wie von dem Sein als Wirklichkeit der uns umgebenden Welt. Gemeint ist die Unterscheidung von Sein als Seiendem, das Gegenstand und Erscheinung ist, und dem eigentlichen Sein als dem Einen und Ganzen, das „in einem wissbaren Sinn nicht zu finden“, sondern nur „in seiner Transzendenz zu suchen [ist], zu der kein Bewußt-sein überhaupt, sondern nur jeweils Existenz in Bezug tritt“[54]. Und weil das so ist, kann Ontologie als Lehre vom Sein nach Jaspers nicht mehr länger als Kategorienlehre bestehen, vielmehr ist das Sein nunmehr „als die dem Denken vorkommenden und begegnenden Weisen des Seins bewußt zu machen“[55].

4.1. Die Weisen des Seins im Raume des Umgreifenden

Wenn der Mensch aus der Ungeborgenheit und Not seines Daseins heraus zu fragen beginnt, warum die Dinge sind, wer er selbst ist und was Wahrheit sei, muß er erst einmal erkennen, daß es „vielerlei Sein“[56] gibt.

Da ist zunächst die den Menschen umgebende gegenständlich-sinnliche Welt mit ihren innerweltlichen Dimensionen von Natur und Energie, aber auch Raum und Zeit oder den menschlichen Gedankenkonstruktionen und Phantasien, kurz: das Sein als das Wirkliche - als Objektsein.[57] Diese Wirklichkeit aber zerfällt bei näherem Hinsehen in viele Wirklichkeiten, die sich vielleicht verflüchtigen wie beispielsweise ein Gedanke, der nicht auch durch Anschauung zur Erfahrung und dadurch zu einer von ebenso vielen Wahrheiten geworden ist. Das Objektsein ist also die Vorstellung eines Ganzen der empirischen Welt, soweit sie nicht in unmittelbarem Bezug zum Menschen selbst steht, sozusagen noch ein Sein an sich oder ein Ansichsein, wie Jaspers es formuliert.

Ein anderes und dem Objektsein gegenüber ist das Sein als Ichsein.[58] Ich erlebe mich selbst als ein „Ich bin“ und bin es in dieser Weise einzig nur für mich. Für andere kann ich als unbestimmte Person durchaus auch Objekt sein, oder ich kann versuchen, mich selbst und meine Stellung in der Welt objektiv zu betrachten. In meinem Ichsein erfahre ich mich also zum einen ganz als ich selbst, zum anderen jedoch auch als Teil einer Ganzheit, die Ich und Welt in sich vereint, indem ich mir beider Seinsweisen und eines Mehr bewußt werde.

Objektsein, Ansichsein und Ichsein sind demnach nicht drei Pole eines Seins, indem sie aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig bedingen, sondern sie sind jeweils ein eigenes Sein innerhalb eines Seins als Ganzem. Das Trennende, das mit den verschiedenen Begrifflichkeiten erfaßt wurde, findet zwar im Bewußt-sein des Menschen auf die eine oder andere Art wieder zusammen, weil Menschen nun einmal in diesen Seinsweisen leben und sich denkend in ihnen verwirklichen. Das Sein als ein Ganzes und Letztes jedoch ist niemals faßbar oder erfahrbar, es ist der „ständig sich entziehende Horizont“, den Jaspers das Umgreifende nennt. Und dieses Mehr des Umgreifenden „ist das, worin alles Sein für uns ist; oder es ist die Bedingung, unter der es eigentliches Sein für uns wird. Es ist nicht alles als die Summe des Seins, sondern ist das für uns ungeschlossen bleibende Ganze als der Grund des Seins“[59].

Wenn auch das Sein als solches nicht erkannt werden kann, so kann es mit Jaspers doch „erhellt“ werden, und zwar im Rahmen eines periechontologischen Denkens.[60] Mit diesem von Karl Jaspers geprägten Begriff der Periechontologie ist eine offene Systematik gemeint, die in einer Weise des Hindenkens auf das Sein als einem Umgreifenden verschiedene Aspekte u. a. von Anthropologie, Erkenntnistheorie, Theologie und besonders von Ontologie und Noologie in sich vereint als eine „Neuformung der Kategorienlehre“, die gegründet ist „in den Räumen des Umgreifenden, die nur in einer Umwendung unseres Denkens hell werden“[61].

Diese Umwendung zeigt sich etwa darin, daß sie das Sein im Denken sich entfalten lassen möchte, und zwar aus der geschichtlich je eigenen Situation des Den-kens selbst heraus. Das Sein ist - in Abgrenzung zur Ontologie - dann nicht mehr der Urgrund der Welt, aus dem alles Seiende abgeleitet werden kann, sondern im erhellten Raum des Umgreifenden können „wir alles Seiende als uns entgegenkommend erst finden“[62]. Das Eine und Erste ist auch nicht mehr das „Prinzip allen Seins“, sondern wird erfahren in der Weise, „wie wir uns im Umgreifenden finden“. Und dies geschieht nicht in einem immanenten Denken im Sinne der Ontologie, sondern wird „fühlbar“ als ein „im transzendenten Denken indirekt Getroffenes [durch] eine bewegte Verflechtung von Bezügen“ zwischen den verschiedenen Weisen des Seins.[63]

Weil der Mensch in der unendlichen Vielfalt des Lebens sich seiner Zerrissenheit bewußt ist, spürt er eben in sich auch „das Suchen nach dem Einen, das alles in sich schließt“, und in seinem Leben und Denken kommt deshalb alles darauf an, das Zusammengehören aller Weisen des Seins im Umgreifenden zu vollziehen. Doch dieser Vollzug geschieht nach Jaspers nicht in kontunierlichen Übergängen, sondern infolge der Spannung zwischen den einzelnen Seinsweisen ereignet sich das Ineinandergehen in Sprüngen, wobei der „zerreißendste“ und zugleich „tiefste Sprung“ als derjenige zwischen Immanenz und Transzendenz angesehen werden muß, im Sprung zur Transzendenz mittels der Vernunft jedoch auch die „Klammer“ des Umgreifenden gefunden werden kann, durch die sich alles zu einer Einheit zu-sammenfügt.[64]

4.1.1. Zum Begriff des Umgreifenden

Im Gegensatz zum Begriff der Periechontologie ist der Begriff des Umgreifenden keine ureigene Neuschöpfung von Jaspers. Wie Gerhard Knauss u. a.[65] zeigen konnten, stammt der Begriff von dem griechischen „periechein“ ab, wovon Jaspers auch seine Periechontologie abgeleitet hat, und bedeutet „umgreifen“ oder „umfassen“. Die griechischen Ursprünge des Begriffs sollen bei Anaximander zu finden sein, der über das Umgreifende als „apeiron“ sprach und dadurch auf den Kontext der Offenheit und eines horizonthaften Charakters des Begriffs hingewiesen hat. In Verbindung mit der Frage nach dem Sein in der gesamtgriechischen Tradition entstanden dann auch die unterschiedlichen Formulierungen wie das Eine, das Erste, das Transzendente, das Wahre und andere.

Karl Jaspers verwendet manche dieser traditionellen Bezeichnungen des Seins, fügt sie aber in ganz eigener Weise in seine philosophischen Denkstrukturen ein. Das Denken des Umgreifenden als eines „“Seins an sich“, der „Einheit des Seins“ oder auch eines „Unbedingten“ und zugleich „Ungegenständlichen“ stellt für Jaspers eine „philosophische Grundoperation“ dar, deren Ziel das Freiwerden des Seinsbewußtseins von aller spezifischen Erkenntnis des Seins ist und zugleich das Erkennen dessen, „worin alles andere uns vorkommt“[66]. Jaspers schreibt: „Wäh-rend der Gedanke uns befreit von der absoluten Unterwerfung unter eine wißbare Ordnung, läßt er uns doch alle sinnvolle Ordnung ergreifen, aber als Werkzeug oder als Weg oder als Schema, nicht als Grundriß des Seins, nicht als Ontologie, Theologie, System. Er lehrt uns, im Spiel zu ergreifen, was den Ernst einer Spra-che hat, lehrt uns zu schweben, ohne ins Bodenlose zu sinken, uns tragen zu las-sen, ohne festzuwachsen.“[67]

Durch eine solche Art des philosophischen Denkens versucht Karl Jaspers jeder Festlegung des umgreifenden Seins und somit der Gefahr der Unwahrheit zu begegnen. Nur im Denkakt der philosophischen Grundoperation vollzieht sich, das Bewußtsein erhellend, das Erkennen des einen Seins als eines Umgreifenden, doch mit jedem Gedanken und jeder Aussage wird es auch schon wieder in seine einzelnen Weisen aufgesplittert. Und nur dadurch ist die Gefahr eines falschen Erkennens zu bannen, daß das „eigene Sein“ des Menschen und „alles andere Sein“ miteinander in Einklang kommen und „selbst eine Weise des Gewußtseins“ wer-den, denn „das Sein und unser eigenes Sein sind nicht, ohne wahr zu sein, und wahr zeigen sie sich im Erkanntsein, in dem sie zu sich kommen“[68].

Die Unterscheidung zwischen dem umgreifenden Sein, das vom Bewußtsein gleichsam losgelöst sich nur fühlend und indirekt zu erkennen gibt und dem als Gegenständliches erscheinenden immanenten Sein nennt Otmar Erich Klein in Anlehnung an Heideggers ontologische Differenz die „periechontologische Diffe-renz“, weil sie „sich auch darstellen läßt als Differenz von Sein und Seiendem“, was wegen der unterschiedlichen Ansätze der beiden Philosophen m. E. aber nicht wirklich zutreffen dürfte.[69] Weil das eine Sein bei Jaspers jedenfalls als das Umgreifende erscheint und sich aus diesem Umgreifenden zeigt als die verschiedenen Weisen des Seins, sollen nun diese entfaltet werden.

4.2. Das Umgreifende als das Sein an sich

Die Suche nach dem Einen, dem Sein an sich, gehört zu den Grundbestrebungen des Menschseins, und doch gilt auch: „Was immer für uns Sein ist, muß Gestalt werden. Was ohne Gestalt, Bild, Gleichnis - ohne Gegenständlichkeit - bleibt, ist für uns nichts“[70]. Wir suchen nach einem „prägnanten Seinsbewußtsein“, doch ist dies nicht zu gewinnen ohne Unterscheidungen. Das Sein ist zerrissen in der Subjekt-Objekt-Spaltung[71], und diese Zerrissenheit zeigt sich in jeder Weise des Umgreifenden. Jaspers nennt dies auch die „antinomische Struktur des Daseins“[72], die nicht aufgehoben werden kann, weil das Sein als ein Absolutes nicht zu fassen ist. Man kann es nur denken im Unterscheiden, und man kann es nur leben, „indem wir aus dem Umgreifenden uns dieses im Gegenständlichen faßlich machen“[73].

Jaspers nennt zwei Wege der Annäherung an das umgreifende Sein: zum einen die Besinnung auf das Sein an sich, das uns umfängt, zum anderen das Sich-Be-wußtmachen des Seins, das wir selbst sind, und er bezeichnet als den natürlichen und immer zuerst begangenen Weg denjenigen, der zum Sein führt, „das auch ohne uns das Sein, das Sein an sich, ist: es wird als Welt und Transzendenz gedacht“[74].

Welt:

Die Welt als solche in der Weise des Umgreifenden sehen zu lernen setzt voraus, daß wir sie als ganz unabhängig von uns begreifen. Sie ist Teil des Ersten Seins, das nicht von uns hervorgebracht wurde. Insofern ist sie das „eigentlich Seiende“, dem wir in allen Erscheinungen, soweit sie uns zugänglich sind, begegnen, oder von dem wir einfach nur getroffen werden oder daran anstoßen: „Wir erblicken die Welt in ihrer grenzenlosen Fülle, die nicht für unsere Zwecke, Bedürfnisse und Erkenntnismöglichkeiten, sondern an sich selber da ist.“[75]

Diese Welt ist in sich ein Umgreifendes, das partikular für diese Art von Weltsein Gültigkeit hat. Sie ist ein Ganzes auch ohne den Menschen und als Planet Erde ein Teil des Weltalls, in dem der Mensch kaum eine Rolle zu spielen scheint. Zu-gleich ist sie „Grund und Ursprung der Realität“ als jener Materie,die unseren Leib trägt. Wir nennen dies „Natur“, die wir zwar nicht hervorbringen, aber nutzen, und die uns das Dasein ermöglicht, aber doch immer „wie gleichgültig gegen uns“ ist[76], was sich spätestens in unserer Ohnmacht gegenüber Naturkatastrophen zeigt.

Und doch sind wir selbst Teil dieser Welt, denn „sie macht möglich, daß wir sind und was wir sind und sein können“. Sobald die Welt aber Gegenstand unserer Erkenntnis wird und wir Genaueres wissen wollen über das, was uns in ihr begegnet, machen wir uns Bilder und Begriffe von der Welt, mit denen sich das Umgreifende der Welt, ihr eigentliches Sein, verflüchtigt. Die Welt wird mir vertraut in diesen Bildern und Begriffen, sie wird meine Welt in dem, was ich mir wissend und erfahrend von ihrer Vielfalt aneigne. Doch alles, was ich von dieser Welt erfasse, verläuft sich ins Gegenständliche und Gegensätzliche und die Welt an sich entgleitet mir, je mehr ich sie mir zu eigen mache.

[...]


[1] Hans Küng: Projekt Weltethos. München, Tb-Ausgabe 31996. Im Folgenden zitiert als WE und Seitenzahl.

[2] Parlament der Weltreligionen: Erklärung zum Weltethos. Chicago, 1993, Hg. Stiftung Weltethos, Tübingen, o. Jahr, S. 3.

[3] Hans Küng (Hg.): Dokumentation zum Weltethos. München, 2002, S. 218.

[4] WE, S. 53.

[5] Erklärung zum Weltethos, (s. Anm. 2), S. 3.

[6] Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München, 1949, S. 18. Im Folgenden zitiert als U/Z und Seitenzahl.

[7] U/Z, S. 243.

[8] U/Z, S. 22.

[9] U/Z, S, 24.

[10] Erich Neumann: Tiefenpsychologie und neue Ethik. Zürich, 1949, S. 47.

[11] U/Z, S. 25 und 41.

[12] U/Z, S. 24.

[13] U/Z, S. 25.

[14] U/Z, S. 22; ebenso Erich Neumann (s. Anm. 10), S. 48.

[15] U/Z, S. 20/21.

[16] Fritjof Capra: Wendezeit. Bern-München, 1985, S. 23 und Anmerkung 13 mit Verweis auf

A. Toynbee (1972).

[17] WE, S. 21 und Anmerkungen 6, 7 und 9 ebenfalls mit Hinweis auf A. Toynbee u. a..

[18] Sinn/Ziel, S. 172.

[19] WE, S. 35f.

[20] WE, S. 20f.

[21] Sinn/Ziel, S. 173.

[22] Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit. Berlin, 71971, S. 10.

[23] U/Z, S. 175.

[24] WE, S. 33.

[25] Stuttgarter Zeitung vom 5. 11. 2004: „Werte als Bollwerk gegen die Bedrohung“. Der

US-Politikwissenschaftler Alan Wolfe über Religion und Kulturkampf in Amerika.

[26] Ebd.

[27] WE, S. 28.

[28] U/Z, S. 162.

[29] U/Z, S. 163.

[30] WE, S. 40.

[31] U/Z, S. 76f.

[32] U/Z, S. 243ff.

[33] U/Z, S. 245.

[34] So z. B. O. Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München, 1999.

[35] U/Z, S. 27.

[36] U/Z, S. 27.

[37] U/Z, S. 27.

[38] U/Z, S. 162.

[39] WE, S. 50.

[40] WE, S. 77.

[41] Karl Jaspers: Der philosophische Glaube. München, 1948, S. 16ff. Im Folgenden zitiert als PG und Seitenzahl.

[42] WE, S. 77; im Original steht das kursiv Gedruckte in Fettdruck.

[43] WE, S. 67.

[44] WE, S. 50 und ebenso U/Z, S. 167.

[45] Hans-Martin Schönherr-Mann: Von der grenzenlosen Kommunikation zur Weltphilosophie.

Unveröffentlichtes Manuskript des SWR, Juni 2001.

[46] U/Z, S. 267.

[47] Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit. Berlin, 71976, S. 194. Im Folgenden zitiert als GSZ und Seitenzahl.

[48] Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. München, 1962, S. 465. Im Folgenden zitiert als PGO und Seitenzahl.

[49] Karl Jaspers: Philosophie. Bd. 2, Berlin-Göttingen-Heildelberg, 1956, S. 45. Im Folgenden zitiert als Phil. 2 und Seitenzahl.(Textstellen im Original kursiv).

[50] Phil. 2, S. 1.

[51] Karl Jaspers: Was ist der Mensch? München, Piper-Tb, 22003, S. 134. Im Folgenden zitiert als Mensch und Seitenzahl.

[52] Mensch, S. 241.

[53] Jeanne Hersch: Menschsein-Wirklichkeit-Sein. Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit, herausgegeben von Rudolf zur Lippe, Berlin, 1995, S. 107.

[54] Phil. 1, S. 23.

[55] Phil. 1, S. 24.

[56] Phil. 1, S. 4.

[57] Phil. 1, S. 4.

[58] Phil. 1, S. 5.

[59] Karl Jaspers: Von der Wahrheit. Philosophische Logik. Erster Band. München, 1958, S. 39.

Im Folgenden zitiert als VdW und Seitenzahl.

[60] VdW, S. 159f.

[61] VdW, S. 209.

[62] VdW, S. 160f.

[63] VdW, S. 160f.

[64] VdW, S. 162ff.

[65] Gerhard Knauss: Der Begriff des Umgreifenden in Jaspers Philosophie, in: P. A. Schilpp (Hg.): Karl Jaspers. Philosophen des 20. Jh., Stuttgart, 1957, S. 130-163; ebenso Piotr Reputakowski: Das Problem der Vernunftphilosophie bei Karl Jaspers. Halle/Saale, 1995, S. 35 und Anm. 62.

[66] VdW, S. 39f.

[67] VdW, S. 42.

[68] VdW, S. 42ff.

[69] Otmar Erich Klein: Bewußtsein und Umgreifendes. Europäische Hochschulschriften, Reihe XX, Philosophie, Bd. 326, Ffm., 1990, S. 116ff. Klein schließt an die zitierte Textstelle die Frage an, „ob Jaspers mit der Unterscheidung von Sein und Seiendem dasselbe meint wie Heidegger“ und verweist in diesem Zusammenhang auf folgende Textstelle von Gerhard Knauss, der darin diese Frage bejaht habe (inwieweit er selbst die Frage bejaht, geht aus Kleins eigenen Ausführungen nicht klar hervor): „Was Heidegger als ontologische Differenz bezeichnet, ist, was die Differenz betrifft, nicht die weitere Interpretation des Seins, des Unterschieds von Sein an sich und den Weisen, wie das Sein für uns als Gegenstand erscheint. In diesem Grundgedanken, vielleicht entsprungen aus einer gemeinsamen Überzeugung von der Endlichkeit des menschlichen We-sens, finden sich beide zusammen gegen den idealistischen Versuch einer unendlichen Erwei-terung des Denkens. Die Erfahrung dieser Differenz und die systematische Ausdeutung dieser Erfahrung weisen aber bei beiden Denkern in verschiedene Richtungen.“ (Knauss, in Schilpp, S. 135). M. E. interpretiert Klein hier Knauss nicht adäquat, und zudem macht er es sich mit der Gleichsetzung von ontologischer und periechontologischer Differenz zu leicht, indem er zu wenig die von vornherein unterschiedlichen Denkansätze von Jaspers und Heidegger beachtet und die entsprechenden Konsequenzen in der systematischen Ausformung verkennt. So bestimmt Jaspers z. B. das Sein „als das allem bestimmten Seienden Vorhergehende, oder als das Aufnehmende und Sinngebende, das selber nicht adäquat Gegenstand werden kann“ (VdW, S. 160), und diese Beschreibung ist für ihn wesentlich und beinhaltet zudem keinerlei Bewertung. Für Heidegger dagegen ist „in Erschließung und Explikation des Seins“ das Seiende nur „jeweils das Vor- und Mitthematische“, während ihm eigentliches Thema das Sein selbst ist (Sein und Zeit, Tü., 182001, S. 67). Auch stellt Heidegger in seiner „fundamentalontologischen Betrachtung“ in Sein und Zeit ausdrücklich die Frage nach dem Sinn von Sein, um in einer Rückwendung der Seinsfrage in Form einer „existentialen Analytik des Daseins“ die Seinsverfassung des Daseins herauszuarbei-ten. Doch diese „Herausstellung der Seinsverfassung“ bleibt für ihn „gleichwohl nur ein Weg“ und die Ausarbeitung der Seinsfrage das eigentliche „Ziel“ (Sein und Zeit, S. 436). Gerhard Knauss weist auf die unterschiedliche Richtung im Denken von Jaspers und Heidegger hin und sieht die unterschiedliche Schwerpunktsetzung in ihren Arbeiten in einer Differenz der Erfahrung von Sein begründet und bezeichnet die entsprechende Denkrichtung bezüglich Heideggers Philosophie als „eine vorauseilende Antizipation des Seins unter Verleugnung alles gegenständlichen Seienden“, während er bei Jaspers eine „Philosophie des Umgreifenden“ sieht, „die die gegenständliche Welt nicht überspringen will“ (Knauss, in Schilpp, S. 135).

[70] VdW, S. 177.

[71] VdW, S. 703f.

[72] Phil. 2, S. 249ff.

[73] VdW, S. 177.

[74] VdW, S. 47.

[75] VdW, S. 85.

[76] VdW, S. 85ff.

Ende der Leseprobe aus 112 Seiten

Details

Titel
Ethische Existenz
Untertitel
Karl Jaspers Menschenbild als Beitrag zu Hans Küngs "Projekt Weltethos"
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Philosophisches Institut)
Note
2
Autor
Jahr
2005
Seiten
112
Katalognummer
V88204
ISBN (eBook)
9783638004022
Dateigröße
747 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ethische, Existenz
Arbeit zitieren
Lore Kugele (Autor:in), 2005, Ethische Existenz , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88204

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Titel: Ethische Existenz



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