Liberale Antworten auf die soziale Frage im deutschen Kaiserreich


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

25 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Grundsätze der sozialen Frage und des Liberalismus
2.1. Was ist die ‚soziale Frage’?
2.2. Gesellschaftsbild des Liberalismus
2.3. Entwicklung der liberalen Parteien

3. Prinzipien liberaler Sozialreform
3.1. Bildung
3.2. Selbsthilfe versus Staatsintervention
3.3. Solidarität durch Assoziationen: Genossenschaften und Gewerkvereine

4. Die Positionen der liberalen Parteien zur sozialen Frage in ihrer chronologischen Entwicklung
4.1. Liberale Ära (1871 – 1879)
4.2. Sozialversicherungsgesetzgebung: die Frage nach der richtigen Kombination von Selbsthilfe und staatlicher Verordnung (1880 – 1890)
4.3. Perspektivwechsel liberaler Sozialpolitik (1891 – 1899)
4.4. Neuorientierung des Liberalismus (1900/06 – 1914)

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Rahmen unseres Hauptseminars haben wir uns mit verschiedenen Aspekten des Sozialstaats in Deutschland von Bismarck bis Blüm beschäftigt. Mein Auftrag war es, die Positionen der Liberalen im deutschen Kaiserreich zur sozialen Frage zu untersuchen. Dabei beschränkte ich mich auf die Arbeit der liberalen Parteien auf Reichsebene. Ihre Arbeit auf kommunaler Ebene ist nicht Gegenstand dieser Seminararbeit.

Eine weitverbreitete Auffassung besagt, dass Liberalismus und Sozialpolitik ein Paradox darstellen. In Bezug auf mein Thema würde das bedeuten: „Die Liberalen des Kaiserreiches kümmerten sich nicht um die soziale Not der unteren Schichten ihrer Zeit.“ Das Ziel meiner Seminararbeit ist demnach festzustellen, welche Ansichten die Liberalen des Kaiserreiches zu den sozialen Problemen vertraten, und wie man das liberale Spektrum hinsichtlich dieser Frage zu differenzieren hat. Die Heterogenität des liberalen Spektrums war so groß, dass man zwischen den einzelnen Parteien unterscheiden muss, wenn man vom Liberalismus spricht. Die zwei wichtigsten und widersprüchlichsten Flügel innerhalb des Liberalismus waren die Nationalliberalen und die Linksliberalen, von denen auch weiterhin die Rede sein wird.

Im ersten Teil wird der Begriff der sozialen Frage und das Gesellschaftsbild des Liberalismus vorgestellt. Danach beschäftige ich mich mit der chronologischen Entwicklung der liberalen Parteien seit ihrer Gründung, mit ihren Spaltungen und Wiedervereinigungen, so dass die Namen der Parteien und der Personen bekannt werden und man auf sie zurückgreifen kann. Die Gemeinsamkeiten aller liberaler Gruppierungen werden im dritten Kapitel dargestellt. Die Epoche des Kaiserreichs habe ich in vier Phasen aufgeteilt. Für jede Phase wurde versucht, die typischen liberalen Profile der Zeit darzustellen und ihre Haltungen zur Sozialpolitik deutlich zu machen. Dabei beziehe ich mich hauptsächlich auf die schon erwähnten zwei wichtigsten Richtungen des Liberalismus, auf die Nationalliberalen und auf die Linksliberalen. Der erste Abschnitt fällt mit der Zeit zwischen dem Gründungsjahr des deutschen Kaiserreiches 1871 und 1878/79 zusammen. Hier wird hauptsächlich die Gleichsetzung des deutschen Liberalismus mit dem Manchestertum und die Rolle des Manchestertums bei der Ablehnung der sozialen Frage diskutiert. Der zweite Abschnitt erstreckt sich von der Einführung der Schutzzölle im Jahr 1880 bis zum Rücktritt Bismarcks im Jahr 1890. Die dritte Phase ist durch den Neuanfang des Reichskanzlers Caprivi im Jahr 1891 und durch das Ende der traditionellen liberalen Politik unter den Führern Miquel und Richter charakterisiert. Der letzte Abschnitt ist durch die Neuorientierung des Nationalliberalismus unter dem neuen Parteiführer Bassermann im Jahr 1900 und auch durch die Neuorientierung des Linksliberalismus der neuen Generation ab dem Jahr 1906 gekennzeichnet und endet mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges im Jahr 1914.

Als Grundlage für meine Arbeit habe ich die Dissertationen von Wolther von Kieseritzky und Holger J. Tober benutzt, die die neuesten Ergebnisse zu diesem Thema erbracht haben. Des weiteren habe ich einen Aufsatz von Hans-Georg Fleck, der sich mit Liberalismus und sozialer Frage beschäftigt, gut verwenden können.

2. Grundsätze der sozialen Frage und des Liberalismus

2.1. Was ist die die ´soziale Frage`?

Der Begriff ´soziale Frage` setzte sich in Deutschland ab 1840 durch.[1] „Gefragt wird nach den Störungen der gesellschaftlichen Ordnung, wodurch namentlich bestimmte Menschengruppen in bedrängter, elender, unwürdiger Lage sich befinden, nach den Ursprüngen dieser Störungen und nach den Mitteln, um ihnen abzuhelfen.“[2] Die Fremdbestimmung der Arbeit, das nur lebensnotwendige Einkommen der Arbeiter, die soziale Unsicherheit bei einer Krankheit, im Alter oder bei Arbeitslosigkeit, die Verstädterung und das damit verbundene Wohnungselend bilden die Grundlagen mehrerer sozialer Problemfelder.[3]

Daher war die Arbeiterfrage eine der meist diskutierten Problemfelder, die bei den Zeitgenossen Wachsamkeit und Sorge erregten.[4] Sie ist als Folge von Industrialisierung, Bevölkerungsexplosion und Kapitalismus, dessen Prinzip sich zu einem Streben nach unbegrenzter Kapitalvermehrung gesteigert hatte, entstanden.

Später dehnte sich die Diskussion dieser Frage auf immer weitere Bevölkerungsgruppen aus. Wer die Armen einer Gesellschaft sind, ist Veränderungen unterworfen und deshalb galt es jeweils eine neue ´soziale Frage` zu lösen.[5]

2.2. Gesellschaftsbild des Liberalismus

Die Wurzeln des Liberalismus sind in der Aufklärung und in der Endphase der ständischen Gesellschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu finden. Die Grundprinzipien des Liberalismus wurden somit in jener Zeit formuliert, lange bevor der Ausdruck Liberalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem allgemeinen Begriff wurde.[6]

Den Kern bildete der Gedanke der Autonomie des Individuums, verbunden mit der Vorstellung, dass das freie Spiel der individuellen Kräfte in allen Daseinsbereichen zu einer optimal funktionierenden Ordnung führen werde.[7]

Die theoretische Fundierung des Liberalismus in bezug auf die Wirtschaftsordnung lieferte der schottische Ökonom Adam Smith. Er ist der erste bekannte Vertreter des klassischen Wirtschafts- liberalismus. Wichtig für diesen Liberalismus ist das Konzept der unsichtbaren Hand, das er in seinem Werk Der Wohlstand der Nationen einführte. Die unsichtbare Hand sorgt dafür, dass jeder Wirtschaftsteilnehmer, der nur seinen Eigennutzen maximieren möchte, indirekt auch die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt erhöht.[8]

Er sprach nicht nur von invisible hand und self-interest, sondern auch von sympathy, also der gesellschaftlichen Solidarität oder Fairness. Dieses Konzept verweist darauf, Freiheit und Gerechtigkeit auszubalancieren. Vom Staat wird gefordert, öffentliche Institutionen zu unterhalten, die privat nicht ertragsorientiert betrieben werden können, wie Verkehrs- oder Bildungseinrichtungen.[9] Diese Seite seines Modells wurde von den Manchesterliberalen[10] außer Acht gelassen. Laut Walther vulgarisierten die Manchesterliberalen das Modell von Smith durch die Reduzierung auf das Ökonomische[11] und auf das laissez faire, was bedeutet, dass der Staat nicht aktiv in die Wirtschaft eingreifen sollte.

Zu den wichtigen Persönlichkeiten des Wirtschaftsliberalismus gehörte auch John Prince-Smith. Er war der Begründer der deutschen Manchesterschule und der Vorreiter des deutschen Wirtschaftsliberalismus der 1850er und 1860er Jahre. Gemäß seiner Lehre bedeutete im Unterschied zu Smith jeder Eingriff des Staates in den sozialpolitischen Bereich eine Störung des freien Spieles der Kräfte, wodurch die natürliche Harmonie zugrunde ginge.[12] Er sah im Elend der unterbürgerlichen Schichten individuelles Verschulden der Betroffenen oder sogar ein naturgesetzliches Phänomen. „Für allgemeinere wirthschaftliche Leiden weiss also der gewissenhafte Volkswirth nur den einen alten Rath: ‚Arbeitet und sparet.’ Lasset die eigene Noth den Sporn, und den Genuss der Bessergestellten den Trieb Euch geben, Eure Willenskraft zu steigern, dass Ihr wenigstens die ersten Schritte auf dem Wege zur Erlösung aus der wirthschaftlichen Noth machet“.[13]

2.3. Entwicklung der liberalen Parteien

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[14]

Die Liberalen stellten die stärkste politische Strömung zu Beginn des Kaiserreichs dar. Politisch und organisatorisch stellte der Liberalismus keine Einheit dar, sondern war sehr zersplittert. Zu dieser Differenzierung trugen hauptsächlich die verschiedenen Reaktionen der Liberalen auf die ´soziale Frage` und die sozialpolitischen Herausforderungen seit dem Industrialisierungsprozess bei.[15]

Im Jahr 1861 wurde die Deutsche Fortschrittspartei gegründet, die Politiker sowohl aus dem gemäßigt konstitutionellen als auch dem linksliberalen Lager vereinte. Die politischen Ziele formulierte sie in ihrem Gründungsprogramm, mit dem sie einen festen politischen Boden für fast den gesamten politischen Liberalismus im Kaiserreich schaffte.[16]

Zwischen 1866 und 1868, also noch vor der Gründung des deutschen Kaiserreichs, kam es zur wesentlichsten Spaltung des parteipolitisch organisierten deutschen Liberalismus. Die deutschen Liberalen hatten sich zwei Ziele gesetzt, und zwar die nationale Einheit der Deutschen zu schaffen und zugleich die Liberalisierung der Gesellschaft. Die Auseinandersetzungen um diese

Fragen ließen letzendlich die folgenden Nachfolgeparteien der Deutschen Fortschrittspartei entstehen:[17] die Nationalliberale Partei, die 1867 gegründet wurde, war die einzige Partei des Liberalismus des Deutschen Kaiserreiches, die bis zum Ende des ersten Weltkrieges ihren Namen behielt, im Unterschied zu den linksliberalen Parteien, deren Entwicklung und Umbennenung nicht einfach zu verfolgen ist.[18]

Im Jahr 1868 wurde (Süd)Deutsche Volkspartei (DtVP) gegründet. Ihre Hochburgen waren in Süddeutschland zu finden. Im Unterschied zu anderen liberalen Parteien setzte sie sich zu einem früheren Zeitpunkt für soziale Reformen ein, insbesondere in den 1880er Jahren.[19]

Die Einführung von Schutzzöllen im Jahr 1880 und die Abkehr vom Freihandel hatte die Spaltung der nationalliberalen Partei zur Folge, was das eigentliche Ziel Bismarcks war. Diese Spaltung nützte seiner Politik, da sie dadurch nicht mehr so stark und überzeugend wirken konnte. Zur Abspaltung des linken Flügels der Nationalliberalen im Jahr 1880 und zur Gründung der Liberalen Vereinigung trug außer den Schutzzöllen das Grundprinzip des Nationalliberalismus bei, mit dem der linke Flügel nicht ganz einverstanden war. Dieses Grundprinzip, die Einheit und die Freiheit der Nation, hatte nämlich Vorrang vor den demokratischen Freiheitsrechten des Einzelnen.[20]

[...]


[1] Vgl. Friedrich, 2006, 2183.

[2] Stegmann, 1988, 1231.

[3] Vgl. Stegmann, 1988, 1232ff.

[4] Vgl. Fleck, 1992, 30.

[5] Vgl. Ritter, 1998, 6.

[6] Vgl. Gall, 1987, 917ff.

[7] Ebd.

[8] Vgl. Ritter, 1998, 28.

[9] Vgl. Kieseritzky, 2002, 479.

[10] In Manchester gründete der Fabrikant Richard Cobden einen Verein zur Durchsetzung des Freihandels mit Parallelorganisationen in vielen Städten. Manchestertum fordert freien Wettbewerb und Abschaffung der Zölle auf Rohstoffe und Getreide. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich nur auf das Ökonomische.

[11] Walther, Rudolf: »Exkurs: Wirtschaftlicher Liberalismus«, in: GeGr, Bd. 3, 1982, 787-815, zitiert nach Kieseritzky, 2002, 479.

[12] Vgl. Wegner, 1968, 14.

[13] Prince-Smith, John: Die sogenannte Arbeiterfrage, in: Vierteljahrschrift für Volkswirthschaft und Kulturgeschichte 2, Bd. 4, 1864, 192-207, zitiert nach Tober, 1999, 28.

[14] Der große Ploetz, 1998, 858.

[15] Vgl. Fleck, 1992, 36.

[16] Vgl. Dorn, 1966, 61f.

[17] Vgl. Dorn, 1966, 68.

[18] Vgl. Halder, 2006, 21f.

[19] Vgl. Tober, 1999, 54; vgl. auch Fleck, 1992, 49.

[20] Vgl. Fröhlich, 1990, 7.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Liberale Antworten auf die soziale Frage im deutschen Kaiserreich
Hochschule
Universität Regensburg  (Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte)
Veranstaltung
Der Sozialstaat in Deutschland: Tendenzen und Probleme seiner Entwicklung von Bismarck bis Blüm
Note
1,5
Autor
Jahr
2007
Seiten
25
Katalognummer
V88062
ISBN (eBook)
9783638034128
ISBN (Buch)
9783640423460
Dateigröße
502 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Liberale, Antworten, Frage, Kaiserreich, Sozialstaat, Deutschland, Tendenzen, Probleme, Entwicklung, Bismarck, Blüm
Arbeit zitieren
Katarina Bezakova (Autor:in), 2007, Liberale Antworten auf die soziale Frage im deutschen Kaiserreich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88062

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