Klettern als Mittel der Wagniserziehung im mehrperspektivischen Sportunterricht


Examensarbeit, 2007

79 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Wagniserziehung im mehrperspektivischen Sportunterricht
2.1 Überblick über den mehrperspektivischen Sportunterricht
2.2 Zielsetzung der Wagniserziehung
2.3 Der Begriff Wagnis
2.3.1 Das Wagnis aus sportpädagogischer Sicht
2.3.2 Das Wagnis aus sportpsychologischer Sicht
2.4 Das Gegenteil der Wagnis - Die Angst
2.4.1 Angst aus sportpsychologischer Sicht
2.4.2 Angst aus sportpädagogischer Sicht
2.5 Möglichkeiten und Grenzen der Wagniserziehung

3 Klettern
3.1 Physiologische Struktur des Kletterns
3.2 Psychologische Struktur des Kletterns
3.3 Die Dimensionen des Kletterns im mehrperspektivischen Unterricht
3.4 Besondere Aspekte der Wagniserziehung im Klettern
3.4.1 Höhenangst
3.4.2 Fallen
3.4.3 Überwindung der Schwerkraft

4 Schulpraktische Anwendungen
4.1 Fallen
4.1.1 Spezielle Bedeutung für die Wagniserziehung
4.1.2 Hinweise zur Durchführung
4.2 Klettern an einfachen Geräten
4.2.1 Spezielle Bedeutung für die Wagniserziehung
4.2.2 Hinweise zur Durchführung
4.3 Bouldern
4.3.1 Spezielle Bedeutung für die Wagniserziehung
4.3.2 Hinweise zur Durchführung
4.4 Kletterwände
4.4.1 Spezielle Bedeutung für die Wagniserziehung
4.4.2 Hinweise zur Durchführung
4.5 Hochseilgarten
4.5.1 Spezielle Bedeutung für die Wagniserziehung
4.5.2 Hinweise zur Durchführung

5 Fazit

6 Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Pädagogische Perspektiven. Aus: Schülting-Enkler 2002

Abbildung 2: Exkurs zum Begriff des mehrperspektivischen Unterrichts

Abbildung 3: Faktoren der Grenzsuche in riskanten Situtationen. Aus: Allmer 1995, S.77

Abbildung 4: Lazarus-Schachter-Modell der Bewertung. Aus: Zimbardo 1999, S.365

Abbildung 5: Die Reaktionen des Körpers auf Stress. Aus: Zimbardo 1999, S.372

Abbildung 6: Bereich der optimalen Aktivierung. Aus: Schädle-Schardt 2002, S.34

Abbildung 7: Der "Flow-Kanal". Aus: Csikszentmihalyi/Jackson 2000, S. 45

Abbildung 8: Komponenten der Kletterleistung. Aus: Winter 2004, S.10

Abbildung 9: Komponenten der Klettertechnik. Aus: Klein 2005, S.26

Abbildung 10: Bewegungsstruktur des Kletterns. Aus: Klein 2005, S.27

Abbildung 11: Die Perspektiven des Kletterns. Aus: Winter 2004, S.20

Abbildung 12: Verschiebung des Stellenwertes der Dimensionen beim Klettern mit zunehmendem Alter. Aus: Winter 2004, S.21

Abbildung 13: Erwarteter und tatsächlicher Angstverlauf. Aus: Kuntze/Bullinger 2001, S.57

Abbildung 14: Prinzipien des Fallens. Nach Ehmler/Happ 2004, S.23

Abbildung 15: Kistenklettern. Aus: Winter 2004, S.138

Abbildung 16: Technik des Spottens. Aus: Redenyi et al. 2005, S.16

1 Einleitung

„Zur Stärkung des Körpers und des Muthes (…) ist das Klettern eine der vor- teilhaftesten Uebungen (…)“ - GutsMuhts 17871

Im Zusammenhang mit Klettern fällt der Begriff Wagnis häufig. Klettern soll durch ver- schiedene Faktoren einen positiven Einfluss ausüben. Das Miteinander, das Arbeiten in der freien Natur, die pure körperliche Betätigung und nicht zuletzt die unausweichlichen Span- nungssituationen an einer Felswand wirken sich wohl gut auf die Persönlichkeit aus. Eine solche Charakter bildende Komponente wird auch von Erlebnispädagogen immer wieder an- gesprochen (vgl. Schmid 2005).

In dieser Arbeit soll die Bedeutung von Klettern als Mittel zur Wagniserziehung heraus- gearbeitet werden. Was ist es am Klettern, das ein Wagnis hervorruft? Und wie kann die Er- kenntnis daraus im Schulsport umgesetzt werden. Dabei muss die Vielfältigkeit, welche die Sportart Klettern aufweist, etwas zurücktreten. Es soll beschrieben werden, aus welchen Gründen bestimmte Faktoren des Kletterns für eine Wagnisschulung wichtig sind. Das Ziel ist, durch eine genaue Beschreibung dieser Prämissen ein Gerüst von Bedingungen zu bauen und anhand dessen Übungen aus verschiedensten Bereichen auf ihre Eignung für die Wagnis- erziehung zu überprüfen. Es geht also um den theoretischen Unterbau, welcher eine prakti- sche Umsetzung erst ermöglicht.

Zu diesem Zweck ist die Arbeit in drei Hauptteile gegliedert. Im ersten Hauptteil werden die Bedingungen für eine unspezifische Wagniserziehung in der Schule erläutert. Dem Begriff Wagnis und seinem Gegenspieler, der Angst, wird sich aus pädagogischer und psychologischer Richtung genähert. Eine Trennung von den Begriffen Risiko und Abenteuer ist unumgänglich und wird genau erklärt. Hiermit soll ein Verständnis für die grundlegenden Prozesse beim Erleben von Wagnis- und Angstsituationen aufgebaut werden.

Im zweiten Hauptteil geht es um die Eignung von Klettern als Mittel zu einer spezifischen Wagnisschulung. Es werden die Teile der Bewegungsstruktur erklärt, die sich im besonderen

Maße dafür eignen, Angst- und Spannungserleben auszulösen. Hier soll eine Abgrenzung zu anderen Risikosportarten, die mit Wagnissen assoziiert werden, deutlich gemacht werden.

Der dritte Hauptteil beschäftigt sich mit der konkreten Umsetzung der im zweiten Teil geschilderten Prinzipien. Es sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie auch im normalen Sportunterricht Klettersituationen mit allen ihren Chancen genutzt werden können. Dafür wird die Vielfalt der Klettergelegenheiten und verwandten Situationen in Kategorien eingeteilt, die mit ihrer speziellen Bedeutung und Hinweisen für die Durchführung versehen werden. Diese Hinweise stellen keine konkreten Übungen dar, sondern sind Prinzipien, mit denen Übungen unter der entsprechenden Zielsetzung vielfältig erarbeitet werden können.

Um die Literaturlage zu beschreiben, muss ich etwas weiter ausholen. Beispiele für eine mögliche Mutschulung und erlebnispädagogische Orientierung durch Sportaktivitäten sind schon bekannt und werden dementsprechend oft in der Literatur behandelt. Einzelne Autoren stellen sich Klettern als Mittel zu diesem Zweck vor, auch wenn sie meistens Bergklettern im Sinne der Outdooraktivität meinen2. Im Schulunterricht wird Klettern entweder als spielerische Form behandelt oder als technischer Komplex unter Leistungsaspekten.

Zeitgleich gib es die Fachliteratur zum Sportklettern, die schon lange auf die positiven Aspekte des Kletterns für die Wahrnehmung und Einschätzung von Risiken und Kompetenzen hinweist. Dies wird aber als ein Effekt des Kletterns unter vielen gesehen.

Erst nach dem Einführen des Konzeptes des „Mehrperspektivischen Unterrichts“ und der Ausweitung der Kategorie „Spannung“ zum anthroposophisch begründeten „Wagnis“ (Neu- mann 1997 und 1998) rückt Klettern als Mittel zur „Wagniserziehung“ im Schulsport den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Peter Neumann, dem diese Entwicklung zu verdanken ist und Eckart Balz, sein Mentor, publizieren seit diesem Zeitpunkt zusammen mit einigen ande- ren Autoren in Fachzeitschriften Überlegungen zum theoretischen Unterbau der Wagniserzie- hung, zu pädagogischen Konsequenzen und Handlungsvorschlägen. Es machte etwas Mühe, diese Fachbeiträge, die selten sehr lang sind, zusammen zu tragen, um ein einheitliches Bild der Wagnisschulung zu erlangen. Daher ergeben sich eine Menge an Literaturverweisen. Häu- fig ist es ein und derselbe Autor, der mit Mehrfachnennungen auftaucht, da er im selben Jahr alleine und zusammen mit anderen Autoren Artikel in Fachzeitschriften und Symposien ver- öffentlicht hat.

Erstaunlich ist, dass wenige Autoren sich konkret mit dem Klettern im praktischen Schulsport unter dem Aspekt der Wagniserziehung auseinandergesetzt haben. Es finden sich sehr gute Artikel zum Klettern mit einfachen Geräten in der Turnhalle3, es gibt exzellente Aufsätze über die Mehrperspektivität im Sportklettern, meist bezogen auf das Klettern an Kletter- oder Naturwänden4, es gibt Fachliteratur zum Klettern als Schulsport5 und hervorragende Bücher zum Klettern allgemein6. Aber die Kombination von einfachen, in der Schule durchführbaren Klettereinheiten und der Perspektive Wagnis ist selten7.

Ein enormes Potential zur Wagniserziehung steckt im so genannten „Bouldern“, dem Klettern in der Horizontalen in geringer Höhe. Es bietet eine ideale Heranführung an das Er- leben von Höhe, die Bewegungsstruktur des Kletterns, das Gefühl des Fallens und weckt die natürliche Neugier. Darüber hinaus ist es leicht mit einfachen Geräten durchzuführen und braucht keine aufwändigen Sicherungssysteme. Man kann es an einer Kletterwand genauso erleben wie in einer Turnhalle. Und sollte man eine professionelle Boulderwand bauen wol- len, ist dieses leichter und kostengünstiger zu bewerkstelligen als das Errichten einer professi- onellen Kletterwand. Dieses Potential ist bisher noch nicht ausreichend gewürdigt worden, auch wenn einzelne Autoren bereits das Bouldern in der Schule propagiert haben8.

Das Fallen als einer der bestimmenden Komponenten der Wagniserziehung beim Klettern findet in der Literatur kaum Beachtung, was merkwürdig anmutet. Höhenangst ist immer auch die Angst vorm Fallen, Fallen selbst kann als Wagnis inszeniert werden. Klettern beinhaltet den Komplex Höhenangst und die Angst vor dem Sturz. Mehrere Autoren haben das Fallen als eigenständigen Themenkomplex aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben9, sogar unter dem konkreten Namen Wagnisschulung10. Aber bisher ist dies in Kombination mit Klet- tern als ein Komplex aus dem Wagnis im Klettern und dem Wagnis im Fallen kaum gesche- hen11. Selbstverständlich ist das Klettern impliziert, um die erstrebte Fallhöhe zu erreichen. Aber der konkrete Zusammenhang von Klettern, der Angst vor dem Fall12 und der Möglich- keit einer Wagnisschulung durch die Verbindung dieser Elemente wie sie aufgrund der gerin- gen Gefahr durch Bouldern problemlos möglich ist, ist noch nicht gemacht worden.

2. Wagniserziehung im mehrperspektivischen Sportunter- richt

2.1 Überblick über den mehrperspektivischen Sportunterricht

Grundgedanke des mehrperspektivischen Sportunterrichtes ist die Abkehr vom einseitig sportartenzentrierten Unterricht, bei dem sich die Vermittlung der Sportart hauptsächlich auf eine effektive technische Ausführung konzentriert (vgl Hildbrandt-Stramann 2005, S.163). Neumann und Balz formulieren dieses Ziel so: „Mehrperspektivischer Sportunterricht mar- kiert damit einen pädagogisch ambitionierten Sportunterricht, der über die Vermittlung (sport- licher) Fertigkeiten hinaus erzieherische Intentionen verfolgt.“ (2004, S.13). Vielmehr soll der Unterricht nun von sechs grundlegenden Perspektiven aus betrachtet werden, die Sportarten übergreifend sind, und vor allem auch außerhalb des Sportes für die Persönlichkeit bedeutsam sind. Die dabei entstandenen Perspektiven finden sich unter verschiedenen Namen in der Lite- ratur13, sind aber inhaltlich deckungsgleich. Die pädagogischen Sinnperspektiven sind:

Abbildung 1: Pädagogische Perspektiven. Aus: Schülting-Enkler 2002

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Leistung

Unter dieser Perspektive werden alle Aspekte zusammengefasst, welche die eigene oder fremde Leistungsfähigkeit behandeln. Im sportlichen Sinne ist dies die Kategorie, unter der Leistungssportler ihren Sport verstehen, aber auch Schüler um eine gute Note kämpfen. Da sich über die Leistung ein Teil der Persönlichkeit definiert, dient dieser Aspekt auch der „Prä- sentation und Selbstdarstellung“ (Fritzenberg 2007). So könnte im Sportunterricht, um diese Perspektive zu verdeutlichen, ein Laufen mit sukzessiver Zeitminimierung (vgl. Gröben 2007) erfolgen, bis alle Schüler an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gekommen sind.

Gesundheit

Gerade im Sportunterricht ist diese Perspektive einerseits implizit enthalten (vgl. Neu- mann/Balz 2004, S.63), andererseits wird ihr Potential viel zu wenig ausgeschöpft. Ein Sport- unterricht sollte immer „Ausgleich, Fitness, Wohlbefinden“( Fritzenberg 2007) erzeugen. Es geht aber vor allem darum, zu vermitteln, dass Sport ein lustvoller Teil der individuellen le- benslangen Gesundheitsarbeit sein kann, zum Beispiel durch „Laufen im Wohlfühlbereich“ (Gröben 2007). Gleichzeitig könnte Sportunterricht unter dieser Perspektive auch eine Pro- jektarbeit zum Thema „Präventive Körperarbeit“ mit Komponenten wie Stretching, Yoga oder spezielle Kräftigungsübungen sein. Da außerhalb des schulischen Alltages die Gesundheit gerade im Alter immer wichtiger wird, wäre es von großem Vorteil, wenn bereits im Schulal- ter eine umfassende „Gesundheitserziehung“ (Balz 1997, S.117) fächerübergreifend stattfin- den würde.

Kooperieren

In dieser Sinnperspektive sammeln sich alle sozialen Aktivitäten im sportlichen Alltag, also auch die Aspekte „Anschluss, Geselligkeit, Kommunikation“( Fritzenberg 2007). Jegliches soziale Handeln im Sport, sei es in einer Mannschaft, sei es eine Individualsportart, die im Verbund betrieben wird, ist eine Ausprägung dieser Perspektive. Sportunterricht in dieser Kategorie könnten „außerunterrichtliche Lauftreffs“ (vgl. Gröben 2007) sein, die weniger dem Leisten als dem Miteinander dienen.

Gestalten

Jede Körperbewegung hat eine gestaltende Komponente, jeder Akt kann „Ästhetik, Dar- stellung“( Fritzenberg 2007) bedeuten. Tänzerische und turnerische Bewegungen fallen da zunächst ins Auge, aber auch andere Sportarten können die Perspektive des künstlerischen Ausdrucks beinhalten, zum Beispiel die Benutzung und Bewusstmachung verschiedener Laufstile oder Laufimitationen (vgl. Gröben 2007).

Körpererfahrung

Sportunterricht bietet eine hervorragende Chance für neue und ungewohnte Körpererfah- rungen. Das Austesten der eigenen Leistungsgrenzen beim Ausdauerlauf kann dazu gehören, aber auch feinere sinnliche Erlebnisse. Diese können eher unter den Begriffen „Exploration und Sensation“( Fritzenberg 2007) zusammengefasst werden. Jeder Sport bietet neue Erfah- rungsmöglichkeiten, indem man z.B. eine bekannte Bewegung blind durchführen lässt. Oder auf Zusatzmaterialen verzichtet, wie Tauchen ohne Flossen und „Laufen barfuß im Wald“ (Gröben 2007).

Wagnis

Unter dem Aspekt des „Wagens und Verantwortens“ (Balz/Kuhlmann 2003, S.186) soll die „Annäherung an die individuelle Grenze des (für den Einzelnen) psychisch und/oder physisch Machbaren“ (Scholz 2005, S.15) betrieben werden. Das klingt martialischer als es ist. Es soll vielmehr darum gehen, durch das gezielte Heranführen an Grenzsituation die Leistungsfähigkeit und vor allem den Leistungswillen zu fördern und so zur Persönlichkeitsbildung beizutragen. Im schulischen Alltag Grenzsituationen herzustellen, die unter Sicherheitsaspekten vertretbar sind, ist nicht ganz leicht. Sprünge ins Wasser (Fritzenberg 2007) oder bestimmte turnerische Elemente sind Umsetzungen in dieser Dimension.

Zielsetzung des mehrperspektivischen Sportunterrichtes ist es, den Schülern ein Verständ- nis von Sport und Sporttreiben zu vermitteln, das über das bloße Reproduzieren von Aktionen im sportlichen Kontext hinausgeht. Durch die Sinngebung des Sportes in pädagogischen Handlungsfeldern rückt der Erwerb einer Technik in den Hintergrund zugunsten einer sport- artlosgelösten Erfahrung, die für das ganze Leben wichtig sein soll. „Das Ziel dieses mehrper- spektivischen Unterrichtes ist es, den Schülern eine lebenslange Freude am Sporttreiben zu vermitteln“ (Schober 2004, S.3). Der Schüler soll „Handlungsfähigkeit“ (Kurz 2000, S.77) in jeder der Perspektiven erlangen. Er soll also fähig gemacht werden, im weiteren Leben im und außerhalb des Sportes bewusst nach den Sinnperspektiven zu handeln. Neumann und Balz führen das Beispiel der Gesundheitsvermittlung an, welche über den Sportunterricht hin- aus wirksam sein soll und im weiteren Leben für jeden von größter Bedeutung ist (2004, S.63). Eine möglichst hohe Handlungskompetenz in jedem Bereich ist dementsprechend wün- schenswert.

Bei der Vermittlung der Perspektiven werden von Balz drei Methoden beschrieben, die je nach Lehrerintention im Unterricht angewandt werden können: „Integrieren“, „Akzentuieren“ und „Kontrastieren“ (2004, S.94):

- „Integrieren“ als Kategorie stellt eine natürliche Mischform im Sport dar, denn viele Sportarten sind nur schwerlich ausschließlich unter einem Gesichtspunkt zu behandeln. Balz bringt als Beispiel das Sportspiel, in dem die Kategorien „Leistung“, „Kooperation“ und „Spannung“ nebeneinander existieren und simultan wahrgenommen werden (2004, S.95). Auch andere Sportarten können integrierend vermittelt werden, zum Beispiel Tur- nen als Bündel aus „Leistung“, „Gestaltung“, „Wagnis“ und „Körpererfahrung“.

- „Akzentuieren“ bezeichnet die Bearbeitung von nur einer prominenten Perspektive in einem Sportgebiet. Durch Verwendung bestimmter Elemente einer Sportart soll die Auf- merksamkeit des Schülers auf diese prominente Dimension gelenkt werden. Dies kann ei- ne nahe liegende Dimension sein, wie zum Beispiel die Perspektive „Leistung“ in der Leichtathletik. Aber auch ungewöhnlichere Akzente sind denkbar, wie „Körpererfahrung“ im Laufen. Unter dieser Maßgabe könnten Läufe über verschiedene Böden oder bei Regen durchgeführt werden. Diese Methode ist die Vorherrschende im Spektrum des Mehrper- spektivischen Unterrichts. Sie ist griffig, gibt einen recht klaren Handlungsrahmen vor und ist für Lehrer und Schüler recht leicht zu begreifen. In der Literatur sind die meisten exemplarischen perspektivischen Stunden akzentuierend14. Auch die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einer Akzentuierung. Von allen denkbaren Sinnperspektiven, die im Klettern angewandt werden können (siehe 3.3), soll hier die der Wagniserziehung genauer betrachtet werden.

- „Kontrastieren“ verbindet zwei verschiedene, sich scheinbar widersprechende Per- spektiven in einem Thema miteinander. So könnte im Kampfsport zunächst der Leis- tungsaspekt mit einer intensiven Bodenkampfeinheit durch eine direkt anschließende „Körpererfahrung“ mit Meditation kontrastiert werden. Die Aufmerksamkeit der Schüler soll so auf die verschiedenen Dimensionen ein und derselben Sportart gelenkt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Exkurs zum Begriff des mehrperspektivischen Unterrichts

2.2 Zielsetzung der Wagniserziehung

Zielsetzung der Wagniserziehung in der Schule ist es, wie bereits angedeutet, den Schüler durch das Schaffen von Wagnissituationen zum Erleben seiner eigenen psychischen und phy- sischen Leistungsgrenze zu bringen. Er soll seine Fähigkeiten im Wechsel mit der Aufgabe einschätzen und erkennen lernen. Dabei wird in Kauf genommen, dass die situative Unsicher- heit als Bedrohung für die „physische und z.T. auch psychische Unversehrtheit“ (Link/Uhler- Derigs/Aschebrock 2007) wahrgenommen wird. Da im Sportunterricht nichts unterrichtet wird und werden darf, was schon von vornherein eine Gefahr für die Gesundheit des Schülers darstellt, ist der limitierende Faktor in einer Wagnissituation die eigene Bereitschaft, dieses Wagnis anzunehmen. Diese „Annäherung und die mögliche Überschreitung der Grenze“ schafft eine Spannungssituation, in der der Wagende „an Grenzen wachsen kann“ (Scholz 2005, S.15).

Früher hat man diese Bereitschaft, seine eigenen Grenzen erfahren zu wollen, Mut ge- nannt und Mutproben in den Unterricht eingebaut. Der heutige Begriff der Wagniserziehung ist damit allerdings nicht ganz deckungsgleich. Im Gegensatz zu dem Mut als eine vor allem dynamische, schaffende Kraft ist die Erziehung zum Wagnis ein Erziehen zum Erkennen der eigenen Grenzen. Die Perspektive „Wagen und verantworten“ umfasst auch das realistische Einschätzen der eigenen Grenzen (vgl. Link et al. 2007). Durch ihr Austesten soll erfahren werden, welche Aufgaben mangels Fertigkeit noch nicht lösbar sind. Diese können nicht durch Mut bewältigt werden, sondern nur durch vermehrte Anstrengung oder vermehrtes Ler- nen.

So oder so sind Mutproben und Wagnisse ein wichtiger Teil im Sportunterricht, wenn nicht im gesamten Entwicklungsprozess der Persönlichkeit. Sie sind als ein „Wechselspiel von Eigenaktivität, Selbstermutigung und emotionaler Befriedigung“ (Schleske 1977) zu se- hen und damit „ein wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung“ (Neumann 1998, S.5). Durch das Erleben der eigenen Fähigkeit, eine Situation mit allen zu Verfügung stehen- den Mitteln gerade noch kontrollieren zu können, werden wertvolle Rückschlüsse über das Ausmaß dieser Fertigkeit gewonnen.„In der Gratwanderung zwischen Sicherheit und Wagnis und ihrer Reflektion sollten die Kinder wertvolle Erfahrungen gewinnen.“, wie Tiemann es formuliert (2005, S.18).

Als weiteres Lernziel soll der Schüler dahingehend sensibilisiert werden, „das rechte Maß zu finden zwischen unerreichbar hohen oder lächerlich geringen Anforderungen“ (Ullmann 2002, S.18). Gieß-Stüber beschreibt anhand eines Beispiel diesen Prozess (1998, S.139f): Studierende wurden vor eine Kletterwand gestellt, die mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen versehen war. Den Probanden wurde es freigestellt, welchen Aufstieg sie wählen. Der gewählte Schwierigkeitsgrad erwies sich in fast allen Fällen als zu hoch oder zu niedrig. Erst mit steigender Erfahrung konnte der gerade noch zu meisternde Grad gefunden werden. Die Studierenden wurden nach dem Austesten der individuellen Fertigkeiten befähigt, die Wagnisse, die sie als nächstes eingehen wollten, realistisch einzuschätzen.

Wer eine Grenze erkannt hat, weiß auch, bei welcher Aufgabe er sie überschreiten würde. Im Sinne der Wagniserziehung kann es also als Erfolg gelten, wenn ein Schüler die Mitarbeit an einer Aufgabe aus reflektierten Gründen ablehnt Dies ist die Befähigung, ohne Gesichts- verlust „Nein“ sagen zu können, oder wie Neumann es nennt, „den Mut zum Rückzug“ zu erlernen (2003, S.59).

Eine geringe Wagnisbereitschaft dagegen kann zu einem hartnäckigen Beeinträchtigungsmuster führen. „Jede gefährliche Handlung wird vorsorglich vermieden, und das Bild von der eigenen Hilflosigkeit wird immer wieder neu bestätigt, da positive Gegenerfahrungen aufgrund der Angstbarrieren nicht gemacht werden können.“ (Dithmar 1995, S.19). Durch das Erleben der eigenen Angst und der Hilflosigkeit ihr gegenüber baut sich eine immer größere Ängstlichkeit auf, die sich vielleicht sogar verfestigt. Daher hat die Wagniserziehung in der Schule folgende Aufgaben (vgl. Link et al. 2007):

- Durch Konfrontation mit Wagnissituationen soll das eigene Können überprüft und weiterentwickelt werden.
- Durch Erfahrungen können Wagnis und Risiko besser eingeschätzt werden.
- Durch Erkennen der eigenen Leistungsgrenzen soll die Verantwortlichkeit für das eigene Tun erlernt werden. Dazu gehört auch das Ablehnen von Aufgaben.
- Es soll erfahren werden, dass Ängste nicht hilflos hingenommen werden, sondern aktiv und mit Hilfe anderer überwunden werden können.

2.3 Der Begriff Wagnis

Was ein eigentlich ist und wie es zustande kommt, darüber herrscht nicht überall Einigkeit. Manche Autoren sprechen von Risiko, Wagnis und Abenteuer in einem Atemzug, während andere da klare Abgrenzungen vornehmen. Im Folgenden soll aus dem Blickwinkel der Pädagogik und der Psychologie geklärt werden, wie man ein Wagnis im Sportunterricht definieren kann, und vor allem: warum es eingegangen wird.

2.3.1 Das Wagnis aus sportpädagogischer Sicht

Für die Schule muss der Begriff Wagnis vor allem sportpädagogisch betrachtet werden. Die Psychologie kann einen theoretischen Unterbau geben, der das Verständnis der Handlungsabläufe in einer Wagnissituation ermöglicht. Die Pädagogik gibt die konkreten Handlungsweisen vor, mit denen man die Erziehung zur Wagnisbereitschaft ermöglicht.

In der Literatur werden die Begriffe „Spannung“„Wagnis“, „Risiko“, „Grenzerfahrung“ und „Abenteuer“ häufig synonym verwendet15. Auch im Alltag ist eine Abgrenzung der einzelnen Begriffe nicht immer einfach. Im Allgemeinen wird immer von einem Risiko gesprochen, wenn eine potentiell gefährliche Situation gemeint ist.

Einen präzisen Ansatz für eine Definition von Wagnis liefert Neumann: „Wagnissituatio- nen müssen aufgesucht oder hergestellt werden. Außerdem müssen Handlungssituationen, z.B. Klettern - damit diese als Wagnissituationen gelten - eine Unsicherheit beinhalten, die prinzipiell nie gänzlich beherrscht werden kann.“ (1998, S.8). Um eine Ergänzung dieser De- finition bemüht sich Bräutigam: „Wer wagt, sucht aus eigener Entscheidung eine unsichere Situation und bemüht sich, diese im Wesentlichen mit seinen eigenen Fähigkeiten zu bewälti- gen.“ (2006, S.9).

Die Unsicherheit der Situation beinhaltet eine potentielle Gefährdung. Also „steht das Wagnis im Sport für eine individuelle und freiwillige Entscheidung, sich in eine offene und unsichere Ausganglage zu begeben, die eine leibliche Gefährdungskomponente aufweist.“ (Neumann 2003, S.58). So formuliert greift ein Wagnis allerdings zu kurz, denn auch eine antizipierte soziale Gefahr kann individuell zu dem Gefühl führen, etwas zu wagen.

In ein Wagnis begibt man sich also immer selber hinein, man liefert sich der oben erwähn- ten Unsicherheit also aus oder nimmt sie billigend in Kauf, eben um sie zu erfahren. „Auf das

Wagnis geht man zu, um es zu bewältigen.“ (Gröner/Ströhla 2004, S.26). „Ein Wagnis gehe ich nicht ein, obwohl es gefährlich ist, sondern weil es gefährlich ist“ (Bräutigam 2006, S.11) Diesen Definitionen ist immer die aktive Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst (eigene Motivation, eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten) und der Situation (Anforderung, Gewinn) immanent.

Des Weiteren ist eine Differenzierung zwischen einem Wagnis im erlebnispädagogischen Sinne und einem Wagnis im alltäglichen Sinne in der Literatur zu finden. Ein Beispiel ist die Unterscheidung zwischen dem „gewagten Pass“ in einer Spielsportart und einem „gewagten Sprung“ (Kleindienst-Cachey 2006). Der gewagte Pass steht im Kontext einer größeren Hand- lungsweise, dem Spielen. Ein Spiel ist gekennzeichnet durch eine nicht vorhersehbare Viel- zahl von Handlungsweisen, die spontan und kreativ verbunden werden können. Ein Pass in einem Basketballspiel kann als gewagt bezeichnet werden, wenn er unter Zeit- und Leistungs- druck ohne Blickkontakt am Gegner vorbei zum Fänger gespielt wird. Ein Wagnis im anthro- pologischen Sinne ist er jedoch nicht, da er nicht der Grenzfindung und -erweiterung dient, sondern zweckgebunden im Rahmen einer größeren, spannungsgeladen Aufgabe verwendet wird (vgl. Balz/Kuhlmann 2003, S.179). Ein Spiel hat damit mehr Gemeinsamkeiten mit ei- nem Abenteuer.

Dieses steht im Gegensatz zum wenigstens in Grundzügen planbaren Wagnis. Gieß-Stüber dagegen verbindet mit dem Begriff Abenteuer neben den Begriffen „Spektakuläres, Gefährli- ches, Natur, Mut, Männlichkeit und Authentizität“ eine erlebnispädagogische Komponente, welche „Erfahrung der eigenen Kompetenz, Selbsttätigkeit in einer Situation der Verdich- tung“ (1995, S.134) umfasst. Eine Synthese aus diesen Positionen beschreibt die pädagogi- sche Kategorie Abenteuer wohl am Besten so: Ein Abenteuer ist die Verdichtung mehrerer erlebnis-, risiko- und wagnisreicher Anforderungssituationen. Ein solches Abenteuer beinhal- tet mehrere Sinnperspektiven und folgt daher einem offenen Bildungsziel16.

Die Abgrenzung von Wagnis und Risiko ist nicht ganz einfach, wie auch schon der syn- onyme Sprachgebrauch zeigt. Balz und Neumann verweisen darauf, dass „der Begriff des Risikos […] eher einem technisch-naturwissenschaftlichen Verständnis folgt“ und auf die Wahrscheinlichkeit verweist, das „a) ein Schadensfall eintritt und b) dieser ein variables Schadensmaß besitzt.“ (1994, S.49), während das Wagnis eher positiv besetzt ist. Allerdings vernachlässigt diese Definition, dass auch bei einem Wagnis ein Schadensfall unterschiedlichen Ausmaßes eintreten kann, zum Beispiel wenn ein Autofahrer mit überhöhter Geschwindigkeit eine Kurve nimmt, um seine eigenen Steuerkünste zu erproben.

Definitionsgemäß wird die leibliche Unversehrtheit beim Wagnis aufs Spiel gesetzt (vlg. Neumann 2003) und kann daher sehr wohl bei Misslingen einen Schadensfall zur Folge ha- ben. Folglich sollte eine Unterscheidung von Risiko und Wagnis eher anhand der Struktur der Handlung vorgenommen werden. Ein Wagnis, wie schon beschrieben, wird eingegangen. Das Risiko dagegen kommt auf einen zu, es wird erfahren. Die Rezeption eines Risikos ist weit- gehend passiv, da die Problemlösung außerhalb der eigenen Handlungskompetenz liegt.

Dennoch kann man sich in eine Risikosituation begeben. Der Unterschied zum Wagnis ist, dass bei einem Risiko nur die Hinleitung zur Situation kontrollierbar ist, während beim Wagnis eine ständige Handlungsregulation möglich ist. Beherrschbarkeit ist das entscheidende Wort17. Ein Wagnis, auch wenn es momentan außerhalb der Möglichkeiten des Eingehenden liegt, ist wenigstens potentiell beherrschbar, d.h. er könnte es irgendwann meistern. Das Risiko beinhaltet immer die letztendliche Unbeherrschbarkeit der Situation. Ein schönes Beispiel dafür ist der Vergleich eines Bungeesprunges mit einem rückwärtigen Abfaller von einem 3- Meter-Brett im Schwimmbad (vgl. Kleindienst-Cachey 2006).

Beim Bungeesprung liegt die Lösung der Situation außerhalb der eigenen Person, da diese nichts weiter tun kann, als der Technik und dem Material zu vertrauen, genauer: ihnen sein Leben anzuvertrauen. Versagt ein Ausrüstungsteil, kann der Springer nicht mit seinen eigenen Fertigkeiten oder Fähigkeiten in das Geschehen eingreifen. Aus Sicht des Erfahrenden ist die Bewältigung dieses Risikos nicht mit der Erfahrung seiner eigenen Leistungsgrenzen verbun- den, eben weil die Auflösung der Situation nicht durch Fähigkeiten oder Fertigkeiten, sondern durch Glück erfolgt. Ein Test, ob bestimmte Fertigkeiten also ausgeprägt genug sind, um eine Aufgabe zu bewältigen, kann so nicht durchgeführt werden. Stattdessen wird die Charakterkomponente Mut getestet, die bei manchen solcher Proben auch als Dummheit firmiert.

Beim Abfaller vom 3-Meter-Brett dagegen liegt es am Springer selbst, ob er das Wagnis meistern kann. Zu einem gelungenen Sprung gehört nicht mehr als die Bereitschaft, sich fal- len zu lassen und Körperspannung. Dem Sprung entgegen wirken die Antizipation der Schmerzen bei einem misslungenen Sprung, Höhenangst, Versagensängste vor Zuschauern, mangelndes Vertrauen in die eigenen körperlichen Fertigkeiten oder in die Kompetenz des anleitenden Lehrers und viele andere Faktoren, die aber alle überwunden werden können! Das Instrumentarium zur Bewältigung der Situation liegt in der Person selber. Es gibt, anders als beim Risiko keinen „Faktor Glück“. Es gibt nur die inneren Persönlichkeitsfaktoren, welche die Bereitschaft beeinflussen, ein Wagnis in Angriff zu nehmen. Wie unter 2.3.2 genauer er- läutert, erfüllt einen die erfolgreiche Bewältigung eines Wagnisses mit einem freudvollen Gefühl. Da es nur die internen Faktoren sind, welche die Leistung limitieren, ist auch der Er- folg ausschließlich auf die eigene Person zu beziehen. Und nichts macht glücklicher als zu wissen, wie gut man eigentlich ist! Bei einem Erfolg hat man eine positive Rückkopplung über seine eigenen Fähigkeiten, und bei einem Misserfolg hat man dich Möglichkeit, aus die- sem zu lernen. Bei einem Risiko kann man nur hoffen, dass es das nächste Mal besser klappt.

Ein Wagnis ist immer eine individuelle Aussage. Es muss als „persönlich bedeutsame Herausforderung“ (Gröner/Ströhla 2004, S.29) begriffen werden. In der Wagniserziehung im Sportunterricht ist genau das der Dreh- und Angelpunkt, aus dem sich die immanente Proble- matik der Wagniserziehung ergibt: „Was für den Kletteranfänger ein ‚aufregendes Wagnis ist’ kann für den Fortgeschrittenen bereits ‚langweilige Routine’ sein.“ (Ullmann 2002, S.19).

Sportliche Handlungssituationen bieten immer die Möglichkeit, seine eigene Identität zu erfahren, „Selbstaufklärung“ (Becker 1962, S.16; zitiert nach Neumann 1998, S.9) zu betrei- ben. Ein wichtiger Aspekt dabei kommt der Analyse der eigenen Mittel zu. Ergibt die Bewertung der Bedrohung eine über den Leistungsmöglichkeiten liegende Aufgabe? Oder wird das Wagnis im Kontext von Aufgabe-

Abbildung 3: Faktoren der Grenzsuche in riskanten Situtationen. Aus: Belohnung als zu groß

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Allmer 1995, S.77 angesehen? Unter dem Aspekt der Selbstaufklä- rung werden durch riskante oder gewagte Manöver die Grenzen der eigenen Leistungsfähig- keit und der eigenen Leistungsbereitschaft gesucht. Allmer nennt diese beiden Kategorien die „Bestätigung (…) durch Selbstwirksamkeit und (…) Selbstverantwortlichkeit“ (1995, S.76). In der Grafik ist dies mit dem möglichen Austesten der jeweiligen Grenzen dargestellt. Die Leis- tungsgrenzen und die Risikogrenzen (synonym für Wagnisgrenzen) können nur erfahren wer- den, wenn der Tester Verantwortung für sich selbst übernimmt und selber handelt.

In dem Prozess lernt der Handelnde aber auch, wie weit er gehen kann. Das heißt, er er- fährt Selbstaufklärung. Bähr und Gröben bezeichnen diesen Prozess als die „Selbstfindung einer Aufgabe“, welche weitgehend eigenständig gelöst werden soll. Die Erziehung zur Wag- nisbereitschaft ist also eine Erziehung zur „Selbstüberwindung“ (2002, S.13). Dieser Begriff ist nicht ganz glücklich gewählt, da er auch in Lebensbereichen benutzt werden kann, die vom Wagnis recht weit entfernt liegen können, wie das Empfinden von Ekel, Schmerz, Trauer und ähnlichem. Der Wagniserziehung einen solchen allgemeinen Einfluss zuzuschreiben ist etwas überzogen18. Daher ist es wohl vermessen, von der Bereitschaft, ein Wagnis einzugehen direkt auf die Fähigkeit zur generellen Selbstüberwindung einer Person Rückschlüsse ziehen zu können. Aber die Bereitschaft, seinen Ängsten gegenüber zu treten, wirkt sich vielleicht auch auf die Bereitschaft aus, andere negative Emotionen unabhängig vom Ergebnis ähnlich zu behandeln.

Nach all dem Beschreiben des Eingehens auf Risiken und Wagnisse muss auch gesagt werden, dass auf ein Wagnis verzichtet werden kann oder eine Person scheitern kann, ohne dass dieses gleich als negativ gilt. Ganz im Gegenteil, es ist ein wichtiger Aspekt der Wagnis- erziehung, dieses zu ermöglichen (vgl. Neumann 2003, S.51f). Was im ersten Augenblick wie Angst (siehe 2.4) aussehen kann, kann der planvolle Verzicht nach Auswertung aller aktions- relevanten Faktoren sein. Auch dieses ist ein wertvoller Schritt zur Wagniserziehung, welche ja explizit den verantwortungsvollen Umgang mit Wagnissen schulen möchte. Zu dieser Ver- antwortung gehört auch der realistische Umgang mit sich selbst im Sinne einer angemessenen Einschätzung seiner eigenen Fertigkeiten (vgl. Ullmann 2002, S.29). Ein wesentlicher Be- standteil von Mut ist auch der „Mut zum Nein-Sagen“ (Link et al. 2007).

Insgesamt kann man sagen, dass ein Wagnis also eine Situation ist, in der die Grenze zwischen dem „Gerade noch möglichen“ und dem „Gerade nicht mehr möglichen“ unter Einsatz aller Kräfte und der Möglichkeit des Verlustes von leiblicher und seelischer Gesundheit ausgetestet wird. Dafür müssen folgende Merkmale für ein Wagnis gelten:

1) Ein Wagnis muss freiwillig eingegangen werden. Ist das nicht der Fall, kann ein intendiertes Wagnis schnell zu einem Risiko und damit zu einer Bedrohung werden.
2) Ein Wagnis muss bewusst eingegangen werden. Wird nicht gesehen, dass eine Gefahr besteht, kann nie die eigene Gefahrenkompetenz erkannt werden.
3) Ein Wagnis kann nur in einer Situation eingegangen werden, in der die Aufgabe prinzipiell lösbar ist. Sobald die Aufgabe nicht nur außerhalb der eigenen Kompetenz liegt, sondern auch systematisch bedingt nur mit Glück oder Vertrauen zu lösen ist, handelt es sich nicht mehr um Wagnisbereitschaft, sondern um Mut- oder besser Risikobereitschaft.
4) Ein Wagnis muss den Erlebenden physisch und/oder psychisch an eine Grenze bringen, die dieser austesten kann.
5) Das Wagnis muss ein Scheitern hervorbringen können. Dieses Scheitern darf nicht immanent sein. Es ergibt sich aus der ansteigenden Schwierigkeit, der sich jeder Wagende selber stellen kann. Und dieses Scheitern darf nicht mit ernsthaften psychischen, physischen oder materiellen Verletzungen einhergehen (vgl. Neumann 1998, S.4).
6) Erfolg oder Misserfolg müssen vom Handelnden selber eindeutig erkannt werden können (vgl. Gieß-Stüber 1995, S.143). Bei einem Fehlschlag sollte es offensichtlich sein, dass die Lösungskompetenz noch nicht groß genug ist, was dann den Reflexionsprozess auslöst.

2.3.2 Das Wagnis aus sportpsychologischer Sicht

Aus psychologischer Sicht sind die Prozesse die eine Person durchlebt, wenn sie ein Wagnis eingeht, relativ einfach zu beschreiben. Dabei sind die pädagogischen Unterscheidungen zwischen Risiko, Wagnis, Abenteuer oder Spannung unerheblich, da die biologischen Reaktionen dieselben sind. Interessant ist eher das dahinter liegende Motiv: Warum geht diese Person ein Wagnis ein? Warum begeben sich Menschen generell in potentiell gefährliche Situationen? Und warum empfinden sie dabei auch noch Spaß oder wenigstens derartig gestaltete Emotionen, dass sie sich erneut dieser Bedrohung aussetzen?

Zunächst einmal erfährt ein Organismus, der sich in eine Wagnissituation begibt, Stress. Zimbardo bietet folgende Definition von Stress an: „ Streß [!] ist ein Muster spezifischer und unspezifischer Reaktionen eines Organismus auf Reizereignisse, die sein Gleichgewicht stören und seine Fähigkeit zur Bewältigung strapazieren oder überschreiten. Diese Reizereignisse umfassen eine ganze Bandbreite externer und interner Bedingungen, die allesamt als Stressoren bezeichnet werden. Ein Stressor ist ein Reizereignis, das vom Organismus eine Anpassung (adaptive Reaktion) verlangt.“ (1999, S.370).

Das Empfinden von Stress und auch Angst kann mit der Lazarus-Schachter-Theorie der Bewertung erklärt werden (vgl. Zimbardo.1999, S.365).

Vom jeweiligen Individuum wird ein auslösender Reiz aufgenommen, zusammen mit einer physiologischen Erregung. Diese kann durch den Reiz bedingt werden, wird aber auch unabhängig von diesem verarbeitet. Beide Erfahrungen werden in einem Prozess der Bewertung (appraisal) gedanklich und emotional verarbeitet. Dabei werden die Faktoren der Situation erfasst und mit bekannten Situationen verglichen. Jede Art von Afferenz,

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Lazarus-Schachter- Modell der Bewertung. Aus: Zim- bardo 1999, S.365

wie die artikulierte Anforderung eines Lehrers, geben Hinweise, was von dem Handelnden erwartet wird. Im Bewertungsmodell wird die gesamte Umwelt als auslösender Reiz verstan- den, nicht nur ein spezifischer Reiz. Beim Erfassen der Situation werden im primary appraisal also alle Erwartungen, Anforderungen und auch Belohnungen antizipiert. Im zweiten Schritt, dem secondary appraisal werden die eigenen Ressourcen mit den Anforderungen verglichen. Diese sind materieller (z.B. Geld), sozialer (z.B. Freunde) und persönlicher (Kompetenz, Fä- higkeit, Fertigkeit) (vgl. Zimbardo 1999, S.371) Natur.

[...]


1 Zitiert nach Gröner/Ströhla 2004, S.26

2 Vgl. Koch 1994, Dithmar 1995, Brückel/Siemen 1999, Schmid 2005

3 Vgl. Paschel/Scheel 1992, Kronbichler 1993

4 Vgl. Neumann/Schädle-Schardt 2000, Ullmann 2002, Neumann 2001

5 Vgl. Witzel 1998, Winter 1999 und 2001, Fasan 2005

6 Vgl. Schädle-Schard 1993 und 2002, Köstermeyer 2001 und 2005, Winter 2004, Klein/Schunk 2005

7 Vgl. Kittsteiner/Neumann 1998, Tiemann 2005

8 Vgl. Hinkel/Betz 2001, Kittsteiner/Neumann 2002, Ringler 2005, Redenyi/ Müller/Obendorfer/Obendorfer 2005

9 Vgl. Mosebach 2002 und 2004, Ehmler-Happ 2004, Geist 2004, Jakob 2004, , Schwarz 2004

10 Vgl. Baschta 2004, Menze-Sonneck 2004

11 Kronbichler beschreibt ihren Versuch, in jeder Turnstunde eine Situation anzubieten, „in der sich die Kinder mit Höhe, Klettern und Fallen auseinandersetzen konnten.“ (1993, S.24). Zwar wird hier die Bedeutung des Wagnisses erwähnt, aber nicht als eigenständige Kategorie weiter verfolgt.

12 Klein erwähnt das „Überwinden dieser Angst“ im Schulsport kurz (1999, S.48).

13 Vgl. Neumann/Schädle-Schardt 2001, Ullmann 2002, Schülting-Enkler 2002, Balz/Neumann 2004, Fritzen- berg 2007

14 Vgl. Kronbichler 1993, Balz/ Neumann 1994, Nickel 1994, Dithmar 1995, Neumann/Kittsteiner 1998, Bähr/Gröben 2002, Jakob 2004, Menze-Sonneck 2004, Schwarz 2004, Tiemann 2005

15 Vgl. Schleske 1977, Le Breton 1995, Allmer 1995, Gieß-Stüber 1995, Witzel 1998, Beier 2001, Ullmann 2002, Bruckmann/Recktenwald 2003, Scholz 2005, Tiemann 2005, Gröben 2007

16 Diese Unsicherheit in der Wirkung eines Abenteuers in der Pädagogik wird dadurch widergespiegelt, dass die erhofften Effekte auf Jugendliche recht vielfältig und diffus formuliert werden (vgl. Koch 1994, Dithmar 1995 und Schmid 2005). Die Unsicherheit in der Wirkung rührt von der Unsicherheit des Verlaufes her. „Das Aben- teuer ist nicht planbar, es kommt überraschend und ist damit sehr risikoreich“ (Gröner/Ströhla 2004, S.26). Dem gegenüber steht das Problem der modernen Abenteuergesellschaft: „Man begibt sich nicht mehr auf Abenteuer, geht nicht mehr ungewisser Wege; nein, das Abenteuer wird von langer Hand geplant, und so wenig wie nur

möglich wird dem Zufall überlassen.“ (Le Breton 95, S.107).

17 Risikosportarten können durch folgende Komponenten gekennzeichnet werden: außerordentliche körperliche Strapazen, ungewohnte Körperlagen und -zustände, ungewisser Handlungsausgang, unvorhersehbare Situations- bedingungen und lebensgefährliche Aktionen (Allmer 1995, S.64). Wie man sieht, sind die Charakteristika in Teilen mit denen des Wagnisses übereinstimmend. Aber bei einem Risiko sind die Ungewissheit und die Unvor- hersehbarkeit wesentlich größer, und sie sind nicht durch eigene Fertigkeiten oder Fähigkeiten beeinflussbar. Die körperliche Komponente beim Wagnis hat es zum Ziel, eine Grenze zu erfahren. Beim Risiko wird diese Grenze bewusst überschritten, um Reserven zu aktivieren, die normalerweise nicht angetastet werden können und sollen.

18 Vergleichbar mit dem Konzept der „sportbezogenen Risikofähigkeit“ von Nickel (1994, S.42).

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Klettern als Mittel der Wagniserziehung im mehrperspektivischen Sportunterricht
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Sportwissenschaft)
Note
2,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
79
Katalognummer
V87840
ISBN (eBook)
9783638023146
ISBN (Buch)
9783638921077
Dateigröße
2311 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Klettern, Mittel, Wagniserziehung, Sportunterricht
Arbeit zitieren
Jasper Schaeffer (Autor:in), 2007, Klettern als Mittel der Wagniserziehung im mehrperspektivischen Sportunterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87840

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