Selbstverletzung bei Jugendlichen unter besonderer Berücksichtigung des Ritzens


Hausarbeit, 2002

26 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Begriffsklärung
2.1 Selbstverletzendes Verhalten allgemein
2.2 „Ritzen“ im Besonderen

3 Ritzen – erste Auseinandersetzung
3.1 Betroffene Personen und Bedeutung des Ritzens
3.2 Gefühle vor, während und nach dem Ritzen
3.3 Umgang mit dem eigenen Problem, nachahmendes Verhalten
3.4 Auslösesituationen

4 Ursachen und Umfeld
4.1 Problem des „Erwachsenwerdens“, Pubertät
4.2 Besondere Bedeutung der Menstruation
4.3 Autonomie – Abhängigkeitskonflikt
4.4 Mögliche familiäre Ursachen
4.5 Gesellschaftliche Ursachen
4.6 Ritzen in sozialen Einrichtungen

5 Motivation Ritzen betreffend

6 Absicht oder Zwangsverhalten?
6.1 Bewusstheit und Selbstkontrolle
6.2 Selbstentfremdung
6.3 Spaltung zwischen Körper und Selbst
6.4 Intention

7 Ausblick / Schlusswort

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Der seelische Schmerz quält mich fortwährend,

das Schneiden verringert den Schmerz nicht mehr,

egal, wie tief ich schneide.

Ich will, dass dieser Schmerz aufhört.

Die Menschen glauben, dass die Zeit alle Wunden heilt,

aber sie stehen draußen und schauen rein.

Ich bin drinnen und spüre alles.

Ich möchte verschwinden, überhaupt nicht mehr hier sein.“

„Meine Augen brennen vor Hass und Wut,

ich starre jeden um mich herum an, ohne es zu wollen,

aber ich kann nicht aufhören – der Hass in mir ist so stark.

Ich habe Angst davor, ihn herauszulassen, Angst davor, dass er in Gewalt umschlägt.

Ich schreie innerlich und wünsche mir doch so sehr, laut herauszuschreien,

aber ich kann so viel Wut, so viel Schmerz nicht zeigen.

Deshalb wirbeln die Schreie in meinem Kopf herum,

treiben mich in den Wahnsinn,

treiben mich zu etwas Selbstzerstörerischem.“

(Tyler)[1]

Welche Umstände bringen junge Menschen dazu, sich auf diese Weise auszudrücken?

Aus welchen Gründen müssen sie täglich mit solchen Gedanken und Gefühlen leben?

Warum werden die Zahlen der selbstverletzenden Jugendlichen immer größer?

All dies sind Fragen, die mich seit längerer Zeit beschäftigen, nicht zuletzt deshalb, weil zwei meiner Freunde davon betroffen sind. Leider wird in der Öffentlichkeit kaum über dieses Thema berichtet, obwohl die Gruppe der sich selbst verletzenden Jugendlichen immer größer wird. Dazu muss man sagen, dass es in der Geschichte der Menschheit zu jeder Zeit Personen gegeben hat, die sich selbst Schaden zufügten, meist jedoch im Stillen. Entdeckungen wurden entweder verurteilt oder totgeschwiegen. Heute gibt es immerhin Ansätze, dieses gesellschaftliche Problem ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und Verständnis für die betroffenen Jugendlichen zu wecken. Wenn ich von Jugendlichen spreche, beziehe ich mich auf junge Menschen im Alter von 14 bis 24 Jahren, wobei ich mein Interesse fast ausschließlich weiblichen Betroffenen widme. Es gibt zwar auch junge Männer, die sich selbst verletzen, diese bilden jedoch eher die Ausnahme.

In dieser Arbeit möchte ich mich genauer mit den Ursachen, dem Vorgang und der Psychodynamik von selbstverletzendem Verhalten bei Jugendlichen auseinandersetzen.

Den Schwerpunkt möchte ich dabei auf das Phänomen des „Ritzens“, also des Verletzens der eigenen Haut legen.

Ich hoffe, mit dieser Arbeit das Bewusstsein und auch das Verständnis des Lesers für dieses sehr aktuelle Thema zu wecken und auch ein wenig zum Nachdenken anzuregen, denn es muss sich in unserer Gesellschaft dringend etwas ändern, wenn wir in Zukunft nicht verstärkt mit diesen oder ähnlichen, neuen oder bekannten Problemen konfrontiert werden wollen.

2 Begriffsklärung

2.1 Selbstverletzendes Verhalten allgemein

Neben der Bezeichnung selbstverletzendes Verhalten werden noch folgende Begriffe häufig verwendet: Autoaggression, symbolische Verletzung, Para – suizid, selbstzerstörerisches oder selbstschädigendes Verhalten. Man versteht darunter aggressive Verhaltensweisen, die der Betroffene jedoch nicht nach außen, sondern gegen sich selbst richtet. Der eigene Körper wird also physisch gereizt oder geschädigt. Autoaggressivität kann unter anderem der Selbststimulation, Körperwahrnehmung, Autoerotik oder der Verletzung des Interaktionspartners dienen.[2] Dabei ist die Verletzung des eigenen Körpers nicht unbedingt vorrangiges Ziel, obwohl sie durchaus angenehmen Charakter für den Betroffenen haben kann – sie kann in diesem Fall als „weniger unangenehme Konsequenz“[3] bezeichnet werden.

Selbstverletzende Verhaltensweisen haben meist einen reflexähnlichen Ablauf, wobei die Kinder oder Jugendlichen eine gesenkte oder wechselnde Schmerzempfindung und Körperwahrnehmung haben. Selbsterhaltende Instinkte und Selbstkontrollmechanismen funktionieren nicht mehr, Bewusstheit oder kognitive Steuerung ist kaum noch vorhanden. Die autoaggressiven Verhaltensweisen können also durch eigene Anstrengungen teilweise nicht oder kaum mehr kontrolliert werden.

Man unterscheidet hierbei drei Schweregrade:

1. leichte Autoaggression: keine sichtbaren Verletzungen, erkennbarer Situationsbezug (Wut, Überforderung, Verweigerung); ein Beispiel hierfür wäre das Schlagen mit der flachen Hand.

2. mittlere Autoaggression: sichtbare Verletzungen, teilweise automatisiert, kommen intensiver und häufiger zum Ausdruck. Hierunter fallen zum Beispiel Beißen, Kratzen, Zwicken der Haut

und kräftiges Schlagen.

3. schwere Autoaggression: selbstverletzendes Verhalten ist sehr intensiv und kommt ohne Grund vor, ist stark automatisiert und ohne jegliche Kontrolle. Verletzungen sind lebensbedrohlich, zum Beispiel Schlagen gegen scharfe Kanten, Stechen der Finger in die Augen etc...

Weitere Formen können sein: Schneiden, Stechen, Aufkratzen der obersten Hautschicht, (Nägel) Kauen, Nagen, Aufbeißen der Mundschleimhaut, regelmäßiges Abzupfen von Wundschorf, Verbrennen der Haut oder Verätzen mit Chemikalien, Ausreißen der Körperbehaarung, heftiges Schlagen, Abschnüren einzelner Körperteile, Einnahme geringer Mengen giftiger Substanzen.[4]

2.2. „Ritzen“ im Besonderen

Unter Ritzen versteht man jenes selbstverletzende Verhalten, bei dem mit scharfen Gegenständen in die eigene Haut geschnitten wird. Häufig verwendete Gegenstände sind zum Beispiel Messer, Rasierklingen, Nadeln, Scherben, Splitter oder scharfes Plastik. Die Verletzungen reichen von leichten Kratzern bis hin zu tiefen Schnittwunden, die teilweise ärztlich versorgt werden müssen. Es kommen großflächige, eher oberflächliche Verletzungen bis hin zu wenige, sehr tiefe Schnitte vor.

Das Ritzen kann alle Körperregionen betreffen, wobei an Armen und Beinen am häufigsten geritzt wird.

Manchmal werden auch Worte wie zum Beispiel „Hass“ oder „Tod“ eingeritzt. Weitere Bezeichnungen für „Ritzen“ sind Schnibbeln, Schneiden, Schlitzen oder englisch „self – cutting“.

Ich werde in dieser Arbeit hauptsächlich den Begriff „Ritzen“ verwenden.

3 Ritzen – erste Auseinandersetzung

3.1 Betroffene Personen und Bedeutung des Ritzens

Das Phänomen des Ritzens tritt hauptsächlich in der Jugendphase auf, das heißt also von 14 bis 24 Jahren. Betroffen sind meistens Mädchen, nur knapp 20% aller ritzenden Jugendlichen sind männlichen Geschlechts. Die Jugendlichen haben in ihrem Leben, meist schon in der Kindheit, Erfahrungen gemacht oder bestimmte wichtige Erfahrungen nicht gemacht, die es ihnen erschweren oder unmöglich machen, in der Pubertät und Adoleszenz mit Konflikten und Problemen angemessen umzugehen. So haben viele seelische oder körperliche Gewalt erfahren, sind Opfer sexuellen Missbrauchs oder Zeugen von Gewaltszenen. Bekommen Kinder oder Jugendliche nach solchen Vorfällen nicht die richtige Unterstützung kommt es meist zur Bildung von Traumata, deren Auswirkungen dann erst später (im Jugendalter) zu erkennen sind. Sie haben keine Möglichkeiten, ihre Gefühle auf „normale“ Art und Weise auszudrücken. Sie lösen ihre Anspannung durch körperliche Gewalt gegen sich selbst und machen damit für sich positive Erfahrungen. So wird es sehr schwierig für sie, dieses Verhalten wieder aufzugeben wenn sie nicht professionelle Hilfe erhalten. Dabei gibt die Tiefe der zugefügten Wunden Hinweise auf die Ausweglosigkeit und Unerträglichkeit der Situation in der sich die Betroffenen befinden.[5]

Die ritzenden Jugendlichen wählen bewusst Körperstellen aus, die dann entweder so gut wie nie entdeckt werden (zum Beispiel Bauch, Oberschenkel, Brust) oder die sie mit Ärmeln bedecken können (zum Beispiel Arme), und wahlweise provozierend zeigen können.

Selten wird im Genitalbereich geritzt, was dann eine tiefe Ablehnung der eigenen Fraulichkeit anzeigt.

3.2 Gefühle vor, während und nach dem Ritzen

Bevor junge Menschen sich selbst verletzen, befinden sie sich in einem Zustand extremer innerer Anspannung und Unruhe. Aufgrund der ständigen Verdrängung aller schmerzlichen Gefühle entsteht ein Gefühl von Taubheit, innerer Leere und Haltlosigkeit. In einer Situation absoluter Verzweiflung haben die Betroffenen trotzdem keine Möglichkeit mit anderen Menschen zu reden, sie fühlen sich verlassen und verloren und haben große Angst verrückt zu werden oder sich selbst zu verlieren. Es ist kaum bis überhaupt keine Selbstwahrnehmung mehr vorhanden. Sie werden von der scheinbaren Ausweglosigkeit der Situation erdrückt und geraten in eine Art Handlungszwang, in diesem Falle sich selbst zu schneiden. Durch das Zufügen von Schmerzen und das Sehen / Beobachten des eigenen Blutes, können sie sich wieder selbst spüren und in die Realität zurückfinden.

Der Vorgang des Ritzens kann als impulsive Aktion, die einem tranceähnlichen Zustand gleicht, bezeichnet werden. Die Welt um die Betroffenen herum scheint sich aufzulösen, der eigene Körper ist vom Empfinden abgeschnitten, der gesamte Zustand ist psychisch und physisch nahezu gefühllos.

Manche Personen haben vor dem ersten Schnitt ein unangenehmes Gefühl, das überwunden werden muss. Der erste Blutstropfen bedeutet jedoch immer Erleichterung und Entlastung gegenüber dem Chaos der eigenen Gefühle. Es gibt hier keine eindeutige Beschreibung für die Wahrnehmung direkt nach dem Ritzen, klar ist, dass jeglicher emotionaler Druck wegfällt und Schmerzunempfindlichkeit besteht. Die Betroffenen spüren zwar sehr wohl etwas dabei, jedoch bezeichnen sie dies als angenehmes Gefühl und nicht als Schmerz.

Hier wird schon der paradoxe Zustand deutlich, in dem sich die ritzenden Personen befinden: dem Wunsch sich selbst wieder zu spüren steht der Zwang gegenüber, alle Gefühle zu verdrängen und jegliche emotionale Wahrnehmung auszuschalten.

Nach dem Ritzen stellt sich kurzeitig ein Gefühl der Entspannung, Ruhe und gewisse Befriedigung ein, wenn die Wunden anfangen zu schmerzen. Es ist eine Befreiung von dem vorhergehenden unerträglichen Zustand. Über den Schmerz existiert nun wieder eine gewisse Selbstwahrnehmung, das Gefühl des Schmerzes wird als angenehmer empfunden als überhaupt kein Gefühl. Der Schmerz zeigt an, dass man noch am Leben ist. Nach dem Ritzen können sich die Betroffenen mit ihren Wunden beschäftigen, Selbstmitleid empfinden und sogar weinen. Denn „es ist einfacher, wegen körperlichen Schmerzen zu weinen als wegen Verzweiflung und Traurigkeit. Der physische Schmerz ist besser zu kontrollieren und damit weniger bedrohlich als unkalkulierbare Gefühle; diese müssen wegen ihrer Unabsehbarkeit eher verdrängt werden.“[6] Wird das Ritzen bemerkt, kümmern sich andere Leute um die ritzenden Jugendlichen, sie bekommen Aufmerksamkeit. Insofern hat sich ihre Position positiv verändert, es geht ihnen besser als vorher. Nach gewisser Zeit stellt sich aber wieder das gleiche Gefühl ein wie zuvor, Leere, Hoffnungslosigkeit etc.. Dies führt zu massiver Selbstabwertung da keine wirkliche Lösung gefunden wurde, die Betroffenen werden in ihren Erfahrungen bestätigt, nichts richtig zu machen.

[...]


[1] Smith / Saradjian 2000, Seite 23, 25

[2] vgl. Rohmann / Hartmann 1988, Seite 12

[3] Rohmann / Hartmann 1988, Seite 14

[4] vgl. Smith / Saradjian 2000, Seite 16

[5] vgl. Teuber 1998, Seite 49

[6] Teuber 1998, Seite 60

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Selbstverletzung bei Jugendlichen unter besonderer Berücksichtigung des Ritzens
Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart, früher: Berufsakademie Stuttgart
Note
1,7
Autor
Jahr
2002
Seiten
26
Katalognummer
V8738
ISBN (eBook)
9783638156325
Dateigröße
643 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Autoaggression; Selbstverletzung
Arbeit zitieren
Jessica Kiss (Autor:in), 2002, Selbstverletzung bei Jugendlichen unter besonderer Berücksichtigung des Ritzens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8738

Kommentare

  • anica schön am 1.1.2011

    ich habe eine freundin die sich weh tut zum bei speil ritzen und ich weis echt nicht wie ich mich ver halten so weil es mir einfach weh tun was soll ich nur tun

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Titel: Selbstverletzung bei Jugendlichen unter besonderer Berücksichtigung des Ritzens



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