Bewusstsein bei Luhmann - was psychische Systeme erkennen und wie sie sich reproduzieren


Hausarbeit, 2008

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Vorüberlegungen
Einleitung
Systemtheorie als abgeklärte Aufklärung
Psychische und soziale Systeme

2. Wie Systeme erkennen
Konstruktivistische Annahmen
Die Form der Unterscheidung
Medium und Form
Realität als Prozess

3. Der Aufbau psychischer Systeme
Conditio Conscientia
Selbst- und Fremdreferenz
Paradoxie
Aufbau von Strukturen
Selbstreflexion
Freier Wille

4. Schlussüberlegungen
Rezeptionsprobleme

Bibliografie

Vorüberlegungen

Einleitung

Eine der Hauptschwierigkeiten beim Vorhaben sich Niklas Luhmanns Werk zu nähern, entsteht schon durch die Konzeption seiner Theorie: Luhmann will nicht ausgehend von Axiomen Komplexität entfalten, sondern geht von unüberschaubarer Komplexität aus und versucht diese zu reduzieren. Die Folge ist ein interreferentielles Begriffsrepertoire und die Not für Neulinge immer irgendwo in der Mitte einzusteigen. Auch Aufsatzthemen können so nicht hermetisch gegen den Theorierest abgesteckt werden, sondern bleiben lückenhaft mit Verweisüberschuss.

Dieser Aufsatz soll als Einführung in Luhmanns Vorstellung von psychischen Systemen und deren Erkenntnismöglichkeiten dienen, und diesbezüglich eine weitere Orientierung in seinem Werk erleichtern. Dabei werde ich mich in meinen Darstellungen den Schwerpunkt auf Denkfiguren legen, die auch für das Verständnis sozialer Systeme relevant sind. Der Aufsatz ist in vier Teile geteilt: Einen kurzen allgemeinen Teil über Luhmanns theoretische Absichten, einige Überlegungen zu seinem Erkenntnistheoretischen Standpunkt, eine Abhandlung über die spezifische Arbeitsweise von Bewusstseinssystemen und ein Schlusswort in dem ich auf einige Eigenheiten Luhmanns Theoriekonzeption aufmerksam machen will, die vor allem bei Anfängern für Verständnisprobleme sorgen könnten.

Systemtheorie als abgeklärte Aufklärung

Niklas Luhmann stellt sich die Welt als übermäßig komplexen Sachverhalt vor, der erst reduziert werden will, bevor er abgebildet werden kann und so für den Einzelnen zugänglich wird[1]. Diese Funktion der Komplexitätsreduktion, dieser „geschichtliche Prozess, der sich bemüht, die Möglichkeiten der Welt dem Erleben und Handeln als Sinn zugänglich zu machen“[2], ist für Luhmann die richtige Aufklärung. Sie ist eine Form von Aufklärung, die bereits aus der Geschichte gelernt hat. Vor allem zwei zentrale Prämissen des klassischen Aufklärungsgedankens müssen wir nach Luhmann als falsch erkennen und damit die Vorstellung aufgeben, das Aufdecken von Komplexität allein hilft dem Menschen mehr über seine Umwelt zu erfahren und seine Lebenswelt zu verbessern. Diese Prämissen sind die Vorstellung einer qualitativ gleichen Teilhabe aller an einer spezifischen menschlichen Vernunft und die Steuerbarkeit von Geschichte, die so auf eine bessere Zukunft konvergiert.

Die Soziologie hat nach Luhmann das Potential zu dieser richtigen, zu dieser abgeklärten Aufklärung, doch sie muss sich ihre Lektion anmerken lassen. Luhmann identifiziert folgende Bedingungen, als notwendig:

1. Eine heute angemessene Theorie muss die Frage nach Möglichkeiten der Reduktion von Komplexität als Leitgedanken tragen.
2. Dieses Problem kann nicht durch eine axiomatische Theorie bewältigt werden. Damit die Theorie beweglich genug bleibt um Weltkomplexität in ihrer Vielfalt fassen zu können, muss sie „aus der Sprache der Axiome und ihrer Konsequenzen in die Sprache der Probleme und ihrer Lösungen übersetzen.“[3] Nur durch diese Unabgeschlossenheit, diese innere Unschärfe kann die Theorie in ein adäquates Verhältnis zu Welt treten.
3. Folglich muss darf die Theorien ihren Gegenstand nicht primären nach Strukturen, sondern muss ihn nach Funktionen befragen. Nicht Strukturen sollen identifiziert und diesen Funktionen zugeschrieben, sondern Problemlösungen gesucht und ihre funktionalen Äquivalente gefunden werden.
4. Luhmanns Wahlmedium der Aufklärung sind, wie könnte es anders sein, Systeme.

Psychische und soziale Systeme

Ein luhmannsches System ist nicht mehr das „mehr als die Summe seiner Teile“, sondern das Treffen einer Differenz: Überall wo sich etwas von einem komplexeren Rest abgrenzt, haben wir ein System. Diese Grenze darf dabei nicht als physisches Abgrenzen einer Entität betrachtet werden, sondern als das System an sich. Das System entsteht im Prozess des Abgrenzens. Dieser Prozess vollzieht sich dank der spezifischen Arbeitsweise der Systeme: Es kann sich selbst nur durch seine und in Bezug auf seine eigenen Elemente erhalten.

Als Analyseraster bietet Luhmann zwei Typen von Systemen: Soziale und psychische bzw. Bewusstseinssysteme. Ein psychisches System, dass ist die systemische Darstellung von Bewusstsein, soziale Systeme, dass sind Interaktionen, Organisationen und die Gesellschaft[4]. Dabei darf man sich Soziale Systeme nicht als durch psychische Systeme zusammengesetzt vorstellen, sie sind eine völlig eigene Qualität System: Weder besteht die Gesellschaft aus psychischen Systemen, noch schaffen Menschen die Kommunikation einer Interaktion. Vielmehr ist die Gesellschaft die Summe aller für einander erreichbaren Kommunikationen und die Kommunikation von Interaktionen reproduziert sich selbst. All das heißt nicht, dass sich Luhmann vorstellt soziale Systeme könne es ohne Existenz von Individuen geben, aber es muss klar sein, dass sie von einander abgegrenzte und für sich geschlossene Entitäten bilden, die nur über bestimmte Modi in Kontakt treten können[5].

2. Wie Systeme erkennen

Konstruktivistische Annahmen

Die erste Frage die ich stellen möchte, ist, wie sich psychische Systeme Realität schaffen. Schon dieser Satz gibt Auskunft über Luhmanns Einstellung: Psychische Systeme konstituieren nicht Realität, sie konstruieren. Es ist die Frage nach Luhmanns erkenntnistheoretischem Standpunkt.

Er selbst beschreibt sich als operativer Konstruktivist[6]. Seine Position sieht er von naturwissenschaftlichem Grundlagenwissen präformiert: Wenn man den aktuellen Stand der Forschung ernst nehmen will, so Luhmann, muss eine Erkenntnistheorie von der operativen Geschlossenheit des Bewusstseins ausgehen. Operativ geschlossen heißt, dass das Bewusstsein keine Aktion außerhalb seiner Systemgrenzen ausführen kann, dass es systemintern arbeiten muss. Das Gehirn unterhält „qualitativ gar keinen und quantitativ nur sehr geringen Kontakt mit der Außenwelt“[7], außerdem präsentiert sich die Umwelt dem Gehirn in nur einer einzigen Qualität – es wird nur die Stärke eines Reizes übermittelt nicht aber sein Ursprung. Die farbenfrohe Erlebniswelt, der wir uns tagtäglich hingeben, kann somit nur in unserem geschlossenen Bewusstseinssystem entstehen.

Ausgehend von der Annahme operativer Geschlossenheit formuliert der Konstruktivismus die klassische idealistische Fragestellung nach der Erkenntnismöglichkeit des Subjekts um[8]. Jetzt wird nicht mehr transzendental gefragt, wie ist Erkenntnis möglich, obwohl sie offensichtlich nur durch Erkenntnisleistungen erreichbar ist, sondern es wird postuliert, Erkenntnis ist eben wegen ihrer Abkopplung von der Realität möglich[9].

Der Schritt zur radikalen Abkopplung der Systeme von ihrer Umwelt erlaubt dem Subjekt in Rente zu gehen. Die Subjekttheorie konnte diesen Schritt nie vollziehen, da sie „immer mit der paradoxen Forderung zu ringen hatte, durch Introspektion herauszubekommen, wie andere sich zur Welt verhalten.“[10] Dafür brauchte sie eine gemeinsam zugängliche, reale Welt außerhalb des Erkenntnisapparates. An die Stelle der Subjekt-Objekt Theorie tritt nun mit der System/Umwelt Unterscheidung ein differenztheoretischer Ansatz.

Durch den Schritt zur operativen Geschlossenheit soll weder Realität noch die Möglichkeit von Erkenntnis geleugnet werden, sondern klargestellt, dass sich Realität weder als „Copieren, noch Abbilden, noch Repräsentieren einer Außenweilt im System“[11] einstellt, sondern durch eine systemspezifische Operation.

Wie könnte diese Operation aussehen? Um überhaupt etwas erkennen zu können, muss es von anderen Dingen diskriminiert werden – es muss eine Unterscheidung getroffen werden, denn sonst bleibt alles eins. Unterscheidungen sind omnipräsente Basis in Luhmanns Theorie, deswegen möchte ich hier näher auf Luhmanns Vorstellung von einer Unterscheidung eingehen.

Die Form der Unterscheidung

„Sie (die konstruktivistische Erkenntnis - RL) beginnt mit der Unterscheidung und sie endet mit Unterscheidungen, wohlwissend, daß dies ihre Sache ist und nicht aufgenötigt durch das, was sich ihr als Außenwelt entzieht.“[12]

„Draw a distinction“ heißt es bei zu Beginn in Spencer Browns „Laws of Form“ und so beginnt auch die Systemtheorie: Das System ist die Differenz. Spencer Brown hat versucht ein Kalkül zu finden, um das zweiwertige Schema der booleschen Algebra mit der Arithmetik zu verknüpfen[13]. Ein Kalkül, das ist ein Set von Regeln durch die sich aus gewissen Grundfiguren neue Figuren formen lassen[14]. Spencer Brown möchte für sein Kalkül nur ein Zeichen verwenden, seine Grundfigur nennt er „Form“.

So sieht Spencer Browns Form aus. Die Form ist also eine Operation die eine Unterscheidung trifft. Sie würde das Projekt mit einer ersten Unterscheidung starten und mit anschließenden Unterscheidungen immer weiter voran treiben. Genau wie unsere gesuchte Erkenntnisoperation. Tatsächlich sind Spencer Browns Form bestimmte logische Eigenschaften und Probleme zu Eigen, die Luhmann für seine Theorie übernimmt:

1. Um ein Ding zu identifizieren, brauchen wir immer einen Gegenpart von dem wir es unterscheiden können. So bezieht sich die Form nicht nur auf einen Sachverhalt, sondern hat sie zwei Seiten: Das Abgegrenzte und das dazu notwendige Andere.
2. Eine Unterscheidung ist keine Einzeloperation, denn sie besteht selbst schon aus zwei Teilen: Man muss nicht nur ein Ding von einem oder mehreren anderen unterscheiden, sondern auch indizieren welches die aktive Seite unserer Unterscheidung ist, an welcher Stelle man weiter arbeiten will. Zu erkennen ist dies auch an der Form der Form: Ein Haken, aber zwei Komponenten.
3. Das birgt eine Paradoxie: Das Treffen einer Unterscheidung setzt immer schon eine Unterscheidung voraus. Damit stehen wir vor dem Problem wie die Unterscheidung in die Unterscheidung kommt, obwohl sie beim Entstehen der Unterscheidung schon präsent ist. Dieses Problem muss durch die Theorie erklärt werden können, damit sie kohärent bleibt. Es wird von Luhmann (in Bezug auf Spencer-Brown) als Problem des „re-entry“ behandelt.
4. Wie die Unterscheidung in die Unterscheidung kommt, wirft nicht nur eine logische Frage auf, sondern birgt auch operative Konsequenzen: Wenn man eine Unterscheidung durchführt, bedient man sich einer Operation deren Basis für die sie selbst blind ist.

[...]


[1] Luhmanns komplette Argumentation findet man in: Luhmann, Niklas: „Soziale Aufklärung“ in: ders.: „Soziologische Aufklärung 1; Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme“.

[2] Ebd.: S. 94

[3] Ebd.: S. 94

[4] Vgl. dazu: Luhmann, Niklas: „Interaktion, Organisation, Gesellschaft“ in: ders.: „Soziologische Aufklärung 2; Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft“. (5. Auflage)

[5] Vgl. dazu: Luhmann, Niklas: „Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?“ in: ders.: „Soziologische Aufklärung 6; Die Soziologie und der Mensch“. (2. Auflage)

[6] Vgl. dazu: Luhmann, Niklas: „Die Realität der Massenmedien“, Opladen 1996, S. 17ff

[7] Luhmann, Niklas: „Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität“, in: ders.: „Soziologische Aufklärung 5“; Wiesbaden 2005, S. 35

[8] Will heißen: Erkenntnis ist nur durch (bewusstseinseigene) Erkenntnisoperationen möglich, wie kann ein Bewusstsein, dann etwas außer sich selbst als existierend erkennen? Erkenntnistheoretische Tradition Zurückgehend auf Déscartes erkenntnistheoretischen Idealismus. Vgl. dazu: z.B.: Gabriel, Gottfried: „Grundprobleme der Erkenntnistheorie; Von Descartes zu Wittgenstein“; Paderborn 1998

[9] Luhmann, Niklas: „Erkenntnis als Konstruktion“; Bern 1988, S. 8/9

[10] Ebd.: S. 9/10

[11] Luhmann, Niklas: „Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität“, in: ders.: „Soziologische Aufklärung 5“; Wiesbaden 2005, S. 39

[12] Ebd.: S. 48

[13] Einführung in die Systemtheorie S. 71

[14] http://de.wikipedia.org/wiki/Kalk%C3%BCl

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Bewusstsein bei Luhmann - was psychische Systeme erkennen und wie sie sich reproduzieren
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Lektürekurs Niklas Luhmann
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
21
Katalognummer
V87007
ISBN (eBook)
9783638009706
Dateigröße
708 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit bezieht sich (neben vielen weiteren) hauptsächlich auf die Texte "Erkenntnis als Konstruktion", "Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus" und "Autopoiesis des Bewußtseins". Es ist keine Unterscheidung von frühem/spätem Luhmann gegeben.
Schlagworte
Bewusstsein, Luhmann, Systeme, Lektürekurs, Niklas, Luhmann
Arbeit zitieren
Robert Landwirth (Autor:in), 2008, Bewusstsein bei Luhmann - was psychische Systeme erkennen und wie sie sich reproduzieren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87007

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