Die Sprache in "Das Menschenfleisch" von Marcel Beyer - Kommunikation zwischen Taubstummen und Blinden


Hausarbeit, 2003

16 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Sprache als Liebeskonzept
1.1 Neufindung von Sprache
1.2 Sprache als Korper

2 Verwischung von fiction und non-fiction
2.1 BewuBtsseinstrom
2.2 Eifersucht

3 Fazit

Literaturverzeichnis

Primarliteratur:

Sekundarliteratur:

Einleitung

„[...] man [mufi] sprechen, wie Taubstummer und Blinder sick miteinander verstandi- gen[... ]““[1]

Marcel Beyer entwirft in „Das Menschenfleisch“ eine einzigartige Analyse uber das Verhaltnis von Sprache, Liebe und Wirklichkeit. Diese Analyse ist zu vergleichen mit Gunther Eichs Versuch, durch Sprache die Wirklichkeit zu finden. Gunther Eich geht davon aus, dass man nur das kennt, was man liebt[2]. Marcel Beyer entwickelt daraus ein poetisches Geflecht, indem die Sprache zu einer Art Liebeskonzept wird. Die Sprache ist dabei ein Korper, denn eine Kommunikation zwischen Taubstummen und Blindem kann nur auf Beruhrungen basieren.

Die Struktur des Romans wird durch eine klar gekennzeichnete Intertextualitat[3] unver- kennbar. Neben dieser Intertextualitat spielt Marcel Beyer mit einer ausgepragten Moti- vik, die er in seinen Kontext einbindet.

Das erste Kapitel wird sich mit dem Liebeskonzept auseinandersetzen. Zuerst wird der Idee nachgegangen innerhalb einer Partnerschaft eine neue Sprache zu konstruieren. Diese Neufindung der Sprache ist bedeutend, weil der Mensch die Sprache zur Kom- munikation benotigt, jedes Wort, das in der Beziehung fallt, jedoch bereits vorkodiert ist. Die vollkommene Verbundenheit in der Beziehung besteht somit in der Abgrenzung durch eine eigene Sprache. Danach wird das Verstandnis von Sprache als Korper be- trachtet.

Im zweiten Kapitel wird genauer auf den unabtrennbaren Aspekt der Wirklichkeit ein- gegangen. Marcel Beyer spielt damit, die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu verwischen und somit den Leser zu irritieren. Dabei wird zuerst die Romanschreibung als Bewusstseinsstrom betrachtet. Dann wird verdeutlicht, wie die Eifersucht sowohl sprachlich, als auch im Bezug auf die Wirklichkeit verarbeitet wird. Bei der Analyse wird vornehmlich von der Primarquelle „Das Menschenfleisch“ ausgegangen. AuBer- dem wird sich auf die Rede Gunther Eichs vor den Kriegsblinden bezogen.

1 Sprache als Liebeskonzept

1.1 Neufindung von Sprache

Marcel Beyer kreiert die Sprache als ein Liebeskonzept. Das erste Anzeichen dafur fin- det sich bereits in der Bezeichnung „Roman“. Der Roman ist lediglich ein anderes Wort fur eine Romanze. Eine Liebesbeziehung wird thematisiert. Wenngleich der Roman keine unubliche Liebesgeschichte erzahlt, wird die Beziehung unter neuen Schwerpunk- ten betrachtet. Es geht nicht einfach nur um die Liebe zwischen dem Ich und K., oder um die Eifersucht, die das Ich zerstort. Das Einzigartige ist die Zentralisierung auf die miteinander verwickelten Themen Liebe, Sprache und Wirklichkeit.

Jeder Mensch ist zur Kommunikation an die Sprache gebunden. Dabei wird innerhalb einer Sprache der gleiche Wortschatz fur verschiedene Menschen und fur verschiedene Situationen benutzt. Dem mochte das Ich in „Das Menschenfleisch“ entgegenwirken. Um ein HochstmaB an Nahe zwischen sich und seiner Partnerin K. zu schaffen, entwi- ckeln sie eine eigene Sprache. Eine Sprache, die noch nicht durch den Gebrauch mit anderen Menschen vorkodiert ist. Der Wunsch eine gemeinsame Sprache zu erlernen und sich somit von anderen Menschen, auch vermeintlichen Feinden abzugrenzen, kann als Versuch gedeutet werden, sich einander einzuverleiben. „...sie mir einverleiben durch mein Sprechen, mit meinen Worten ihre Worte hervorlocken, sie in die Falle ge- hen lassen...“[4] Es wird versucht dem Partner so ahnlich wie moglich zu sein, Nahe zu schaffen. Der Partner soll blind verstanden werden.

„...ich bin damit beschaftigt, sie zu beobachten, ihr anzusehen abzusehen, was ich tun muB, wie mich bewegen wie sprechen, um es ihr nachzuma- chen, um einen gemeinsamen Bereich zu schaffen, oder daB ihr immer neue Worter einfallen, die sie gar nicht ausspricht, die ich aber kennen muB, der Aussprache nach beherrschen.“[5]

In der heutigen Zeit, in der es nicht mehr die Regel ist in seinem ganzen Leben nur ei- nen Partner zu haben, ist die Angst den Partner zu verlieren groBer. Das Ich verlauft sich in diesen Angsten und einer entstehenden Eifersucht (naheres unter 2.2). Je starker die Angst ist, um so starker versucht er sich mit K. einen Mikrokosmos zu bilden, in den andere Menschen nicht eindringen konnen. Dieser Mikrokosmos entsteht durch die neue Sprache und die Korper beider. In diesem Mikrokosmos, gleicht sich vor allem das Ich an K. an. Er erlernt ihre Sprache und versucht ihr gleichzukommen.

„Aktivierung der entlegensten Bereiche, um eine Ubereinstimmung zwi- schen Verstehendem und Verstandenem wenigstens anzudeuten, du schmeckst wie deine Sprache. Im Besitz aller Sinne der fremden Zunge nacheifern, nachfahren, und was haben die Lippen zu tun, mit dem Finger tasten wie ein Blinder beim Erlernen von Mundbewegungen...“[6]

Das Ich versucht ein verstehen anzudeuten. Wie ein Blinder funktioniert Lernen und Verstehen uber das Tasten. Marcel Beyer lasst die Sprache ertasten und neu erlernen. Fur das Ich ist es ein Liebesbeweis. Es ist die Schaffung des Mikrokosmos. Wird das Tasten eines Blinden auf Gunther Eichs Idee bezogen, so wird in dem Liebeskonzept die Wirklichkeit der Beziehung nur durch die Sprache ergrundet. Die Liebe ist eine Illu­sion, doch der Mensch braucht sie und mochte an sie glauben. Verbindet man die Ideen Gunther Eichs und Marcel Beyers, so konnte man folgern, dass der „Illusion Liebe“ durch die Sprache Wirklichkeit verliehen werden soll. Wie ein Blinder muss tastend, sprachlich tastend, auf die Suche nach der Wirklichkeit gegangen werden. Einen ande- ren Menschen lieben und ihn vollendend zu verstehen, geht damit einher, einander „blind“ zu vertrauen.

Die Hoffnung sich durch die neue und eigene Sprache ganzlich gegen AuBenstehende und Probleme in der Beziehung zu stellen, schlagt jedoch fehl. Das Ich erkennt im 20. Kapitel „Herzrhythmusstorungen“, dass die Sprache alleine nicht ausreicht. Der Mensch ist zwar an die Sprache gebunden, doch ist es der Mensch, der sie anwendet.

„...uberlege ich, ob eine gemeinsam erarbeitete, erfundene oder aufgegrif- fene Sprache (welche vielleicht aus neu erfundenen Lautkorpern bestehen konnte) uberhaupt das erhoffte MaB an Verstandigung erbringen konnte, das doch vielleicht nicht nur von der Sprache selber, sondern auch von den Sprechenden abhangt.“[7]

Genau wie Gunther Eich sich ...von der Idee verabschiedet die Wirklichkeit durch die Sprache zu erfassen, zweifelt auch das Ich an seinem Liebeskonzept. Beide begehen eine „Sprachverweigerung“[8] als sie an ihrem Konzept nicht mehr festhalten konnen. Das Liebeskonzept war zu totalitar. Das Ich hat sich in der Beziehung zu K. vollig auf- gegeben. Das Ich gab seine Selbststandigkeit auf.

„...ich bin nur ein Anhangsel ihrer Sprache, [...]bin gefesselt an die Art, wie sie mit mir spricht, kenne keine andere Sprache mehr, ich habe mich verfangen im Geast, im Wurzelgestrupp, von Wasser glitschig, und schon hange ich da irgendwo in der Schlinge, ich gehe immer in die Falle...“[9]

Das Ich besitzt keine eigene Sprache mehr. Es hat sich von K. gefangen nehmen lassen. Seine eigene Identitat ist verloren gegangen. Die Angst den Partner zu verlieren und der Wunsch nach absoluter Nahe, hat das Ich dazu gebracht, sich nur noch auf K. zu kon- zentrieren. Der Mikrokosmos Sprache, lieB das Paar sich abgrenzen. Ein Paar benotigt jedoch auch noch andere zwischenmenschliche Beziehungen. K. hielt ihren Freundes- kreis aufrecht. Doch das Ich lebte nur noch fur K. Das Ich war nur noch ein Anhangsel von ihr. Dies ist keine Basis fur eine gluckliche Beziehung.

1.2 Sprache als Korper

Marcel Beyer fuhrt die Idee Roland Barthes aus den „Fragmenten einer Sprache der Liebe“ weiter. Roland Barthes stellt die These auf, dass die Sprache eine Haut sei.[10] Dadurch entsteht eine Gleichstellung von Haut und Text. Beide sind fur den Menschen lebensnotwendig. Fur ein gluckliches Leben benotigt der Mensch zudem Liebe.[11] Das Ich setzt sich mit seiner Liebe durch die Sprache und Haut auseinander. Die Haut und die Sprache verbinden verschiedene Momente. Beide stehen in einer Wechselbezie- hung. Die Haut nimmt bei einer Beruhrung nicht nur das Beruhrte wahr, sondern fuhlt gleichzeitig die Beruhrung des Beruhrten. Auch die Sprache ist selbstreferenziell und nimmt sich selbst wahr.

Das Ich nennt seine Partnerin K. Dieses K, konnte fur den Korper stehen. Dahinter konnte ein Konzept stehen, dass die Frau mit dem Korper gleichsetzt und den Mann mit dem Geist. Da „Das Menschenfleisch“ als Bewusstseinsstrom (siehe 2.1) vom Ich zu lesen ist, erfahren wir fast nichts von K. Sie kommt dem Leser beinahe nur als beschrie- bener Korper naher. Das Ich hingegen lasst den Leser an allen Gedanken teilhaben, uber seinen Korper erfahrt der Leser nur wenig. Somit verkorpert das Ich den Geist. Besonders deutlich wird die Verknupfung und Gleichsetzung von Sprache und Korper im zwolften Kapitel „Anagramme eines menschlichen Korpers“. In dem Kapitel be- schreibt das Ich eine Liebesszene zwischen sich und K. Beide Korper nahern sich ein- ander immer mehr. Das Ich erkundet den Korper von K. Diese Erkundung des Korpers geht mit einer Spracherkundung einher. Mitten in der Beschreibung, wie das Ich sich an K. reibt, heiBt es: „...ich reibe meine Sprache an einer anderen, so als hatte ich Worte anstelle von Fingern oder Finger an den Enden meiner Worte...“[12] Korper und Sprache werden vom Ich gleichermaBen erforscht. Das Ich tastet sich von K.s Haut, Haaren, Hals ihren ganzen Korper entlang. Dabei findet er Leitmotive, Textsprunge und Leer- stellen. Es erscheint, als sei der Mensch nicht nur an die Sprache gebunden, sondern, als sei jeder Mensch eine Sprache, ein eigenstandiger Text. K. ist ein Text.

„... ich lese ihr von der Haut ab, wo ich den Auslaufern des Textes folge, bis zum Ellenbogen, hier trennt sich der Knochenverlauf auf bis zur Hand, und dort verfangen sich die Finger ineinander, sie wickelt mich in ihre Worte ein, manche Teile des Korpers kommen dieser Betrachtung besonders entgegen...“[13]

Der Mensch ist durchaus als ein Text zu verstehen. Jedes Individuum besitzt seine eige- nen Charakterzuge. Jedes individuelles Leben pragt sich in die Zuge eines Menschen ein. Umgangssprachlich heiBt es gelegentlich, dass jemand, wie ein offenes Buch zu lesen sei. Der Mensch ist also Sprache. Die Sprache ist ein Zeichensystem. „Wir unter- halten uns nur noch mit Hilfe geheimer Zeichen, auch Zeichnungen, suchen Korperstel- len im Text...“14 Diese Zeichen und Korperstellen konnen von ganz verschiedener Art sein. Sie konnen sich auf eine geheime, fiktive linguistische Sprache beziehen, aber auch auf Beruhrungen und Korpersprache. Im 17. Kapitel „Geheimsprache“ wird das Tatu als eine Kommunikationsmoglichkeit eingefuhrt, von der K. das Ich jedoch aus-

[...]


[1] Beyer, Marcel. Das Menschenfleisch. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp,1991. S.158

[2] 22[Hrsg.] Bayer. Akademie der schonen Kunste. Eich Anthologie - Gestalt und Gedanke. Ein Jahrbuch. II. Folge. Munchen: Oldenbourg,1953.

[3] Marcel Beyer weist in seinem Anhang S. 159 ff. die Intertextualitat nach.

[4] Beyer, Marcel. Das Menschenfleisch. Roman. S.11

[5] ebd., S.14

[6] Beyer. „DasMenschenfleisch“. S.21

[7] Beyer. „DasMenschenfleisch“. S.131

[8] ebd., S.91

[9] ebd., S.35

[10] Barthes, Roland. Fragmente einer Sprache der Liebe.8. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhr- kamp, 2000.

[11] Freud, Siegmund. Die >> kulturelle<< Sexualmoral und die moderne Nervositat. In Das Unbe- hagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. 6.Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer, 2000.

[12] Beyer. „DasMenschenfleisch“. S.76

[13] ebd., S. 78

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Die Sprache in "Das Menschenfleisch" von Marcel Beyer - Kommunikation zwischen Taubstummen und Blinden
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,7
Jahr
2003
Seiten
16
Katalognummer
V86859
ISBN (eBook)
9783638022026
ISBN (Buch)
9783638937986
Dateigröße
432 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprache, Menschenfleisch, Marcel, Beyer, Kommunikation, Taubstummen, Blinden
Arbeit zitieren
Anonym, 2003, Die Sprache in "Das Menschenfleisch" von Marcel Beyer - Kommunikation zwischen Taubstummen und Blinden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86859

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