Phonetisch-Phonologische Varianz in der Berlin-Brandenburgischen Umgangssprache der Gegenwart

Zur „Rundung“ von i zu ü


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

37 Seiten, Note: 1,0

Christine Porath (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsklärung und Forschungsstand

3. Die Rundung von I zu Y in der Berlin-Brandenburgischen Umgangssprache
3.1. Gewinnung von Datenmaterial zur Untersuchung phonologischer Varianz
3.1.1. Testverfahren
3.1.2. Auswertungsmethoden
3.2. Auswertung des gewonnenen Datenmaterials
3.2.1. Bemerkung zur Testdurchführung und zu den InformantInnen
3.2.2. Die Ergebnisse der Untersuchung – das Vorkommen der Rundung
3.2.3. Erklärung der Ergebnisse

4. Zusammenfassung

5. Ausblick

6. Literaturverzeichnis

7. Abbildungsverzeichnis

8. Tabellenverzeichnis

9. Anhang
I. Tabelle zur Phonemkombination um
II. Testbogen
III. Vergleich des Rundungsvorkommen bei den weiblichen und männlichen Testteilnehmern
IV. Zusätzliche Lexeme nach Phonemkombination um

1. Einleitung

Gemeinhin werden Mundarten und insb. Umgangssprachen durch charakteristische Merkmale voneinander unterschieden (was jedoch bei den Mundarten nicht immer zweifelsfrei möglich ist (vgl. Schönfeld/Pape 1981, 152ff.). Mit diesen Merkmalen[1] hängt auch die (angenommene) Möglichkeit der Zuordnung eines Sprechers zu einer bestimmten Sprachlandschaft zusammen. Wenn also in München jemand eine „jut jebratene jans“ (Große 1988, 21) verlangt, wird man vermutlich daraus schließen, dass der Sprecher aus Berlin stammt. Ein unbedarfter Zuhörer würde möglicherweise über diesen Sprecher urteilen: „Der berlinert aber“ oder „Der spricht ‚Berlin(er)isch’“ und würde damit in der Regel präsupponieren, dass der Sprecher Dialekt spricht (vgl. Schönfeld/Pape 1981, 165).

Nun würde jedoch ein Leser aus Luckenwalde oder Brandenburg a.d.H. wahrscheinlich einwenden wollen: „Na dit kann ick ooch“ und somit ein grundlegendes Problem zur Sprache bringen: die Unterscheidung von Dialekt oder Mundart und Umgangssprache bzw. die Reichweite und der Geltungsbereich des sog. Berlinischen (vgl. Mihm 2000, 2114).

Für die junge Generation muss jedoch insb. in den norddt. Regionen, die durch eine besondere Varietätenkonstellation gekennzeichnet sind (vgl. ebd., 2108), bestätigt werden, dass sie in der Regel nicht mehr über einen sog. Basisdialekt verfügen, sondern nur eine regionale Umgangssprache und die Standardsprache beherrschen (vgl. Wiese 1990, 280).

Trotz dieses Tatbestandes hat sich die Dialektologie lange ausschließlich mit der Untersuchung und Beschreibung von Mundarten beschäftigt und erst in den letzten 50 Jahren zunehmend auch den Umgangssprachen zugewendet; zunächst jedoch immer noch in Verbindung mit den Dialekten der jeweiligen Region (vgl. Schönfeld/Pape 1981, 144ff.).

Obwohl in diesem Forschungszweig schon einiges geleistet wurde, lässt jedoch gerade die Untersuchung des Berlinischen bzw. der Berlin-Brandenburgischen Umgangssprache noch zu wünschen übrig. Dies gilt sowohl für die Morphologie und Syntax, die Pragmatik als auch für die Phonologie; Lexik und Idiomatik sind hingegen verhältnismäßig gut erforscht (vgl. Schlobinski 1987, 11ff.).

Zur Untersuchung der Phonologie des Berlinischen gibt es nur wenige Arbeiten, die tatsächlich empirisch (d.h. gesprochene Sprache systematisch anhand von Aufnahmen oder Transkripten untersuchend) vorgehen. Zudem werden in der Regel nur die sehr markanten phonologischen Merkmale untersucht. Dazu zählt hauptsächlich die g-Spirantisierung, die Monophthongierung sowie Ausnahmen der 2. Lautverschiebung (/k/ statt /C/; /t/ statt /s/ usw.) (vgl. Schlobinski 1987; Schönfeld 1989). Dies bedeutet jedoch, dass andere Erscheinungen nicht oder nur sehr marginal Beachtung fanden und finden. Dazu zählt z.B. der Wechsel von ungespanntem i und ungespanntem ü in einigen Wörtern bzw. lautlichen Kontexten.

Während das Vorkommen der g-Spirantisierung mittlerweile gut erklärt werden kann, ist dies für die Rundung I > Y nicht der Fall. Weder besteht Einigkeit darüber, in welchen lautlichen Umgebungen dieser Wechsel tatsächlich auftritt noch was die Ursache dafür ist.

Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit anhand von für diese Untersuchung gewonnenen Daten gesprochener Sprache diesem Phänomen ausführlicher nachgegangen. Der Schwerpunkt liegt also mehr auf der Analyse der synchronen und phonologischen Bedingungen als auf der Entdeckung einer diachronen, d.h. historischen Erklärung dieser Erscheinung.

Dazu sollen zunächst im folgenden Kapitel einige Begrifflichkeiten geklärt werden, damit deutlich wird, was z.B. unter „Berlinisch“ bzw. „Berlin-Brandenburgische Umgangssprache“ oder „Rundung“ zu verstehen ist. Diesem werden einige Worte zum Forschungsstand folgen.

Danach wird dargestellt, wie die Sprachdaten gewonnen wurden und mit welchen Methoden diese am besten ausgewertet werden können, um mit diesem Hintergrundwissen anschließend zur Bearbeitung und Bewertung des Materials übergehen zu können.

Das Ziel wird sein, zunächst allgemein zu bestimmen, in welchen lautlichen Kontexten überhaupt die Rundung realisiert wird bzw. werden kann, um davon ausgehend Aussagen darüber treffen zu können, in welchen Kontexten sie häufiger und in welchen sie seltener verwendet wird und warum dies der Fall ist. Dies hängt natürlich mit dem Anspruch zusammen, anhand der Daten Angaben darüber machen zu können, welche inner- oder außersprachlichen Gegebenheiten die Rundung bedingen. Immer mit der Fragestellung im Hintergrund, ob die Rundung eine freie Variation oder durch andere Faktoren motiviert ist.

2. Begriffsklärung und Forschungsstand

Der Begriff „Berlinisch“ hat in der Forschung keine einheitliche Bedeutung und kann dementsprechend sowohl den Dialekt, der ursprünglich in Berlin gesprochen wurde, die Stadtsprache in Berlin und naher Umgebung (die aus einem Ausgleich zwischen Dialekt und Standardsprache entstanden ist), als auch die großräumige Umgangssprache, die in Berlin und im Land Brandenburg gesprochen wird, bezeichnen (Schildt/Schmidt 1988, 217; Wiese 1990, 281; Mihm 2000, 2114). Die terminologische Uneindeutigkeit hängt u.a. mit der diachronen Entwicklung des Berlinischen zusammen (Wiese 1990) und die zugrunde liegende Bedeutung des Begriffs „Berlinisch“ ist maßgeblich durch den Untersuchungsgegenstand determiniert.

Aus diesem Grund, und um falsche Konnotationen zu vermeiden, wird in dieser Arbeit stattdessen der Terminus Berlin-Brandenburgische Umgangssprache (BBU) verwendet.

Regionale Umgangssprachen werden in der Regel in Beziehung zu einem oder mehreren Basisdialekten (die in der jeweiligen Region gesprochen werden) und der Standardsprache verstanden und untersucht. Eine Umgangssprache stellt sich also folgendermaßen dar:

„Die unterhalb dieser Ebene [Standardsprache] und oberhalb der Basisdialekte liegenden habitualisierten Sprachverwendungsmuster werden modellhaft als autonomes pragmalinguistisches System aufgefaßt, das über eine eigene Norm verfügt und in sich trägerspezifisch, situativ und funktional gegliedert ist und in dieser Weise einem Diasystem entspricht.“ (Mihm 2000, 2107)

Obwohl das Verhältnis von Dialekt und Standardsprache zur Umgangssprache z. T. sehr komplex ist und unterschiedliche Ausprägungen kennt (ebd., 2108), hat sich die Dialektologie vielfach damit beschäftigt, die Entstehung von Umgangssprachen und damit auch der BBU gerade aus diesem Verhältnis und Wechselspiel zu erklären und zu beschreiben.

Es soll hier jedoch nicht näher auf die Entwicklung der BBU eingegangen werden (eine ausführliche Darstellung findet sich u.a. bei Schildt/Schmidt 1988; Wiese 1990). Wichtig ist vielmehr, dass sich seit dem 20. Jh. in Berlin und Brandenburg eine Umgangssprache herausbildete, die niederdeutsche und obersächsische Elemente in unterschiedlichem Maße vereint.

„Das Inventar der regionalen Umgangssprache setzt sich aus Erscheinungen der jeweiligen Dialekte, aus Merkmalen der Literatursprache und aus von beiden abweichenden, eigenständigen systemimmanenten Elementen zusammen.“ (Schönfeld/Pape 1981, 148)

Die BBU kann also als eine „großlandschaftliche Umgangssprache“ verstanden werden, die im Land Brandenburg und Berlin eine verhältnismäßig einheitliche Ausprägung aufweist.

In einem sprachlichen System werden Morpheme und Lexeme nach bestimmten Regeln gebildet und sind einem oder mehreren Semen zugeordnet. Diese Verbindung von Ausdruck und Bedeutung würde in der Regel durch eine Veränderung von Morphemen oder Phonemen/Graphemen gestört werden. Dennoch ist in gewissen Fällen Variation möglich, ohne dass damit eine Bedeutungsveränderung einherginge (Rahmers/Vater 1992, 33ff.).

Im Phonembereich führt Variation bzw. Varianz eines Phonems entweder zu einer freien oder „komplementär distribuierten“ (ebd., 33) Verteilung seiner Allophone. Wichtig ist hierbei, dass der Austausch von Allophonen die Wortbedeutung nicht verändert.

„Wenn zwei Laute einer Sprache genau in der selben Umgebung vorkommen und miteinander vertauscht werden dürfen, ohne dabei einen Unterschied in der intellektuellen Wortbedeutung hervorzurufen, so sind diese zwei Laute nur fakultative phonetische Varianten eines einzigen Phonems.“ (Ebd., 36)

Dies würde in Bezug auf den Wechsel zwischen I und Y Folgendes bedeuten: Y und I sind Allophone von /i/ und beide sind beliebig austauschbar in dem Sinne, dass ein Wechsel keine Bedeutungsveränderung verursachen würde und ein Sprecher zwischen den Varianten frei wählen könnte[2]. Ob dies für die Rundung I > Y tatsächlich zutrifft oder ob es sich eher um einen kombinatorischen Lautwandel handelt, der zwar die Wortsemantik nicht ändert, jedoch vielmehr durch den phonologischen Kontext bedingt ist, wird die Untersuchung zeigen.

Der Terminus „Rundung“ (auch Labialisierung) bezieht sich auf eine Veränderung bei der Artikulation von Vokalen, wobei bei gleich bleibender Artikulationsebene (hoch vs. tief) die Lippenformung von offener und/oder gespreizter zur gerundeten verändert wird.

„Rundung [...] betr[ifft] allgemein die palatalen Hoch- und Mittelzungenvokale, indem die Rundung und Vorstülpung der gespreizten Lippen I → Ü, E → Ö, EI → ÖÜ, AI → AÜ, IE → ÜE, EA → ÖA überführt [...].“ (Wiesinger 1983, 1101)

Dabei findet eine leichte Rückverlagerung „der Artikulationsstelle des Zungenrückens gegen den harten Gaumen“ (ebd., 1101) statt, diese hat jedoch kaum Einfluss auf das artikulatorische Lautergebnis. Dieser Lautersatz oder -wandel (für den z. T. auch der Begriff Labialisierung verwendet wird) wird i. d. R. vorrangig im Zusammenhang mit diachronen Veränderungen auf der phonologischen Ebene erwähnt (Hartweg/Wegera 1989, König 1994), wobei hier jedoch vorwiegend nicht weiter auf die Ursachen dieser Veränderung eingegangen wird und offensichtlich auch keine räumliche Verteilung erkennbar ist (z.B. Rundung[3] nur im niederdeutschen, jedoch nicht im oberdeutschen Dialektraum.).

Diese geographische Schichtung wird jedoch gerade dann angenommen, wenn eine dialektologische und/oder synchronische Beschreibung der Rundung vorgenommen wird; man geht dann davon aus, dass der Lautersatz „ Y statt I “ an eine bestimmte Sprachlandschaft gebunden ist. So behandelt ein Großteil der Literatur zur Phonologie des Berlinischen bzw. der BBU die Rundung I > Y als charakteristisches Merkmal dieser Varietät.

Bereits Lasch (1928) und Teuchert (1907; 1964) erwähnen Rundungserscheinungen in brandenburgischen, märkischen und berlinischen Dialekten. Dies geht bei Teuchert (dessen Arbeiten eher sprachhistorisch angelegt sind) jedoch nicht über eine kurze Erwähnung dieser Veränderung bei bestimmten Wörtern und/oder in bestimmten lautlichen Umgebungen:

- „as. [...] i > mnd. ü durch Rundung vor l + Lab. [as. silubahr > mnd. sülver]“ (Teuchert 1907, 25)
- „i ist [...] zu ü gerundet in krü b @ f. ‚Krippe’.“[4] (Teuchert 1964, 14)
Während diese Beobachtungen nur für das Brandenburgische und Neumärkische gelten, beschreibt Lasch (1928) die Rundung von I > Y für das Berlinische etwas detaillierter und versucht sogar ansatzweise diesen Lautersatz zu erklären. Auch bei ihr tritt die Rundung in bestimmten lautlichen Umgebungen bzw. Lexemen auf:
- „[...] i > ü, neben einem gerundeten Konsonanten. „ümmer“ immer [...]“ (Lasch 1928, 233)
- Neigung zur Rundung neben š [S][5] [...]: „vüsch“ Fisch, dann „Düsch“ Tisch [...].“ (Ebd, 233)
- „[...] -ür- < -ir- vor Konsonant: „Kürsche, Bürne, Hürsch“.“ (Ebd., 234)

Letztere Entwicklung erklärt Lasch mit der Veränderung des Lautwertes des /r/: die Rundung tritt nur dann auf, wenn das /r / als „Zungen=r“ und nicht als „Zäpfchen=r“ (welches seit dem 18. Jh. bereits durch das „Zungen-r“ ersetzt wurde) realisiert wird. Insgesamt schätzt sie die Verwendung der Rundung rückläufig ein: „Heute sind die Formen zwar zurückgetreten, aber selbst aus der höheren Umgangssprache nicht ganz geschwunden [...]“ (Lasch 1928, 234).

Schirmunski (1962) erwähnt ebenfalls die Rundung I > Y allgemein für die niederdeutschen Mundarten, und zwar in vereinzelten Lexemen, oder:

- „[...] in der Umgebung von Lippenlauten und l, bisweilen vor n.“ (Schirmunski 1962, 265)

Alle drei Autoren erwähnen die Rundung also als Merkmal bestimmter ndt. Mundarten, z. T. bezieht sich diese Beobachtung auf schriftliche Quellen und scheint insofern für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit wenig von Belang zu sein. Da aber die BBU auch Elemente aus den Basisdialekten übernommen hat, könnten diese Belege dafür sprechen, dass die Rundung ein noch nicht abgeschlossener phonologischer Wandel oder eine konstante Variationsmöglichkeit ist.

Neuere Arbeiten, die die Rundung I > Y im Dialektraum Berlin-Brandenburg erwähnen, häuften sich danach in den 80er Jahren, fügten jedoch nichts Wesentliches hinzu.

Schönfeld/Pape (1981) sprechen das besagte Phänomen in einem Nebensatz, unter Nennung eines Beispiels (Tisch) und ohne eine weitere Präzisierung, an und vertreten die Meinung, dass diese „Besonderheit [...] nur in Berlin und unmittelbarer Umgebung üblich [ist] bzw. hier besonders häufig verwendet [wird]“ (Schönfeld/Pape 1981, 165).

In Schildt/Schmidt (1986, 225) wird von Schönfeld ebenfalls eine verkürzte Variante von Lasch (1928) geliefert, indem hier nur die Rundung I > Y vor r angeführt wird.

Auch Schlobinski (1987, 75) schneidet das Thema nur an und erwähnt die Rundung, indem er sich auf Lasch (1928) bezieht, um daran einige statistische Analysemethoden zu erläutern. Ein Wechsel von I > Y findet immer[6] vor r, m, l und S statt.

Die Arbeiten von Dost (1988) und Große (1988) beziehen sich bei ihrer Darstellung des Berlinischen weitestgehend auf Schönfeld (1986), wobei Dost (1988) für die Rundung I > Y konstatiert, dass diese sowohl im Berlinischen als auch in der brandenburgischen Umgangssprache[7] vorkommt und zwischen I und Y „ein fakultatives Variantenverhältnis“ (Dost 1988, 39) bestünde. Dennoch ist dieses Verhältnis gleichzeitig positionsabhängig:

- „Es heißt also häufig ümmer, nüscht, müschen für ‚immer’, ‚nichts’, ‚mischen’.“
- Dieses Variantenverhältnis [...] tritt vorzugsweise in der Umgebung rundender Konsonanten auf (sch, r + Konsonant).“ (Dost 1988, 39)

Die gleiche Beobachtung führt auch Große (1988) an, wobei bei ihm der Wechsel von I > Y

als Palatovelarisierung[8] (!) eine Spezialregel (was auch immer damit gemeint ist) darstellt.

Die letzten beiden Arbeiten (vom gleichen Autor), die die Rundung im Rahmen des Berlinischen untersuchen und offenbar als einzige empirisch fundiert sind[9], sind die Untersuchungen von Schönfeld (1989; 2001). Er stellt fest:

· „[...] (i) wird im Berlinischen in bestimmter Situation (vor sch, m, sowie vor r bzw. l + Konsonant) als ü /Y/ realisiert.“[10] (Schönfeld 1989, 127)

· „Die Berliner Variante gehört nur bei einem Teil der Berliner zur Sprachkompetenz.“[11] (Ebd., 127)

· Verwendung der Rundung „mit unterschiedlicher Häufigkeit (‚überwiegend’ bis ‚vereinzelt’ und öfter nur auf bestimmte Wörter beschränkt)“ (Schönfeld 2001, 71).

Außerdem bemerkt Schönfeld, dass die Variante Y statt I unbewusst verwendet wird, sodass „[...] ihre Vermeidung [in der Standardsprache] und die situative Steuerung vielen Berlinern schwer [...]“ fällt (ebd., 127). Außerdem erwähnt er, dass das aus der Rundung resultierende Y häufig als „Laut zwischen ü und i realisiert“ (Schönfeld 2001, 71) wird.

Nach Schönfeld (1989) wurden m.W. keine weiteren Arbeiten zur Phonologie und speziell zur Rundung des Berlinischen oder der BBU veröffentlicht. Eine erwähnenswerte, jedoch sehr allgemeine Bemerkung findet sich noch bei Wiesinger (1983):

· „Mit Lippenrundung gebildete Konsonanten wie b, p, w, f, pf, š [ S ], m rufen [...] Rundung palataler Vokale hervor [...].“ (Wiesinger 1983, 1103)

Allgemein kann jedoch festgehalten werden, dass es allen Darstellungen an einer systematischen Untersuchung und Beschreibung fehlt, die anhand empirischer Daten die Realisierung der Rundung in Anhängigkeit vom phonologischen Kontext und ggf. von anderen, z.B. soziolinguistischen Faktoren wie Alter, Schicht, Geschlecht, beleuchtet. Außerdem wird die Labialisierung i. d. R. in Zusammenhang mit dem nachfolgenden lautlichen Kontext erwähnt, es fehlt also auch eine Untersuchung und Beschreibung in Hinblick auf den vorangehenden Kontext. Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild:

Tab. 2-1: Zusammenfassung der angenommenen lautlichen Kontexte um I > Y

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3. Die Rundung von I zu Y in der Berlin-Brandenburgischen Umgangssprache

Um diesen Sachverhalt genauer überprüfen zu können und die Annahmen der Forschungsliteratur entweder zu verifizieren oder zu falsifizieren, wurde für die vorgenommene empirische Untersuchung eine Vorgehensweise gewählt, die im Folgenden dargestellt werden soll.

3.1. Gewinnung von Datenmaterial zur Untersuchung phonologischer Varianz

Bevor Aussagen über das Vorkommen der Rundung in der BBU der Gegenwart gemacht werden können, müssen zunächst Sprachdaten vorliegen oder gewonnen werden, die in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand aussagekräftig sind. Das bedeutet Folgendes: Da kein geeigneter Korpus[12] vorliegt, an dem dies in befriedigender Weise vorgenommen werden könnte, muss Datenmaterial mittels eines geeigneten Verfahrens gewonnen werden, welches gewährleistet, dass mit möglichst geringem Aufwand Lexeme mit allen möglichen lautlichen Kontexten, in denen I bzw. potentiell Y vorkommt, aufgenommen werden können.

Aus diesem Grund wurde ein „Test“ (bzw. „Experiment“) als geeignete Methode zur Sprachdatengewinnung gewählt; der Aufbau und die Grundlagen dieses Tests seien zunächst dargelegt.

3.1.1. Testverfahren

Aufgrund der Anforderungen, die sich durch das Forschungsziel ergeben, wurde ein Test als geeignetes Mittel gewählt, um von Informanten die Aussprache bestimmter Lexeme abfragen zu können. Zwar bringt der Einsatz von Tests in der Dialektologie einige Probleme mit sich (Menge 1983), da jedoch das Verhalten von I in allen möglichen phonologischen Kontexten untersucht werden sollte, würde die Verwendung eines Korpus aus natürlichen Gesprächen bedeuten, dass eine Unmenge an Material aufgenommen und ausgewertet werden müsste, damit am Ende die möglichen Kombinationen durch mindestens ein Lexem repräsentiert sind.

Dies wäre gerade deshalb kaum realisierbar, weil bei einer maximalen Kombinationsmöglichkeit von 21 x 21 Lauten[13] (vgl. Anhang II) für das Deutsche mindestens 441 Lexeme für die Untersuchung gewonnen werden müssten, wobei einige Kombinationen auf Lexeme beschränkt sein können, die keine hohe Gebrauchsfrequenz aufweisen.

Für die Konzeption des Tests bedeutete dies, dass zunächst Lexeme gefunden werden mussten[14], in denen die möglichen Kombinationen von folgenden und vorangehenden Lauten realisiert sind. Um dennoch die Lexemanzahl überschaubar zu halten, wurde für jede Kombination nur ein Lexem ausgewählt, auch wenn dies die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse einschränkt[15]. Dies ergab unter Ausschluss einiger Phonemkombinationen (wenn z.B. ein bestimmtes Phomen wie u.a. N im Deutschen nie im Anlaut vorkommt (Eisenberg 2004, 91ff).) 187 Lexeme[16] (vgl. Anhang II). Diese wurden in einen dreiteiligen Test integriert, der aus 1. einem kurzen Interview zum Thema Berlin, 2. der Anweisung zur spontanen Produktion von Sätzen mit den 187 ermittelten Wörtern und 3. der Aufforderung zur separaten und standardsprachlichen Reproduktion dieser Wörter besteht (vgl. Anhang III).

Das einführende Interview wurde gewählt, um zunächst eine gelockerte Atmosphäre für den Hauptteil des Tests zu schaffen und den Testteilnehmer von seiner durch den Test hervorgerufenen „[D]istanz zum eigenen Sprachverhalten [...]“ (Menge 1983) abzulenken. Zudem wurde davon ausgegangen, dass in diesem Gespräch einige Lexeme verwendet werden, die zum Untersuchungsgegenstand passen und anhand derer die Ergebnisse des Hauptteils ergänzt bzw. evaluiert werden können, da diese wahrscheinlich unbewusster produziert werden[17].

[...]


[1] Trotzdem gibt es auch sprachliche Elemente, die in allen Umgangssprachen gleich sind (Schönfeld/Pape 1981, 161ff.).

[2] Wobei eine soziolinguistische Verteilung möglich wäre (z.B. Rundung nur in der BBU und nicht in der Standardsprache).

[3] Zu diesem Prozess gibt es auch einen Gegenprozess: Entrundung; dieser phonologische Wandel scheint ebenfalls nicht bevorzugt in einem Dialektgebiet aufgetreten zu sein (Hartweg/Wegera 1989, 106 ).

[4] Teuchert beschreibt in seiner Publikation von 1907 für dieses Lexem interessanterweise den genau entgegengesetzten Prozess der Entrundung aus einer gerundeten, angenommenen Zwischenstufe: „ i > > i durch Entrundung: krib @ Futtertrog (mnd. krübbe) [...]“ (Teuchert 1907, 25). Der Duden Bd. 7 (Ethymologisches Wörterbuch) gibt für das Lexem Krippe jedoch keine entrundete Form (aus urspr. gerundeter Form) an (Drodowski 1989, 288). Dementsprechend handelt es sich bei diesem Fall entweder um eine nicht stattgefundene Rundung oder um eine Rücknahme der Rundung.

[5] Ältere dialektologische Arbeiten verwenden i. d. R. Teuthonista-Lautschrift, die nicht bzw. nur in wenigen Fällen dem IPA entspricht. (Almeida/Braun 1983, 605)

[6] Obwohl Schlobinski Notationen für die Rundung als „kategorische Regel“, „optionale Regel“ und „variable Regel“ angibt, äußert er sich nicht dazu, welche der Regeln für den Fall der Rundung wahrscheinlicher ist (Schlobinski 1087, 75), dies wäre jedoch relevant, um zu erfahren, ob die Rundung tatsächlich immer in besagter lautlicher Umgebung stattfindet, oder ob dies nur eine optionale Möglichkeit ist.

[7] Diese Trennung wird für die Gegenwartssprache nicht mehr an- bzw. vorgenommen.

[8] Zur Abgrenzung von Rundung und Velarisierung vgl.: Wiesinger (1983, 1101ff.).

[9] Mit Ausnahme von Schlobinski (1987), der jedoch die Rundung nicht anhand seines Datenmaterials untersucht.

[10] Leider wird hier nicht expliziert, ob mit „Situation“ der lautliche Kontext oder eine soziolinguistische Größe gemeint ist.

[11] Dies schließt Schönfeld aus seinem Material, bei dem von 11 gesprochenen Texten in 5 davon keine, in 3 ein, in 1 zwei und in 2 sieben Belege der Variante Y statt I vorkommen, wobei er jedoch nicht erwägt, dass das Nichtvorkommen der Rundung nicht bedeuten muss, dass diese nicht verwendet wird, sondern vielleicht in dem Text keine Lexeme verwendet wurden, bei denen die Rundung aus bestimmten Gründen nicht vorkommt. Da sein Datenmaterial nicht einsehbar ist, kann dieser Sachverhalt nicht überprüft werden.

[12] Der m. W. einzige öffentlich zugängliche Korpus zum Berlinischen nach der Wende (sog. Wendekorpus) wurde von Norbert Dittmar auf den Internetseiten der DWDS (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts) veröffentlicht (http://www.dwds.de). Da es sich bei diesem Korpus um Aufnahmen von gelenkt-freien Gesprächen (narratives Interview) handelt, die in transkribierter Form vorliegen, eignet sich dieses nicht für eine Untersuchung mit dem Forschungsziel dieser Arbeit. Dies hängt mit den Schwierigkeiten der Transkription (vgl. Kap. 3.1.2.; Almeida/Braun 1983) und mit der Frequenz der Lexeme anhand derer die Rundung untersucht werden kann bzw. muss zusammen (vgl. Kap. 3.1.1).

[13] Gemeint sind hier die Phoneme, die vor und/oder nach einem I in deutschen Wörtern auftreten könnten.

[14] Mit Hilfe des Dudens (2004) und des Berlinischen Wörterbuchs von Wiese (1987).

[15] Wenn für eine mögliche Phonemkombination nur ein Lexem ausgewählt wird (z.B. das Wort Schrippe für vorangehendes /r/ und folgendes p), dann besteht immer noch die Gefahr, dass die Rundung bzw. die nicht stattfindende Rundung aus irgendeinem Grund nur in diesem Wort vorkommt, aber in anderen Wörtern mit der gleichen Kombination nicht.

[16] Außerdem reduzierte sich die Anzahl der Lexeme dadurch, dass auch für die im Deutschen theoretisch möglichen Kombinationen entweder keine Wörter gefunden wurden oder existierende veraltet sind.

[17] Die Ergebnisse des Hauptteils können z.B. dahingehend durch Ergebnisse des ersten Teils relativiert werden, dass bei durchgeführter Rundung in Lexemen (des 1.Teils), die auch im zweiten Teil vorkommen, bzw. bei gleichen Phonemkombinationen in Lexemen, die im zweiten Teil nicht vorkommen, aber bei nicht durchgeführter Rundung im zweiten Teil der entsprechenden Wörter, darauf geschlossen werden kann, dass die Lautung der Wörter im 2. Teil nicht als repräsentativ (d.h. als typische Aussprache) bewertet werden können.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Phonetisch-Phonologische Varianz in der Berlin-Brandenburgischen Umgangssprache der Gegenwart
Untertitel
Zur „Rundung“ von i zu ü
Hochschule
Universität Potsdam  (Germanistik)
Veranstaltung
Die Brandenburgische Sprachlandschaft
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
37
Katalognummer
V86535
ISBN (eBook)
9783638052436
ISBN (Buch)
9783638949125
Dateigröße
1972 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Phonetisch-Phonologische, Varianz, Berlin-Brandenburgischen, Umgangssprache, Gegenwart, Brandenburgische, Sprachlandschaft, Dialektologie, Germanistik, Linguistik, Berlinisch, Berlinerisch
Arbeit zitieren
Christine Porath (Autor:in), 2007, Phonetisch-Phonologische Varianz in der Berlin-Brandenburgischen Umgangssprache der Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86535

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