Die formale Wirklichkeit von Sprache


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

30 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

ÜBER WAHRHEIT UND WIRKLICHKEIT

KONVENTIONELLER TRAUM

SPRACHLICHER NUTZEN

MENSCHLICHE WAHRNEHMUNG

WEGE AUS DER SPRACHE

SCHLUSS

LITERATURVERZEICHNIS

EINLEITUNG

In der folgenden Arbeit beschäftige ich mich mit dem Text „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“[1] von Friedrich Nietzsche. Während die ersten drei Kapitel sich konkret mit dem genannten Text auseinandersetzen, versuche ich in den folgenden beiden Kapiteln die erhaltenen Gedanken fortzuführen und dadurch genauer zu erläutern. Die aus dem Text herausgearbeiteten Definitionen von Wahrheit und Wirklichkeit bilden die Grundlage für diese weiteren Ausführungen.

Im ersten Kapitel werde ich die Worte Wahrheit und Wirklichkeit mit dem Text „Ueber Wahrheit und Lüge“ definieren. Damit verbunden ist das Problem der Adäquatheit zwischen Sprache und Wirklichkeit.[2] Außerdem wird in diesem Kapitel das logische Paradox erläutert, in das Nietzsche sich bei der sprachlichen Kritik von Sprache ver­fängt. Dieses Paradox wird uns im ganzen Text, ob erwähnt oder nicht, begleiten. Fer­ner wird die grammatikalische „Verführung der Sprache“(KGW6;2: 293) erläutert.

Nach der Kritik an sprachlicher Adäquatheit komme ich im zweiten Kapitel zum Vergleich von Traum und wacher, vernünftiger Wirklichkeit, wie er von Nietzsche im 2. Kapitel von „Ueber Wahrheit und Lüge“ beschrieben wird.[3] Dieser Vergleich dient als Beispiel für den konventionellen Charakter von Wirklichkeit.

Im dritten Kapitel behandle ich Nietzsches Vergleich des „vernünftigen Menschen“, der nach sprachlichen Konventionen lebt und erlebt, mit dem „intuitiven Menschen“, der sich von vernünftigen Konventionen löst.[4] Konkrete Beispiele für die beiden Arten scheinen mir der wissenschaftliche und der künstlerische Mensch zu geben.

Im vierten Kapitel gehe ich auf die vermeintliche Grundlage von Sprache, die men-schliche Wahrnehmung ein, um Nietzsches Meinung über die Beschränktheit und Subjektivität menschlicher Wahrnehmung[5] mit wissenschaftlichen Ergebnissen heutiger Zeit zu untermauern.

Die Darstellungen wissenschaftlicher Forschungsergebnisse be­ziehen sich vor allem auf E. B. Goldstein.[6] Das Problem mangelnder Adäquatheit von menschlicher Wirklichkeitsauffassung wird am Schluss des Kapitels noch mal diskutiert werden.

Im fünften Kapitel werden zwei Extreme des sprachlichen Metaphernreichtums darge­stellt. Auf der einen Seite stehen unendlich viele Metaphern, auf der anderen Seite steht nur eine Metapher. Die sich daraus ergebenden Probleme, die die Möglichkeit von Kommunikation betreffen, werden erläutert und an Beispielen zu verdeutlichen ver­sucht.

Das letzte Kapitel schließt die ganze Sache ab, indem es ihre Offenheit anerkennt.

ÜBER WAHRHEIT UND WIRKLICHKEIT

Ich fange mit zwei Wortdefinitionen an, die für das Verständnis des Textes „Ueber Wahrheit und Lüge“ wichtig sind. Es handelt sich um die Wörter Wahrheit und um das aus dieser Definition folgende Wort Wirklichkeit.

Wahrheiten werden von Nietzsche als „Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“(KGW3;2: 375) charakterisiert. Sprache ihrerseits, mit der diese Wahr­heiten gewonnen werden, ist „Lüge“. Sie ist die „Verpflichtung nach einer festen Con­vention zu lügen, schaarenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen.“(ebd.)

Nietzsche spricht von „Illusion“ und „Lüge“, da „er hier noch den Begriff der Wahrheit im traditionellen Sinne als adaequatio heranzieht. Solche ‚Wahrheit’ ist deshalb nicht Wahrheit, weil sie nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt “(MÜL: 100). Nietzsche stellt sich also die Frage: „Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten?“(KGW3;2: 372) Seine Antwort lautet: Nein. „Nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen: er besitze eine Wahrheit in dem eben bezeichneten Grade.“( ebd.) Da also keine Adäquatheit zwischen Sprache und Wirklichkeit besteht, besteht sie auch nicht zwischen sprachlichen Wahrheiten und Wirklichkeit.

Diese grundlegendere Definition von Wahrheit als Adäquatheit zwischen Wort, also Sprache und Wirklichkeit[7] bildet nun den Ausgangspunkt für die weiteren Ausführungen meiner Arbeit.

Wenn Nietzsche Sprache als Lüge bezeichnet, verfängt er sich in ein mehr oder weni­ger großes logisches Paradox[8]. Wenn Sprache lügt, dann lügt auch seine Sprache.

Dies ist ein Problem aller sich selbst relativierenden Aussagen. Wenn es keine Wahrheit gibt, wenn keine Wahrheit den Anspruch hat, absolut gültig zu sein, dann hat anders ausgedrückt jede Wahrheit Anspruch auf Gültigkeit. Wenn man diese Aussage, welche eine Wahrheit darstellt, auf sie, die Aussage selbst bezieht, ist auch die Aussage selbst relativiert, also keine absolute Wahrheit, also kann es auch absolute Wahrheiten geben, also ist auch die Annahme der Relativität wahr, also relativiert sie sich wieder selbst, usw.. Dieses Paradox, das aus der dualistischen Logik, vor allem aus dem Satz vom Widerspruch entsteht, wird uns im Laufe dieser Arbeit noch häufiger begegnen.[9] Diese Arbeit selbst kann sich ihm nicht entziehen.

Für Nietzsches Wahrheit, dass Sprache lügt, würde das bedeuten, dass diese Wahrheit auch eine Lüge ist. Also sagt Sprache die Wahrheit, und die Aussage, dass sie lügt ist wieder wahr, etc.

Wenn Nietzsche aber einen Text über Sprache und Wirklichkeit schreibt und sagt, dass Sprache nicht „der adäquate Ausdruck aller Realitäten“(KGW3;2: 372) sei, muss er dies mit konventioneller Sprache tun, sonst würde ihn keiner verstehen. Das Verständnis hat er jedoch im Sinn, sonst würde er keine Texte schreiben. Die Frage ist aber, ob man Sprache mit Sprache glaubwürdig kritisieren kann. Diese Frage kann man als ungenau betrachten. Zwar bezweifelt Nietzsche

„die Möglichkeit einer ontischen Adäquation zwischen dem Begriff und der Sache. Er bestreitet, dass

wir sprechend aus der Sprache hinauskommen. Damit stellt er aber nicht in Abrede, daß wir uns in

der Sprache verläßlich verständigen können.“(V. Gerhardt in: SIM1: 10)

Also kann Nietzsche sprachlich sprachliche Wahrheiten kritisieren, da Wahrheit als Adäquatheit von Realität und Sprache definiert wurde. Dies stellt die Wahrheit sprachlicher Selbstreflexion nicht in Frage.

Ganz befriedigend scheint mir dieser Ausweg jedoch nicht. Wenn man sprachlich „in einem für alle verbindlichen Stile“(KGW3;2: 375) lügt, kann man sich zwar „verläßlich verständigen“(V. Gerhardt in: SIM1: 10). Jedoch verläuft diese Verständigung in den Grenzen, der Beschränkung der Lüge einer sprachlichen Gemeinschaft. Wenn man des Weiteren die kritisierte Sprache als gesprochene, gehörte, gelesene Realität ansieht, besteht auch zwischen ihr und der kritisierenden Sprache keine Adäquatheit.

Das oben genannte Paradox ist Nietzsche wohl bekannt. Er versucht also, die Beschränktheit von Wahrheit zu beschreiben, auf sie aufmerksam zu machen, ohne jedoch

eine andere absolute Wahrheit entgegenzustellen oder etwas als falsch zu bezeichnen, denn das wäre auch „eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegentheil.“(KGW3;2: 374).

An anderer Stelle kritisiert Nietzsche den Satz vom Widerspruch, da man vergisst, „was er im Grunde schon an Behauptungen voraussetzt.“(KGW8;2: 53) Logik wäre also eher „ein Imperativ, nicht zur Erkenntnis des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll.“(ebd.) So kann man zu dem Schluss gelangen, dass Nietzsche diesen Satz nicht nur kritisiert, sondern auch nach den Konsequenzen dieser Kritik handelt. Denn ohne den Satz vom Widerspruch entsteht kein relativistisches Paradox, da zwei Aussagen mit entgegengesetztem Wahrheitsgehalt nebeneinander bestehen können.[10] Nietzsche kritisiert also die Wahrheit der Sprache mit sprach­licher Wahrheit, stellt aber seine Wahrheit nur neben die andere und lässt beide nebeneinander existieren.[11]

Wie kommt Nietzsche aber darauf, dass Sprache nicht „der adäquate Ausdruck aller Realitäten“(KGW3;2: 372) sei, dass folglich mit ihr keine objektiven Wahrheiten gefunden werden können?

Die erste anschließende Frage lautet: Was ist Realität? Was ist Wirklichkeit?

Dieser Begriff ist mit dem Text „Ueber Wahrheit und Lüge“ schwerer zu definieren. Er scheint eine „Natur“ zu meinen, die ein „für uns unzugängliches und undefinirbares X“(ebd.: 374) ist. Unzugänglich ist die Natur, da es „zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt […] keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck“(ebd.: 378) gibt. Gemeint ist also eine äußere Welt, von der wir keine adäquate Erfahrung, noch weniger adäquate Begriffe haben können.

Die Trennung von Innen und Außen aber ist problematisch. Wenn wir keine objektive Erfahrung von der „Natur“ haben können, wie können wir dann sicher sein, dass sie überhaupt (als äußere Welt) existiert? Irgendwie nehmen wir die Welt wahr, durch unsere Sinne. Das Gehirn verarbeitet die Eindrücke. Ist aber die Welt, die wir wahrnehmen, für wahr nehmen in uns oder außer uns?[12]

In anderen Texten stellt Nietzsche die Subjekt/Objekt-Spaltung als eine „Verführung der Sprache“(KGW6;2: 293) dar. Ausgangspunk ist die deutsche Grammatik, die zwischen Subjekt, Objekt und Prädikat trennt. Die Trennung, als ob da ein Subjekt handelt, als ob einer Handlung ein Subjekt zukommt, ist aber eine „Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ‚Subjekt’ versteht und missversteht“(ebd.).

Nach Nietz­sches Ausführung ist das Subjekt zwar hinzugedichtet, das Tun jedoch ist alles[13], was Werner Hamacher kritisiert:

„Wenn die Verführung durch die Sprache alles ist, dann hat aber auch die Hinzudichtung eines Sub-

jekts ihr Recht – nämlich das Recht der rhetorischen Gewalt – und dann ist nicht nur das Subjekt

sprachlicher Äußerungen, sonder auch ihre Wirksamkeit selbst eine Erdichtung.“(W. Hamacher in

HAM: 9)

An Nietzsches Beispiel mit dem „Blitz“[14] wird mir jedoch deutlich, dass es die Trennung zwischen Subjekt und Prädikat ist, die er beklagt. Es gibt keinen „Blitz“ (an sich) der „leuchtet“. Besser gesagt gibt es keinen „Blitz“, der nicht „leuchtet“. Die Erfahrung eines „Blitzes“ ist nicht von der des „Leuchtens“ zu trennen.

Ein anderes Beispiel wäre die Wirklichkeit(Realität), die erfahren wird, da sie auf uns einwirkt. Ohne die „Verführung der Sprache“ wäre „das Tun“, die Wirkung auf uns, also die Erfahrung der Wirklichkeit, alles. Es gäbe keine Wirklichkeit an sich, sondern nur ihre (subjektive) Erfahrung. Wirklichkeit wäre nicht von ihrer Erfahrung zu trennen.

Für Nietzsche ist dann auch die Trennung von Subjekt und Objekt eine „Erdichtung“. Denn „geben wir das wirkende Subjekt auf, so auch das Objekt, auf das gewirkt wird.“(SCH3: 540) Diese durch Sprache hervorgerufenen Subjekt/Objekt-Trennungen, sowie die Beziehung zwischen Erfahrung und Wirklichkeit sind auch ein Thema des Zen-Buddhismus. Suzuki schreibt, dass wir nicht wissen, ob eine

[...]


[1] Zu finden in KGW3;2: 367-384.

[2] Vgl. ebd.: 372.

[3] Vgl. ebd.: 381f.

[4] Vgl. ebd.; 383f.

[5] Vgl. etwa ebd. 372f u. 378.

[6] Siehe Literaturverzeichnis.

[7] Diese Definition sollte man bei der folgenden Verwendung des Wortes Wahrheit im Text immer erinnern. Jedoch ist, so erklärt wenigstens G. Abel, „spätestens seit Kant, aber im Grunde schon seit Sokrates begriffen, daß endliche Geister ihre Vorstellungen und Wörter nicht mit äußeren, vorstellungs- und sprach-transzendenten Objekten und Ereignissen, sondern stets nur mit anderen Vorstellungen und Wörtern vergleichen. Es geht u[r]sprünglich nicht um Zeichen-Ding-, sondern um Zeichen-Zeichen-Relationen“(G. Abel in: DJU:108).

[8] Paradox bedeutet jedoch nicht falsch. Das Paradoxe einer Aussage ist daher nicht ein Argument gegen sie. Es bedeutet lediglich, dass man einer Aussage keinen eindeutigen Wahrheitswert zuweisen kann. Die Aussage ist also im herkömmlichen Sinne weder wahr noch falsch.

[9] Es führt jedoch zu ständiger, zirkulärer Selbstreflexion, wenn man das Paradox immer wieder beachtet. Sobald man sich ihm in irgendeiner Weise, selbst der Erwähnung, ausliefert, ist man in ihm gefangen. Ein Ausweg wäre, sich von sprachlichen Darstellungen überhaupt zu lösen. Der andere Weg wäre, sich vom Satz des Widerspruchs zu lösen.

[10] In der Technik von Beweisen, die auf dem Satz vom Widerspruch als letzter Prämisse beruhen, würde die Auflösung dieses Satzes jedoch dazu führen, dass man alles Beweisen kann, da sowohl eine Aussage, als auch ihr Gegenteil wahr wären.

[11] Natürlich ist das eine idealisierte Darstellung. Wer Nietzsches Text „Ueber Wahrheit und Lüge“ liest, wird kaum den Eindruck haben, dass der Schreiber nicht das Gefühl hat, hier die richtige Wahrheit zu präsentieren.

[12] Die Mechanismen der Wahrnehmung behandle ich eingehender im Kapitel: Menschliche Wahrnehmung.

[13] Vgl. KGW6;2: 293.

[14] Vgl. ebd..

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Die formale Wirklichkeit von Sprache
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Germanistisches Seminar)
Veranstaltung
Ästhetische Verfahren II: Text und Figur
Note
2,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
30
Katalognummer
V86051
ISBN (eBook)
9783638020466
ISBN (Buch)
9783638922036
Dateigröße
476 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wirklichkeit, Sprache, Verfahren, Text, Figur
Arbeit zitieren
Magister Henning Braun (Autor:in), 2004, Die formale Wirklichkeit von Sprache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86051

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