Störungen der Impulsivität bei Trichotillomanie


Diplomarbeit, 2003

124 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Trichotillomanie (TTM)
2.1.1 Historischer Überblick
2.1.2 Klassifikation
2.1.3 Beschreibung der Symptomatik
2.1.4 Laborbefunde
2.1.5 Körperliche Untersuchungsbefunde
2.1.6 Störungsbeginn- und Verlauf
2.1.7 Soziale Beeinträchtigung
2.1.8 Prävalenz
2.1.9 Komorbidität
2.1.10 Familienprävalenz
2.1.11 Neurobiologie
2.1.12 Pharmakologie
2.1.13 Differentialdiagnosen
2.2 Impulsivität
2.2.1 Historischer Überblick
2.2.2 Störungen der Impulskontrolle bei psychiatrischen Erkrankungen
2.2.3 Impulsivität und Antrieb
2.2.4 Impulsivität und Kognition
2.2.5 Impulsivität und Affektregulation
2.2.6 Zusammenfassendes Modell der Impulsivität
2.3 Obsessive- Compulsive- Spectrum Disorders
2.3.1 Vergleich von Trichotillomanie (TTM) und Zwangsstörungen (OCD)

3 Fragestellungen

4 Methoden
4.1 Auswahl der Stichproben
4.2 Beschreibung der Stichproben
4.2.1 Altersstruktur
4.2.2 Alter bei Störungsbeginn/ Dauer der Erkrankung
4.2.3 Familienstand
4.2.4 Anzahl der Kinder
4.2.5 Schulabschluss
4.2.6 Berufsgruppen
4.3 Operationalisierung
4.3.1 Unabhängige Variablen
4.3.2 Abhängige Variablen
4.3.3 Kontrollvariablen
4.4 Versuchsdesign
4.4.1 Versuchsplan
4.4.2 Fallzahlen
4.4.3 Zielstellungen
4.4.4 Hypothesen

5 Ergebnisse
5.1 Auswertung der Erhebungsinstrumente
5.1.1 Unabhängige Variablen
5.1.2 Abhängige Variablen
5.1.3 Kontrollvariablen
5.2 Übergreifende Datenanalyse
5.2.1 Der Schweregrad der Trichotillomanie und andere Konstrukte
5.2.2 Andere Konstruktzusammenhänge

6 Diskussion

7 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Instrumentarium

Fragebogen zur Person

1 Einleitung

-bwohl Wolters schon 1907 die erste Übersichtsarbeit zur Trichotillomanie in Deutschland veröffentlichte, wurde dieses Störungsbild in den Folgejahren kaum beachtet. Arbeiten aus den 50er bis 70er Jahren stammen vornehmlich auf den Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Erklärungsansätze waren und sind teilweise sehr unterschiedlich und reichen von psychoanalytischer Ursachenbegründung über zwanghaftes Handeln, schlechter Angewohnheit, narzisstischer Regulation und neurobiologischer Ursachenforschung. Erst Ende der 80er Jahre mit der Aufnahme der Trichotillomanie in das DSM- III- R- der American Psychiatric Association (1987) wurde der ernsthafte Versuch unternommen der Erforschung dieses Störungsbildes eine gewisse Systematik zu verleihen. Nachfolgende Arbeiten der 90er Jahre beschäftigten sich überwiegend mit der Ätiologie, Phänomenologie und Komorbidität der Trichotillomanie. Besonderen Bezug scheint das Krankheitsbild zu den Zwangs-störungen aufzuweisen. Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede zwischen beiden Störungen bzgl. Epidemiologie, Neurobiologie und Pharmakologie wurden untersucht. Heutige Diskussionen um das Störungsbild der Trichotillomanie stehen im Zusammenhang mit der Neuklassifizierung verschiedener psychiatrischer Störungen in das Modell der Zwangsspektrumsstörungen (Obsessive- Compulsive Spectrum Disorders). Hier sollen verschiedene Störungsbilder aufgrund ihrer Affinität zu den Zwangsstörungen integriert werden. Die derzeitige Klassifizierung der Trichotillomanie als Impulskontrollstörung wäre damit hinfällig. Möglicherweise handelte es sich dann eher um eine „Zwangsspektrumsstörung mit erhöhten impulsiven Anteilen“. Über den Nutzen eines solchen Modells wird nachgedacht.

Wichtige Orientierungspunkte für den Aufbau der Arbeit:

Der theoretische Hintergrund in Kapitel 2.1 dieser Arbeit gibt einen Überblick der Demographie, Phänomenologie und Komorbidität des Störungsbildes der Trichotillomanie. Zudem werden das Konstrukt der Impulsivität in Kapitel 2.2 und das Modell der Zwangsspektrumsstörungen in Kapitel 2.3 (Obsessive- Compulsive Spectrum Disorders) näher erläutert. Die aus dem theoretischen Teil generierten Fragestellungen finden sich in Kapitel 3.

Der empirische Teil dieser Arbeit gliedert sich in drei Teile: Methoden, Ergebnisse und Diskussion der Ergebnisse.

Im Methodenteil der Kapitel 4.1 und 4.2 wird zunächst auf die demographischen Daten der Stichproben eingegangen. Im anschließenden Kapitel 4.3 erfolgt die Darstellung der Operationalisierung der Untersuchung. Das Versuchsdesign wird aus Kapitel 4.4 ersichtlich. Hier finden sich unter Kapitel 4.4.4 auch die Hypothesen.

Der Ergebnisteil gliedert sich in die Auswertung der Erhebungsinstrumente in Kapitel 5.1 und eine übergreifende Datenanalyse in Kapitel 5.2.

Im Diskussionsteil des Kapitels 6 werden die Ergebnisse interpretiert und in Bezug zu den bisherigen Theorien und Befunden gebracht.

Eine abschließende Zusammenfassung der Arbeit findet sich in Kapitel 6.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Trichotillomanie (TTM)

2.1.1 Historischer Überblick

Den Begriff der Trichotillomanie (TTM) prägte 1889 der französische Dermatologe Hallopeau, indem er die griechischen Wörter trich (Haar), tillo (die Bewegung des Herausziehens) und mania (Vorliebe für bestimmte Objekte) zu einem neuen Begriff zusammensetzte. Er beschrieb damit das Verhalten eines jungen Mannes, welcher sich büschelweise Haare an allen behaarten Stellen seines Körpers ausriss (zitiert nach Dielmann, 1969). Auslöser sei dabei ein Juckreiz, der bei diesen Patienten zu einer Psychose mit Zwangsvorstellungen führe, die sie zum Ausreißen zwängen. Zu den von Hallopeau beschriebenen charakteristischen Merkmalen zählten:

a) Hautjucken am ganzen Körper,
b) eine Art wahnsinniger Druck, der den Patienten dazu bringe sich die Haare mit dem Zweck der Erleichterung auszureißen,
c) kein krankhaftes Erscheinungsbild von Haut und Haaren sowie
d) eine Chronifizierung der Erkrankung (zitiert nach Christenson & Mackenzie, 1994a).

Galewsky (1928; zitiert nach Asam & Träger, 1973) beschreibt die Erkrankung als anormalen Trieb anscheinend gesunder Individuen, sich mit Gewalt die Haare ihres Körpers auszureißen. Besonders Kopfhaare, Augenbrauen, Wimpern, Bart und in seltenen Fällen auch Schamhaare, seien davon betroffen. Je nach der pathologischen Einstellung des Patienten erfolge dieses wahllos oder ähnlich wie bei der Alopecia areata fleckenweise. Für den Dermatologen Schwarzkopf (1931) stellt die Trichotillomanie (TTM) ähnlich dem Daumenlutschen eine motorische Entspannungs-reaktion dar, wobei vor allem Impulse im Ermüdungszustand zum Auszupfen der Haare führen (zitiert nach Otto & Rambach, 1964). Homburger (1926) betrachtet das Haareausreißen wie auch das Daumenlutschen als mögliche frühkindliche Normal-erscheinungen. Er ordnet das Verhalten den schlechten Gewohnheiten zu, durch die u.a. starke Affekte abreagiert würden.

Galewsky (1932; zitiert nach Bartsch, 1956) glaubt, dass es sich bei Trichotillomanie (TTM) um eine Art Zwangsvorstellung handelt, welche die Kranken zwinge sich die Haare auszurupfen. Bartsch (1956) betrachtet das Symptom des Haareausreißens als stereotype Verhaltensweise bzw. als einen Leerlaufmechanismus im Sinne einer motorischen Antriebsstörung, wobei er zwischen dranghaftem Verhal-ten bei cerebral geschädigten Menschen und triebhaftem Verhalten bei Personen mit neurotischen Störungen unterscheidet.

Dührssen (1976) spricht von einem gestörten Körpergefühl und der Unterdrückung oraler, aggressiver und zärtlichkeitsfordernder Impulse. Dührssen (1976, S. 183): „...hinter dem Haareausreißen steht eine auffällige Koppelung von verdrängten Wutimpulsen oder Aggressionsbereitschaften einerseits und sehr inten-siven Zärtlichkeitsbedürfnissen andererseits. Mit dem Körperempfinden, das sich das Kind beim Haareausreißen selber zufügt, schafft es sich einen kurzen Augenblick der Bestätigung seiner eigenen Existenz“.

Für Stutte (1960; zitiert nach Dielmann, 1969) wird die Trichotillomanie (TTM) durch ein seelisches Trauma ausgelöst. Sie stellt eine Ersatzbefriedigung aggressiver und regressiver Art dar und ist Ausdruck frühkindlicher Frustrationen durch mangelnde Zuwendung und Konflikte im sozialen Umfeld. Harbauer, Lempp, Nissen & Strunck (1971; zitiert nach Asam & Träger, 1973) verweisen insbesondere auf die depressive Grundstimmung der Kinder mit TTM. Sie sehen in dem Symptom einen Zusammenhang zwischen affektiver Frustration und mangelhaft entwickeltem Körperschema. Asam & Träger (1973) kommen zu der Auffassung, dass als Ursache der TTM eine frühe Störung der Mutter- Kind- Beziehung anzunehmen ist. Kind (1983) betrachtet das Ausreißen der Haare als Symbol sexueller Verführungskräfte mit dem Wunsch in die präödipale, von hetero- sexuell- inzestuösen Wünschen freie Zeit zurückzukehren.

-ranje, Peere- Wynia & De Raeymaker (1986) resümieren, dass eine im Erwachsenenalter auftretende Trichotillomanie von der im Kindesalter bezüglich Schweregrad und Verlauf unterschieden werden müsse. Aussagen über Prävalenzen in beiden zu unterscheidenden Gruppen gibt es bis heute nur sehr wenige.

2.1.2 Klassifikation

Mit der Aufnahme der Trichotillomanie in die dritte revidierte Form des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM- III- R), wurde diese erstmals offiziell als psychische Störung anerkannt. Zusammen mit der Intermittierenden- Explosiblen Störung, der Kleptomanie, dem Pathologischen Spielen und der Pyromanie wurde die Trichotillomanie der Kategorie „Störungen der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert“ zugeordnet. Das Hauptmerkmal von Störungen der Impulskontrolle ist dabei das Versagen dem Impuls, Trieb oder der Versuchung zu widerstehen eine Handlung auszuführen, die für die Person selbst oder für andere schädlich ist. Dabei fühlen die Betroffenen oft eine zunehmende Spannung oder Erregung bevor die Handlung durchgeführt wird. Die Handlung selbst ist mit Vergnügen, Befriedigung oder Entspannung verbunden. Nach der Handlung können Reue, Selbstvorwürfe oder Schuldgefühle auftreten. Die Diagnosekriterien des aktuellen DSM- IV (American Psychiatric Association, 1994) sind in Tabelle 1 aufgeführt.

Tabelle 1: Diagnosekriterien nach DSM- IV für Trichotillomanie (312.39)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im ICD- 10 (World Health Organization, 1992) wird die Trichotillomanie (F 63.3) in der Gruppe der „Abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F 63.0)“ aufgeführt. Dabei handelt es sich um isoliert auftretende auffällige Verhaltensweisen, die nicht als Symptom einer anderen diagnostizierten psychischen Störung anzusehen sind (z.B. als Symptom einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung oder manischen Episode). Die Handlungen wiederholen sich dabei ohne vernünftige Motivation. Zur Definition der Trichotillomanie heißt es im ICD- 10 (Tabelle 2):

Tabelle 2: Diagnosekriterien nach ICD- 10 (Kap. V) für Trichotillomanie (F 63.3)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1.3 Beschreibung der Symptomatik

Das Haareausreißen geschieht normalerweise nicht im Beisein von anderen, abgesehen von den direkten Angehörigen. Dabei gehen die Betroffenen in ihrem Verhalten systematisch auf die Suche nach besonders grobfasrigen, dicken, langen, krummen oder grauen Haaren. Hauptmotivation ist dabei das Streben nach Symmetrie der Haare (Christenson, Mackenzie & Mitchell, 1991a). Das unterschiedlich schnelle, stufenweise Nachwachsen der Haare ist nicht nur besonderes Merkmal bei TTM, sondern führt auch dazu, dass sich das Reißverhalten in dem Bestreben nach Symmetrie selbst verstärkt.

Ca. 48% der Betroffenen zeigen nach dem Ausreißen orale Befriedigungsweisen. So wird sich mit dem Haar über die Lippen gestrichen, dieses als Zahnseide benutzt oder aufgegessen (Christenson & Mackenzie, 1994a). Für viele stellt nur die Haarwurzel den eigentlichen Anreiz dar, welche nach dem Ausreißen genussvoll zerbissen wird (Christenson & Mansueto, 1999). In einigen Fällen wird das Haar auch gegessen (Trichophagie) was zu ernsthaften Komplikationen führen kann, wenn sich der unverdauliche Haarball im Magen oder Dickdarm festsetzt (O´Sullivan, Keuthen, Jenike & Gumley, 1996). Zudem wird von den Autoren ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung eines Carpaltunnel- Syndroms genannt.

Die Betroffenen verleugnen und vertuschen den selbstzugefügten Haarausfall. Einige haben den Drang zum Ausreißen von Haaren bei anderen. Es kommt vor, dass Haustieren, Puppen und anderen behaarten Gegenständen Haare ausgerissen werden. Nägelkauen, Kratzen, Nagen und Hautabschürfungen können mit Trichotillomanie einhergehen (American Psychiatric Association, 1994).

2.1.4 Laborbefunde

Eine Biopsie der betroffenen Körperstellen kann kurze und abgebrochene Haare aufzeigen. Oft ist das Haar wie Flaum sehr dünn und spärlich und in der Pigmentierung verändert. Bei einer histologischen Untersuchung werden im selben Areal sowohl normale als auch zerstörte Follikel gefunden. Betroffene Follikel können leer sein oder stark pigmentierte Keratinpfropfen enthalten. Das Fehlen von Entzündungen unterscheidet den Haarausfall durch Trichotillomanie von der Alopecia areata (American Psychiatric Association, 1994).

2.1.5 Körperliche Untersuchungsbefunde

Sichtbare Merkmale sind sowohl Stellen mit totaler Haarlosigkeit, als auch Stellen bei denen die Haardichte deutlich reduziert ist. Häufiger fehlen Augenbrauen und Wimpern fast vollständig.Bei der Untersuchung kann eine sehr lichte Schambehaarung auffallen. Die Muster des Haarausfalls variieren stark voneinander.Auf dem Kopf kann bevorzugt das Haar am Scheitel, am Haaransatz, um den Haarwirbel, an den parietalen Regionen oder hinter den Ohren ausgerissen werden (American Psychiatric Association, 1994). Eher selten ist das Merkmal der Tonsurtrichotillomanie (fast vollständige Kahlheit mit nur schmalem Haarkranz am äußeren Kopfrand). Schmerz wird nicht durchgängig als Begleiterscheinung berichtet (Christenson, Raymond, Faris & McAllister, 1994c). An der betroffenen Stelle können Jucken und Stechen auftreten.Das Ausreißen der Haare bezieht sich prinzipiell auf jede Körperstelle, wobei eine gewisse Rangfolge bei der Wahl der Reißlokalitäten besteht (Tabelle 3, nach Schlosser, Black & Blum, 1994). Demnach ist das Haupthaar am Kopf die Stelle der ersten Wahl, gefolgt von Wimpern, Augenbrauen, Schamhaaren, Gesicht sowie Arm- und Beinhaaren (Christenson et al., 1991a; Schlosser et al., 1994; Cohen, Stein, Simeon, Spadaccini & Rosen, 1995). Bei Männern können zusätzlich auch Nasenhaare, Barthaare, Bauch- und Brusthaare sowie Haare in den Ohren ausgerissen werden (Winchel, 1992a). In einem Artikel von Neudecker & Hand (1999) werden die Ausreißhäufigkeiten für die verschiedenen Körperregionen mit 96% Kopfhaar, 32% Schamhaar, 15% Augenbrauen, 14% Wimpern und 14% andere Regionen benannt (Mehrfachnennung).

Tabelle 3: Haarausreißverhalten von 22 TTM- Patienten (nach Schlosser et al., 1994)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1.6 Störungsbeginn- und Verlauf

Trichotillomanie beginnt meist mit der Pubertät, d.h. um das 11.- 15. Lebensjahr (Schlosser et al., 1994; Christenson, 1995; Cohen et al., 1995). Studien über einen Zusammenhang von hormoneller Umstellung des Körpers und Beginn der Störung sind allerdings bekannt. Keuthen, O´Sullivan, Hayday, Peets & Jenike (1997) berichten von einen Anstieg des Reißreizes in der Woche vor Menstruationsbeginn.

Christenson, Mackenzie & Mitchell et al. (1994b) fanden eine übereinstimmende Phänomenologie zwischen Männern und Frauen. Sie gehen von einer Gleichverteilung der Auftretenshäufigkeit von TTM aus. Den ausgesprochen hohen Frauenanteil von bis zu 93% (Christenson, 1995; Cohen et al., 1995) erklären die Autoren damit, dass Frauen eher gewillt sind professionelle Hilfe aufzusuchen. Bei Männern sei Haarausfall zudem gesellschaftlich akzeptiert, so dass die Betroffenen ihre Symptome leichter vertuschen können.

Christenson & Mansueto (1999) geben eine Zusammenstellung möglicher äußerer Auslöse- bzw. Stressfaktoren, wie Tod oder Krankheit eines Familienmitglieds, Wohnortwechsel, Distanzierung oder Entfremdung von Freunden, Schwierigkeiten oder Druck in der Schule, Eintritt der Menarche, Trennung oder Scheidung der Eltern, Geschwisterrivalitäten, Aufgeben des Rauchens, Sexueller Missbrauch u.a. an.

Christenson & Mackenzie (1994a) schätzen in ihrer Untersuchung zu auto-matisiertem- und fokussiertem Haareausreißen, dass ca. dreiviertel der Betroffenen überwiegend unbewusst, d.h. gewohnheitsmäßig Haare ausreißen. Bei einem Drittel ihrer Probanden waren die Handlungen des Haareausreißens sogar mit lustvollen Aspekten verbunden, die dabei halfen ein Gefühl von Lethargie und Langeweile zu lindern. Nur ein Viertel der Befragten assoziierte in dieser Untersuchung das Haareausreißen mit innerem Drang, erhöhter Anspannung oder Zwangsgedanken.

Nach Neudecker & Hand (1999) gibt es selten reißfreie Phasen die länger als ein paar Tage andauern. Die meisten Patienten haben bestimmte „Lieblingsstellen“ an denen sie reißen. Scheinen diese Orte erschöpft, d.h. ist entweder deutlich die Kopfhaut zu sehen oder sind z.B. alle Augenbrauen ausgerissen, wird vorübergehend auf andere Orte ausgewichen. Bei starker, über Jahre andauernder Trichotillomanie, muss langfristig mit Kahlheit gerechnet werden.

Vereinzelt berichtete Erfolge über längere reißfreie Zeiten von Monaten und Jahren scheinen durch einen phasenweisen Verlauf des Störungsbildes bestimmt zu sein (Christenson, 1995). Die Dauer der Haarausreißepisoden schwankt zwischen wenigen Minuten bis zu einigen Stunden täglich (Swedo & Rapoport, 1991a; Winchel, 1992).

2.1.7 Soziale Beeinträchtigung

Das am häufigsten beobachtete sekundäre Problem der TTM- Betroffenen ist die zunehmende soziale Isolation. Einerseits werden für das stundenlange Beschäftigen mit dem Haar soziale Kontakte geopfert, andererseits entsteht diese Isolation aber aus dem Gefühl von Scham und Peinlichkeit (Swedo & Rappoport, 1991a). Viele der Betroffenen benutzen Perücken, spezielles Haardesign, Kopftücher, Make-up´s, Hüte, künstliche Wimpern u.a. (Schlosser et al., 1994; Diefenbach, Reitman & Williamson, 2000). Aus Furcht vor Entdeckung werden Freizeitbeschäftigungen wie Schwimmen, Tanzen, Sport und andere Situationen, in denen der Haarverlust entdeckt werden könnte, vermieden. Neben der geminderten Lebensqualität der Betroffenen führt diese ängstliche Vermeidung von Sozialkontakten auch dazu, dass es den TTM- Patienten nicht gelingt ärztlich- psychologische Hilfe aufzusuchen (O´Sullivan et al., 1996). Dieses vermeidende Verhalten führt wiederum dazu, dass viele Betroffene glauben die Einzigen mit diesem Problem zu sein (Diefenbach et al., 2000).

2.1.8 Prävalenz

In der ersten Studie zur Prävalenz der TTM, wurden 2579 College- Studenten befragt (Christenson, Pyle & Mitchell, 1991b). Die Resultate zeigten bei 1,5% der Männer und 3,4% der Frauen pathologischen Haarverlust, wenn man das Kriterium C des „unmittelbaren Spannungsanstiegs vor der Handlung“ vernachlässigte. Bei Erfüllung aller Diagnosekriterien wurde eine Lifetime- Prävalenz über beide Geschlechter von 0,6% ermittelt. In einer anderen Studie an College- Studenten wurden Prävalenzraten zwischen 10% and 13% angegeben, wobei aber nur bei 1% der Studenten klinisch auffälliger Haarverlust festzustellen war (Rothbaum, Shaw, Morris & Ninan, 1993).

2.1.9 Komorbidität

Trichotillomanie scheint in den wenigsten Fällen losgelöst von anderen Störungsbildern aufzutreten. Häufig sind Komorbiditäten zu anderen Achse- I Störungen zu beobachten. Christenson et al. (1991a) fanden innerhalb der TTM- Patientengruppe (N= 60) Komorbiditäten von 55% Major Depression, 57% Angststörungen, 20% Essstörungen und 22% Alkohol- Abhängigkeit. In der Untersuchung von Swedo & Leonard (1992) wurden Raten von 39% unipolarer Depression, 32% generalisierter Angststörung, 16% Zwangstörung und 15% Substanzabhängigkeit bei der TTM- Gruppe festgestellt. Christenson (1995) lieferte die mit 186 TTM- Patienten umfangreichste Studie zu Achse- I Störungen mit 59% Affektiven Störungen (davon 51,6% Major Depression), 82,9% Angststörungen (davon 27% generalisierte Angststörung, 18,8% einfache Phobie, 13,4% Zwangsstörungen u.a.), 21% Essstörungen, 35,5% Substanzmissbrauch oder Abhängigkeit und 3,2% chronisch- motorischen Tics.

Christenson, Chernoff- Clementz & Clementz (1992) untersuchten an 48 TTM- Patienten auch die Komorbidität zu Achse-II- Persönlichkeitsstörungen (PS). 42% der untersuchten Patienten wiesen entsprechende Komorbiditäten auf (Histrionische PS, 14,6%; Vermeidende PS, 10,4%; Zwanghafte- und Abhängige PS je 8,3% u.a.). Da es zur parallelisierten Kontrollgruppe (N= 48) keine signifikanten Unterschiede gab, schlossen die Autoren auf keine charakteristischen Persönlichkeitsstörungen bei TTM- Patienten. Swedo (1993) stellte bei 38% ihrer TTM- Patienten Achse-II- Persönlichkeitsstörungen fest. Bei Schlosser et al. (1994) finden sich 55% Achse-II- Persönlichkeitsstörungen (PS) in der TTM- Gruppe (N= 22). Dabei nehmen die Schizoide PS 14%, die Borderline PS 14%, die Vermeidende- PS 14%, die Passiv- aggressive PS 14% und die Obsessive- Compulsive PS 27% ein (bei Mehrfachnennung).

Auch wenn die TTM- Betroffenen eine im Vergleich zur Normalbevölkerung höhere Prävalenz zu Persönlichkeitsstörungen aufzuweisen, sind diese Störungen nicht häufiger anzutreffen als bei anderen psychischen Erkrankungen (Christenson et al. 1992). Eine zusammenfassende Übersicht komorbider Achse- I- und Achse II- Störungen bei TTM- Patienten gibt Tabelle 4.

Tabelle 4: Komorbidität psychischer Erkrankungen bei TTM- Patienten (Mehrfachnennungen möglich)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1.10 Familienprävalenz

Schlosser et al. (1994) fanden in ihrer Untersuchung zur Lebenszeit- Prävalenz psychischer Störungen bei 102 Verwandten 1. Grades von Trichotillomanie- Patienten (N= 22) ein 5%iges Vorkommen von Trichotillomanie. Depression (13%), Substanz- abhängigkeit (37%), Antisoziale Persönlichkeitsstörung (12%) und Zwangsstörungen (3%) waren bei den Angehörigen der TTM- Gruppe signifikant höher als bei den Angehörigen (N= 182) der Kontrollgruppe (N= 33). Auch Swedo et al. (1993) fand bei 106 Verwandten 1. Grades von 28 TTM- Patienten 5% Zwangsstörungen und 5% Trichotillomanie. Andere Studien zur Lebenszeit- Prävalenz von Trichotillomanie bei Angehörigen 1. Grades berichten von 3% (Cohen et al., 1995) und 8% (Christenson et al., 1992).

Bienvenu, Samuels, Riddle, Hoehn- Saric & Nestadt (2000) untersuchten ebenfalls den Zusammenhang von Zwangsstörungen (OCD) und Trichotillomanie. Allerdings unterscheidet sich hier das Versuchsdesign. Grundlage ihrer Untersuchung ist die Diskussion der Zuordnung verschiedener Störungsbilder in eine neue gemeinsame Gruppe der Zwangsspektrumsstörungen (OCSD). Untersucht wurden hier 343 Verwandte 1. Grades von 80 OCD- Patienten und 300 Verwandte 1. Grades von 73 Kontrollpersonen hinsichtlich ihrer Lebenszeit- Prävalenzen. Nach Ansicht der Autoren sollten ausschließlich Störungsbilder mit einer Komorbidität zu Zwangsstörungen dem Zwangs- Spektrum- Modell (OCSD) zugeordnet werden. Zu diesen Störungsbildern zählen u.a. die Körperdysmorphe Störung (15%), Hypochondrie (15%), Pathologisches Fingernägelknabbern (24%) und Pathologisches Hautpicking (23%). Aus der Gruppe der Impuls- Kontroll- Störungen wurde von vier OCD- Patienten (5%) eine Lebenszeit- Prävalenz von Trichotillomanie angegeben. In der Kontrollgruppe gab es nur eine Person (1,4%), die schon einmal unter Trichotillomanie gelitten hatte. Der Unterschied ist nicht signifikant (Tabelle 5). Bei den Angehörigen 1. Grades der OCD- Patienten zeigte sich ein ähnliches Bild. Hier wurde nur die Körperdysmorphe Störung mit 12 Personen (3,5%) signifikant höher als von den Verwandten der Kontrollgruppe ange-geben. Trichotillomanie tritt nur noch bei drei Verwandten (1%) der OCD- Patienten auf und überhaupt nicht bei den Kontrollverwandten. Damit zählt für die Autoren die Gruppe der Impuls- Kontroll- Störungen nicht zu den Zwangsspektrumsstörungen (OCSD).

Tabelle 5: Lebenszeit- Prävalenzen von Zwangs - Spektrums Störungen (OCSD) bei OCD- Patienten OCD- Patienten sowie deren Verwandten 1. Grades (nach Bienvenu, 2000)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1.11 Neurobiologie

Neurobiologische Untersuchungen zur Trichotillomanie umfassen das Neurotransmitter- system, die funktionale Gehirnstruktur, die neuropsychologische Leistungsfähigkeit sowie deren Abweichungen und Auswirkungen auf die Symptomatik.

2.1.11.1 Neurotransmitter

Verschiedene Studien implizieren eine serotonerge Dysfunktion in der Neurobiologie der proklamierten Zwangsspektrumsstörungen (OCSD).

Messungen der Hauptmetaboliten 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) von Serotonin und 3-Methoxy-4-Hydroxyphenylglycol (MHPG) von Noradrenalin in der cerebrospinalen Flüssigkeit (CSF 5-HIAA) bei 11 medikamentenfreien TTM- Patienten durch Ninan, Rothbaum & Stipetic (1992) ergaben keine Abweichungen zur parallelisierten Kontrollgruppe (N= 17). Auch die Level der Metaboliten von Dopamin (Homovanillicsäure) und Epinephrin (Adrenalin, ein von der Nebennierenrinde ausge-schiedenes Hormon) unterschieden sich nicht. Zumindest ließ sich von den Autoren innerhalb der TTM- Gruppe ein positiver Zusammenhang zwischen der Gabe von selektiven Serotonin- Wiederaufnahme- Hemmern (SSRI´s) und der Veränderung des CSF 5- HIAA Levels feststellen.

Eine Untersuchung mit dem Serotoninagonisten m -Chlorophenylpiperazine (m-CPP) durch Hollander, DeCaria & Nitescu (1992), führte bei OCD- Patienten zu einem Anstieg dysphorischer Affekte sowie zwanghafter Gedanken und Handlungen. Bei Patienten mit einer impulsiven Persönlichkeitsstörung wird von euphorischen Reaktionen auf die Stimulation mit m-CPP berichtet (Hollander, Stein & DeCaria, 1994). Auch bei pathologischen Spielern und TTM- Patienten werden durch einen Anstieg der Prolaktin- Spiegel euphorische Reaktionen auf m- CPP Stimulation berichtet (Stein, Hollander, Cohen, Simeon DeCaria & Islam, 1994). Offensichtlich gibt es neurobiologische Gemeinsamkeiten zwischen impulsiver Persönlichkeitsstörung und Trichotillomanie. Die Veränderung der Serotoninfunktion durch m-CPP beeinflusst direkt die Ausschüttung der neuroendokrinen Hormone Prolaktin, Cortisol und des Wachstumshormons. Stein, Hollander & Cohen (1995b) verglichen 10 weibliche TTM- Patienten mit einer parallelisierten Kontrollgruppe (Alter und Geschlecht) bezüglich deren Reaktion auf m-CPP. Es wurden keine Unterschiede im Prolaktin- und Cortisolspiegel zwischen den Gruppen festgestellt. Die Autoren vermuten einen Geschlechtseffekt, da Frauen stabiler auf Serotoninprovokationen reagieren. Im Unterschied dazu reagieren bei Zwangspatienten beide Geschlechter mit einem Anstieg der Zwangssymptome durch m-CPP (Stein, Simeon, Cohen & Hollander, 1995a).

Stanley & Cohen (1999) merken an, dass Störungsbilder aus dem Bereich der OCSD mit motorischen Affinitäten auch auf Reaktionen im dopaminergen Metabolismus untersucht werden müssten. Leckmann (1993) verweist auf die zentrale motorische Komponente zwischen Trichotillomanie und dem Tourette Syndrome.

Carpenter, Henninger, McDougle, Tyrka & Epperson (2002) untersuchten sowohl bei OCD- Patienten (N= 26) als auch bei TTM- Patienten (N= 9) die CSF- Konzentration an dem Cytokin Interleukin IL- 6. Dieses Eiweiß spielt eine übergeordnete Rolle bei der Regulation von Autoimmunreaktionen sowie bei der Bildung von Stammzellen im

Knochenmark. Zudem ist in der Pathogenese von Depressionen (Connor & Leonard, 1998; zitiert nach Carpenter, 2002), Demenz (Leonard 2001; zitiert nach Carpenter, 2002) und Schizophrenie (Müller, Riedel, Gruber, Ackenheil & Schwarz 2000; nach Carpenter, 2002) ein Anstieg der IL- 6 Konzentration zu beobachten. In oben erwähnter Studie konnte jedoch in beiden Gruppen keine Erhöhung der IL- 6 Konzentration gegenüber den Kontrollgruppen festgestellt werden. Diese Ergebnisse sprechen gegen eine Beteiligung der Immunaktivität in der Pathogenese von OCD und TTM.

Fazit: Der Anstieg euphorischer Reaktionen durch den Serotoninagonisten m- CPP bei Trichotillomanie und impulsiver Persönlichkeitsstörung lässt Rückschlüsse auf ähnliche neurobiologische Mechanismen beider Störungsbilder zu.

2.1.11.2 Neuropathologie

Swedo, Rapoport & Leonard (1991b) stellten mittels Positronen- Emissions- Tomographie (PET) einen bilateralen Anstieg des Glucosemetabolismus im Cerebellum wie auch im rechten superior- parietalen Bereich bei zehn TTM- Patienten (Kontrollgruppe, N= 10) fest. Diese Ergebnisse entsprechen nicht den Befunden von OCD- Patienten. Hier konnte ein erhöhter Glucosemetabolismus in Regionen des orbito- frontalen Bereichs und im Nucleus caudatus aufgezeigt werden (Baxter, Phelps & Mazziotta, 1987; Baxter, Schwartz & Bergman, 1988; Nordahl, Benkelfat & Semple, 1989; Swedo, Schapiro & Brady 1989d; nach Stanley & Cohen, 1999). Bei Gabe von Clomipramin korrelieren beide Störungsbilder negativ im Glucosemetabolismus des orbito- frontalen Bereichs (Swedo et al., 1991b).

Befunde der Volumenmessung einzelner Gehirnareale über Magnet- Resonanz- Tomographie (MRT) zeigten bei zehn Frauen mit Trichotillomanie (Kontrollgruppe, N= 10) ein verkleinertes linkes Putamen (13,2%) aber keine Unterschiede im Nucleus caudatus Volumen. Auch Stein, Coetzer & Lee (1997) konnten durch MRT keine Volumenunterschiede des Nucleus caudatus bei TTM- und OCD- Patienten feststellen. Singer, Reiss, Brown, Aylward & Shih (1993; zitiert nach Stein, O´Sullivan & Hollander, 1999) verweisen auf die Befunde zum Tourette- Syndrom mit ebenfalls verkleinertem Putamen.

Fazit: Trichotillomanie- und Zwangspatienten weisen bezüglich des Glukose- Metabolismus, Aktivitäten in unterschiedlichen Hirnarealen auf. Die Befunde eines verkleinerten Putamen bei TTM- Patienten sprechen für eine mögliche Beteiligung dieser Hirnregion an unwillkürlichen Ausreißhandlungen.

2.1.11.3 Neuropsychologie

In einem Vergleich von 21 TTM- Patienten, 12 OCD- Patienten, 17 Angstpatienten und 16 Kontrollpersonen bezüglich ihrer Leistungen in räumlicher Merkfähigkeit und Orientierung (Stylus Maze und Money Road Map Test) ähnelten sich Fehlerraten und Regelverletzungen von TTM- Patienten und OCD- Patienten im Stylus Maze (Rettew, Cheslow & Rapoport, 1991). Probleme der räumlichen Wahrnehmung werden angenommen. Es wurde zudem eine Korrelation von Testfehlern und Medikation mit Clomipramin (einem trizyklischen Antidepressivum, welches als selektiver Serotonin- Wiederaufnahme- Hemmer [SSRI] und somit als Serotonin-Antagonist wirkt) in der TTM- Gruppe festgestellt. Die Anwendung von SSRI´s basiert auf der Vermutung, dass eine Störung im Serotonin- Metabolismus bei TTM vorliegt.

Martin, Pigott, Lalonde, Dalton Dubbert & Murphy (1993; zitiert nach Stanley, Hannay & Breckenridge, 1997) vermuten, dass die Abweichungen der kognitiven Fähigkeiten von Trichotillomanie und Zwangspatienten ähnlich wie bei Corea Huntington auf Veränderungen in den Basalganglien zurückzuführen sind.

Keuthen, Savage, O´Sullivan, Brown & Shera (1996) verglichen 20 TTM- Patienten mit 20 neuropsychiatrisch gesunden Kontrollpersonen (parallelisiert nach Alter, Geschlecht, Bildung und Händigkeit, Ausschluss von Depressionen und Substanzabhängigkeit) bezüglich exekutiver Fähigkeiten, visuell- räumlicher Fähigkeiten, Aufmerksamkeit sowie unmittelbarem verbalem und nonverbalem Gedächtnis. Signifikante Unterschiede in exekutiven Fähigkeiten (Gestaltsubtest vom Odd Man Out Test) und nonverbalem Gedächtnis (Ray- Osterrieth Complex Figure Test) wurden gemessen.

Stanley et al. (1997) verglichen 21 TTM- Patienten mit 17 parallelisierten Kontrollpersonen anhand intellektueller Fähigkeiten, auditiver und visueller Wahr-nehmung, motorischen- und somatosensorischen Fähigkeiten, räumlicher Gedächtnis-leistung, Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Impulsivität und cerebraler Dominanz. Die Trichotillomanie- Gruppe erzielte in allen Tests zur geteilten Aufmerksamkeit (Trail Making Test B, Paced Auditory Serial Addition Test (PASAT), Stroop- Color- Word Test) signifikant abweichende Ergebnisse zur Kontrollgruppe. Da sowohl der PASAT signifikant mit dem Beck Depressions Inventar (BDI) und dem State- Trait Anxiety Inventar (STAI), als auch der Trail Making B mit dem STAI korrelierte, sehen die Autoren einen Zusammenhang von negativen affektiven Zuständen wie Depressionen und Ängsten und geteilter Aufmerksamkeit bestätigt.

Fazit: Diese Ergebnisse implizieren eine Zugehörigkeit der Trichotillomanie zu den Angst- bzw. affektiven Störungen. Zudem weisen TTM- Patienten erhebliche kognitive Defizite auf.

2.1.12 Pharmakologie

Aufgrund der Ähnlichkeiten zwischen der Trichotillomanie und der Zwangsstörung wurden vor allem selektive Serotonin- Wiederaufnahme- Hemmer (SSRI´s) bei der Behandlung der TTM eingesetzt, da sich diese bei der Behandlung von Zwangsstörungen als wirksam erwiesen haben.

Swedo, Leonard & Rapoport (1989) verglichen in einem Doppel- Blind- Crossover Versuch an 22 TTM- Patienten die Wirksamkeit von Clomipramin (Serotonin- Blocker) und Desipramin (Noradrenalin- Blocker). Clomipramin erwies sich dabei in der Bewertung von Schweregrad und Beeinträchtigung (10 Wochen, 3 Ratings) Desipramin signifikant überlegen. 12 Patienten berichten von signifikanter Verbesserung des Ausreißverhaltens, 3 Patienten werden symptomfrei. Pollard, Ibe, Krojanker, Kitchen & Bronson (1991) berichten eine starke Symptomreduktion während der Behandlung mit Clomipramin (N= 4) . Nach drei Monaten wurden allerdings drei von vier Patienten wieder rückfällig. Diese Beobachtungen stehen im Kontrast zu Swedo, Lenane & Leonard(1993) die in einem follow- up von 4,3 Jahren (N= 16) eine anhaltende Reduktion der Symptome der Trichotillomanie berichten. Offen bleibt in dieser Studie welcher Anteil am Therapieerfolg auf die Medikation mit Clomipramin zurückzuführen ist, da es sich um eine Kombinationstherapie aus Medikation, Verhaltens- und/ oder Psychotherapie handelte.

Pigott, L´Heueux & Grady (1992; zitiert nach Christenson & Crow, 1996) verglichen die Wirksamkeit von Clomipramin und Fluoxetine in einem Doubleblind-Crossover-Placebo Design. Hier wurden mit beiden Medikamenten ähnlich positive Effekte in der Behandlung der Trichotillomanie erzielt. Winchel, Jones, Stanley & Molcho (1992c) untersuchten an 12 TTM- Patienten die Wirksamkeit des SSRI Fluoxetin (Open-label Design) über 16 Wochen mit 80mg/d. Eine signifikante Symptomreduktion wird mitgeteilt. Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zu Christenson, Mackenzie & Mitchell (1991d), die bei 16 TTM- Patienten (18 Wochen, crossover Design) keine Überlegenheit von Fluoxetin gegenüber dem Placebo feststellen konnten (ebenfalls 80mg/d). Auch der Versuch von Streichenwein & Thornby (1995) (Placebo kontrolliertes crossover Design) Fluoxetin für die Behandlung von Trichotillomanie einzusetzen führte nicht zum Erfolg. Christenson et al. (1996) erreichten durch Anwendung des selektiven Serotonin- Wiederaufnahme- Hemmers Fluvoxamin bei 19 TTM- Patienten (8 Wochen, Open- trial) eine Verbesserung der Gesamtsymptomatik zwischen 27,3% und 50,7%. Eine Reduktion des Haareausreißens um mindestens 50% erreichten aber nur vier Patienten, die nach sechsmonatiger Weiterbehandlung mit Fluvoxamin wieder auf ihr Ausgangslevel zurückfielen.

Christenson, Popkin & Mackenzie (1991c) untersuchten die Effektivität der Behandlung der TTM mit Lithium (N= 10) über 2- 14 Monate. Bei acht Patienten war eine Verbesserung des Haarausreißverhaltens mit Haarwachstum zu beobachten, während sich bei zwei Patienten die Symptome verschlechterten. Ein Symptomrückfall nach dem Absetzen von Lithium wurde nur bei drei von acht Patienten festgestellt. Stein & Hollander (1992) erreichten durch den Einsatz von Pimozide (neuroleptischer Dopaminagonist) bei sechs von sieben TTM- Patienten eine weiter anhaltende Unterdrückung des Ausreißverhaltens nach Resistenz auf Fluoxetine und Clomipramin. Bei drei der sechs Patienten war die Medikation 12 Monate wirksam.

Fazit: Die Substanz Clomipramin bewirkt (z.T. in Kombination mit anderen Therapiemaßnahmen) bei der Mehrheit der TTM- Patienten eine zeitweilige Verbesserung der Symptomatik. Im Gegensatz zu OCD- Patienten eignet sich diese Medikamentengruppe wegen sich entwickelnder Resistenzen nicht für eine dauerhafte Medikation bei Trichotillomanie. Die Wirksamkeit der Substanz Fluoxetin wird in der Literatur widersprüchlich diskutiert. Die nachfolgende Tabelle 6 gibt einen Überblick der kontrollierten Studien.

Tabelle 6: Kontrollierte Pharmakastudien bei Trichotillomanie

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Legende: BDI= Becks Depressions Inventar; CMI= Clomipramin; DMI= Desipramin; FLX= Fluoxetine; G-OCSS= Global Obsessive Compulsive Symptom Scale; Ham-D= Hamilton Depressions Scale; HPS= Hair Pulling Severity; NIMH-OC= National Institute of Mental Health Obsessive Compulsive Scale; NAL= Naltrexon; PCS= Physican`s Change Scale; PLB= Placebo; TIS= Trichotollomania Impairment Scale; TSS= Trichotillomania Symptom Severity Scale; Y-BOCS = Yale- Brown Obsessive Compulsive Scale

2.1.13 Differentialdiagnosen

Bei Betroffenen die das Haareausreißen verleugnen, sollten nach DSM- IV (American Psychiatric Association, 1994) andere Gründe für den Haarausfall in Betracht gezogen werden:

1) Eine gesonderte Diagnose Trichotillomanie wird nicht gestellt, wenn das Verhalten besser durch eine andere psychische Störung erklärt werden kann.

2) Das wiederholte Haareausreißen bei Trichotillomanie muss von einem Zwang, wie er bei Zwangsstörungen vorkommt, unterschieden werden. Bei der Zwangsstörung werden die wiederholten Handlungen als Reaktion auf eine Zwangsvorstellung oder aufgrund von Regeln, die rigide befolgt werden müssen, ausgeführt.

3) Die zusätzliche Diagnose „Stereotype Bewegungsstörung“ mit autoaggressivem Charakter wird nicht gestellt, wenn sich das Ausführen der wiederholten Handlungen auf das Haareausreißen beschränkt.

4) Der selbst herbeigeführte Haarausfall bei der Trichotillomanie muss von der „vorgetäuschten Störung mit vorwiegend körperlichen Zeichen und Symptomen“ unterschieden werden, bei welcher der Wunsch des Betroffenen die Krankenrolle einzunehmen die Handlung motiviert.

Viele Menschen drehen und spielen an ihren Haaren, vor allem in Zeiten erhöhter Ängstlichkeit oder bei Stress. Dieses Verhalten lässt normalerweise nicht die Diagnose der Trichotillomanie zu. Personen bei denen die resultierende Haarschädigung durch TTM so gering ist, dass sie praktisch nicht zu sehen ist, sollten die Diagnose nur gestellt bekommen, wenn sie deutlich unter den Symptomen leiden.Da bei Kindern begrenzte Phasen des Haareausreißens normal sind, sollten diese als Angewohnheit betrachtet werden. Deshalb soll bei Kindern die Diagnose der TTM erst dann gestellt werden, wenn das Verhalten über mehrere Monate hinweg anhält.

2.2 Impulsivität

2.2.1 Historischer Überblick

Schon 1896 wurde von Kraepelin in die deutsche Psychiatrie der Begriff des „impulsiven Irrseins“ eingeführt. Dieser umfasste Krankheitszustände, bei denen die Betroffenen einem unzähmbaren Impuls folgten, dessen Ausführung Befriedigung und Erleichterung versprach. Das Konzept des impulsiven Irrseins geht auf die „Monomanie instinctive“ zurück, die 1839 vom französischen Psychiater Esquirol als Willensstörung mit daraus folgendem ungesteuerten Verhalten beschrieben wurde (zitiert nach Herpertz, 2001). Janet definierte 1906 den Begriff der Impulsneurose als unwiderstehlichen Handlungsdrang, welcher der Befindlichkeitsmanipulation in Zuständen innerer Leere und Hilflosigkeit diene.

Bedeutsam für das heutige Verständnis der Impulskontrollstörungen sind die beiden Aspekte „plötzliche Energieentladung“ und „Mangel an Willenskontrolle“ (Herpertz & Saß, 1997). Buss & Plonin (1975) übernehmen diese zweigliedrige Struktur der Impulsivität, ersetzen die beiden Komponenten aber durch „schnelles und heftiges Antworten auf Reize“ vs. „zurücklehnen und Planen vor dem Handeln“ im Sinne einer Antriebsfunktion und „Widerstand leisten“ vs. „nachgeben gegenüber Trieben, Impulsen und Motivation“ im Sinne einer Kontrollfunktion. Die beiden Dimensionen Antrieb und Kontrolle sind für Herpertz & Saß (1997) die beiden Primärkräfte der Impulsivität. Gemeint ist damit das Verhalten als Resultat ins Bewusstsein getretener Kräfte und Gegenkräfte von Antrieb und Hemmung. „Die Seite der Hemmung bildet sich im Konstrukt der Impulskontrolle ab, während der andere Aspekt als impulsiver Antrieb bezeichnet wird“ (Herpertz & Saß, 1997, S. 173).

2.2.2 Störungen der Impulskontrolle bei psychiatrischen Erkrankungen

Impulsivität und gestörte Impulskontrolle werden mit einer zunehmenden Zahl psychischer Störungen in Zusammenhang gebracht. Während Impulsivität eine überdauernde komplexe Persönlichkeitsdisposition beschreibt, wurde die DSM- IV- Kategorie der „Störungen der Impulskontrolle nicht andernorts klassifiziert“ (American Psychiatric Association, 1994) durch spezifische dysfunktionale Verhaltensweisen operationalisiert. Dabei darf nicht übersehen werden, dass unkontrollierte Handlungsimpulse im Verlauf fast aller psychiatrischen Erkrankungen vorkommen können. Diese sind in Tabelle 7 aufgeführt. Sie sind besonders dann von klinischer Relevanz, wenn es sich um selbst- oder fremdschädigende impulsive Aggressionen handelt (Herpertz, 2001).

Tabelle 7: Störungen der Impulskontrolle bei psychiatrischen Erkrankungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei der im DSM- IV und ICD- 10 enthaltenen Kategorie der „Störungen der Impuls-kontrolle nicht andernorts klassifiziert“, wird das Versagen einem Impuls, einem Trieb oder einer Versuchung zu widerstehen und eine Handlung auszuführen, die schädlich für die Person selbst oder für andere ist, als mangelnde Impulskontrolle angesehen.

Für Herpertz & Saß (1997) ist Impulsivität eine eng mit dem Temperament verbundene Eigenschaft des Antriebes, die von spezifischen Hemmungs- und Kontrollmechanismen abhängig ist, welche man auch als Impulskontrolle bezeichnen kann. Antrieb und Impulskontrolle manifestieren sich dabei auf allen Funktionsebenen der Persönlichkeit, im Verhalten, in kognitiven Prozessen oder bei der Regulation von Affekten. Dickmann (1990) unterscheidet zwei Arten des Persönlichkeitsmerkmals Impulsivität. Zum einen die dysfunktionale Impulsivität, welche als Handeln ohne Voraussicht verstanden werden kann und zum anderen die funktionale Impulsivität, die spontanes situationsangepasstes Verhalten meint.

Block & Block (1980) sprechen von mangelnder ego- Kontrolle, die zu einer direkten Umsetzung von Impulsen in Handlungen führt. Für sie ist Impulskontrolle mit Belohnungsaufschub gleichzusetzen (z.B. warten können auf ein verpacktes Geschenk) und Ausdruck einer generalisierten Fähigkeit Impulse, Gefühle und Wünsche zu unterdrücken.

Für Funder & Block (1989) ist der Belohnungsaufschub dagegen eine rein konstitutionelle Fähigkeit. Erst bei genügender Belohnungsmotivation kommt der Aspekt der Impulskontrolle hinzu. Aus dieser Überlegung heraus muss die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub mindestens zwei Bestandteile haben:

A) Einen kognitiven Aspekt, d.h. wie gut die Person in der Lage ist eine Aufgabe und was von ihr erwartet wird zu verstehen und diese Erwartungen zu erfüllen.

B) Einen motivationalen Aspekt, d.h. die Fähigkeit einer Person den Impuls zur sofortigen Belohnung bei hohen Anreizen zurückzuhalten.

Das Ausmaß an Impulskontrolle über die ein Individuum verfügt, beeinflusst entscheidend das Funktionsniveau seiner Persönlichkeit. Herpertz (2001) betrachtet Impulskontrolle (Verhaltenshemmung) als ein über die Lebensspanne relativ stabiles

Persönlichkeitsmerkmal, welches als zentrale Eigenart impulsiver Individuen angenommen wird. Auf dem Hintergrund dimensionaler Persönlichkeitsmodelle wie dem Fünf- Faktoren- Modell (FFI) von Costa & McCrae (1990) mit den Dimensionen Neurotizismus, Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Offenheit für Erfahrungen, verstehen Watson, Clark & Harkness (1994) die Impulskontrolle als eine Facette der Gewissenhaftigkeit. Gewissenhafte Individuen sind gekennzeichnet durch sorgfältiges Planen von Handlungen, gründlichem Durchdenken anstehender Ent-scheidungen, Selbstdisziplin, Verfolgung langfristiger Ziele sowie der Vermeidung risikobehafteter und gefahrenträchtiger Aktivitäten. Eine mangelnde Impulskontrolle ist hier Ausdruck von Defiziten bei der kognitiven Steuerung und Bewertung des Verhaltens.

Costa & McCrae (1990) verbinden den Verlust von Impulskontrolle mit geringer Frustrationstoleranz. Neben den motivationalen und kognitiven Aspekten (Funder & Block, 1989) kommen hier emotionale Aspekte hinzu. Im NEO- FFI wird Impulsivität daher als Facette der Neurotizismus- Dimension angesehen, welcher auch Angst, wütende Feindseligkeit, Depression, Befangenheit und Vulnerabilität gegenüber Stress zugeordnet werden. Schalling, Asberg, Edman & Oreland entwickelten 1987 die Karolinska- Scale of Personality. Impulsivität wird hier als Ausdruck von Reizbarkeit und Aggression verstanden. Reizbare Menschen mit wenig Geduld haben hier außer auf der Reizbarkeitsskala auch hohe Werte auf der Aggressionsskala.

Die 1986 entwickelte Biosoziale- Theorie der Persönlichkeit von Cloninger ist der Versuch einer Zuordnung der Variationen des Neurotransmittersystems zu bestimmten Verhaltensweisen. So werden die Faktoren Novelty- seeking (Neuheitensuche) durch das dopaminerge „Belohnungssystem“, Harm- avoidance (Schadensvermeidung) durch das serotonerge „Bestrafungssystem“ und Reward- dependence (Belohnungsabhängig- keit) durch Noradrenalin, bezüglich konditionaler Reize von Belohnung und Bestrafung bestimmt. Die Neurotransmittersysteme finden Ausdruck in den Persönlichkeitseigen- schaften einer Person und bestimmen deren Grad an Impulsivität. 1994 erweiterte er seine Theorie. Anhand des Temperament- Charakter- Inventar (TPI) lassen sich die spezifischen Persönlichkeitsmerkmale einer Person bestimmten Persönlichkeits-störungen zuordnen (Cloninger, 1996). Das von Coccaro & Sievers (1995) entwickelte

vierdimensionale psychobiologische Modell der Persönlichkeitsstörungen beschreibt Impulsivität und Aggressivität als Dimensionen „affektive Instabilität“ und „kognitive Desorganisation“, die durch die Dimensionen „Angst“ und „Hemmung“ ergänzt werden. Störungen innerhalb dieser vier Dimensionen werden ebenso auf Fehlfunktionen im

Neurotransmittersystem zurückgeführt (vergleiche Cloninger, 1996). Impulsivität wird als Schwäche der Verhaltenshemmung verstanden und funktionell mit dem seroto-nergen System in Verbindung gebracht.

Über die pharmakologische Manipulation (Hemmung- bzw. Stimulation der Neurotransmitteraufnahme) des serotonergen Systems kam Soubrié (1986) zu dem Schluss, dass immer wenn eine Entscheidung zwischen „GO“ und „NO-GO“ zu treffen ist, dieses serotonerge System zum Einsatz kommt (zitiert nach Evenden, 1999). Soubrié fasste zusammen, dass die geringe Konzentration von Cerebrospinal 5-Hydroxyindoleaceticacid (5-HIAA; dem Hauptmetabolit von Serotonin) mit aggressiv- suizidalem Verhalten, Kriminalität, obsessiv- compulsivem Verhalten und Substanz-abhängigkeit (Alkoholismus) in Zusammenhang zu bringen ist. Allen Störungsbildern gemein ist der niedrige Level von 5-HIAA, welches für die Steuerung von Bewegungen und Impulsen genutzt wird. Stanley & Winchel (1992) wiesen wesentlich geringere Konzentrationen von 5- Hydroxyindolessigsäure im Liquor depressiver Suizidpatienten nach und bestätigen damit die Annahmen von Soubrié. Malone, Corbitt, Li & Mann (1996) differenzieren diesbezüglich zwischen geplantem und affektiv- impulsivem Suizidverhalten. Eine signifikant niedrigere 5-HIAA Funktion wurde bei vorausplanenden Suizidpatienten festgestellt. Auch Linnoila, Virkkunen, Scheinin, Nuutila & Rimon (1983) kommen zu dem Ergebnis, dass nur bei Personen mit impulsiv- affektiven Aggressionen mit einer Reduzierung von 5- HIAA zu rechnen ist. In weiteren Untersuchungen zur Abgrenzung von Impulsivität gegenüber Aggressivität bestätigten niedrige 5-HIAA Konzentrationen die Impulsivitätshypothese, während für die Aggressivität cerebrospinal- freie Testosteron- Konzentrationen als assoziiert gelten (Linnoila, Virkkunen, George & Higley, 1993).

2.2.3 Impulsivität und Antrieb

In der Motivationstheorie des Verhaltens von Gray (1982) werden drei biologisch begründete Verhaltenssysteme unterschieden:

Das Verhaltenshemmungssystem (behavioral inhibition system), welches Reaktionen auf Reize die unbekannt sind oder Bestrafung oder Nichtbelohnung signalisieren organisiert.

Das Verhaltensaktivierungssystem (behavioral activation system), welches Reaktionen auf konditionierte Reize die Belohnung oder Nichtbestrafung sig-nalisieren organisiert. (Diese Verhaltensaktivierung entspricht auf emotionaler Ebene z.B. der Erleichterung, auf die impulsive Handlungen typischerweise abzielen.)

Das Angriffs- / Fluchtsystem (fight/ flight system), welches die Reaktion auf unkonditionierte Gefahrenreize organisiert.

„Das Verhaltensaktivierungssystem führe zu Annäherungsverhalten; das Verhaltens-hemmungssystem zu Verhaltenshemmung sowie Erhöhung der limbischen Erregung und Aufmerksamkeit; und das Angriff- / Fluchtsystem je nach Situation zu defensiver Aggression oder zu Flucht“ (Asendorpf, 1999, S. 132).

Interindividuelle Unterschiede in der Wirksamkeit von Verhaltenshemmungs-system (Unbekanntheit, Strafe und Nichtbelohnung) und Verhaltensaktivierungssystem (Belohnung und Nichtbestrafung) bilden zwei orthogonale, unkorrelierte Dimensionen der Gehemmtheit und Aktiviertheit. Diese Dimensionen entsprächen den alltagspsychologischen Konzepten von Ängstlichkeit und Impulsivität. Gehemmtheit und Aktiviertheit umspannen dabei denselben zweidimensionalen Raum von Temperamentseigenschaften wie Eysencks Faktoren Extraversion und Neurotizismus, wobei sie aber um 45° rotiert sind. Damit ist Gehemmtheit durch hohe Werte in Neurotizismus und Introversion gekennzeichnet, Aktiviertheit hingegen durch hohe Werte in Extraversion und Neurotizismus (Gray, 1987). Asendorpf (1989) konnte anhand selbstberichteter Schüchternheit (Gehemmtheit) seiner Versuchspersonen diese Annahmen bestätigen. Er zeigte weiterhin, dass Unbekanntheit in sozialen Situationen (Unvertrautheit mit dem Interaktionspartner) und signalisierte Strafe oder Nichtbelohnung (Erwartung negativer oder unzureichend positiver sozialer Bewertung durch den Interaktionspartner) beide unabhängig voneinander situationabhängige Schüchternheit hervorrufen.

Barratt (1985) beschreibt Impulsivität als Disposition zu schnellen Reaktionen, Risikofreudigkeit, Handeln ohne nachzudenken und Unfähigkeit zur Planung. In der Barratt- Impulsiveness- Scale (BIS) wird Impulsivität in drei Aspekte untergliedert:

motorische Impulsivität als überdauernde Neigung zu handeln ohne nachzudenken und mögliche Konsequenzen abzuwägen,

kognitive Impulsivität im Sinne schneller Wahrnehmung und Entscheidungs- bereitschaft und

nichtplanende Impulsivität als Mangel zukunftsorientierter Problemlösefähig-keit.

Dabei werden motorische- und kognitive Impulsivität als Aspekte des biologisch verankerten Informationsverarbeitungsprozesses angesehen. Besonders der kognitiven Impulsivität ist dabei ein Mangel an detailgetreuer Aufmerksamkeit anzulasten. Demgegenüber ist die nichtplanende Impulsivität als Lebensstil bzw. Ausdruck sozialer Lernprozesse konzipiert. Hier werden Gegenwartsbezogenheit sowie mangelnde Zukunfts- als auch Vergangenheitsorientierung ausgedrückt. Der verkürzte zeitliche Horizont führt nach Herpertz & Saß (1997) zu einer Orientierung an kurzfristigen Zielen, wie es beispielsweise bei impulsiven devianten Verhalten beobachtet wurde.

2.2.4 Impulsivität und Kognition

Analog der Zweiteilung der Impulsivität auf Verhaltensebene werden für impulsive Persönlichkeiten auch typische kognitive Besonderheiten beschrieben. Dies sind ein hohes Arbeitstempo und ein Mangel an Kontrolle (Herpertz 2001).

Kognitive Impulsivität, wie sie von Kagan (1966) vertreten wird, differenziert dabei zwischen Reflexivität und Impulsivität im Sinne kognitiver Arbeitsstile. Impulsivität äußere sich als rasche, jedoch unpräzise Informationsnutzung bei Wahrnehmungs- und Denkaufgaben, während Reflexivität als Ausdruck langsamer aber präziser Informationsverarbeitung und Kontrolle angesehen wird. Reflexivität bezeichnet somit einen analytischen Arbeitsstil, während Impulsivität als funktionaler Stil zu betrachten ist. Der von Kagan (1964) entwickelte Matching- Familiar- Figures- Test (MFFT) ist ein Messinstrument zur Differenzierung zwischen beiden kognitiven Stilen.

Auch Dickman (1990) sieht eine Verbindung zwischen Impulsivität und zugeteilter Aufmerksamkeit. Demnach achten impulsiv handelnde Menschen weniger auf den Versuchsaufbau einer Aufgabe. Zudem sind sie im Vorteil bei einfachen geschwindigkeitsabhängigen Reiz- Reaktions- Aufgaben, die einen schnellen Aufmerksamkeitswechsel erfordern. Insbesondere bei Aufgaben die einen systematischen, sequentiellen Vergleich von visuellen Details erfordern, wie z.B. im MFFT, erzielen impulsive Individuen schlechtere Ergebnisse. Dickman bezeichnet seine Dimensionen der Impulsivität mit Reflexion- Impulsivity, Disinhibition- Impulsivity und Attentional- Impulsivity.

White, Moffitt, Caspi, Bartusch, Needles & Stouthamer- Loeber (1994) konnten zeigen, dass impulsive Individuen bei wechselnden Aufgabenstellungen einmal eingeschlagene kognitive Prozesse schwerer hemmen können. Defizitäre kognitive Kontrollmechanismen dürften auch an der mangelnden Sorgfaltshaltung beteiligt sein, wie sie sich z.B. im MFFT abbilden lässt (Herpertz & Saß 1997). Diese Befunde unterstützen die Theorie der Kontrolle kognitiver Prozesse wie sie von Logan & Cowan (1984) vertreten wird. Eine adäquate Aufgabenlösung erfordert für die Autoren die unbedingte Fähigkeit laufende Gedanken stoppen zu können und sie gegebenenfalls durch neue Denk- und Lösungswege auszutauschen. Aus dem Zusammenhang von Impulsivität und mangelnder Fähigkeit zur Inhibition, differenziert Harnishfeger (1995) in seinem Modell folgende Hemmfunktionen:

Interferenzkontrolle als Unterdrückung eines konkurrenzfähigen Stimulus oder Antwortsets externaler oder internaler Art, der eine konkurrenzfähige motorische Antwort hervorruft,

kognitive Inhibition als aktive Unterdrückung aufgabenirrelevanter Informa-tionen aus dem Arbeitsgedächtnis,

behaviorale Inhibition als Hemmung von dominanten, automatisierten Handlungen.

Stein, Hollander, Cohen, Frendkel, Saoud & DeCaria (1993) konnten zeigen, dass die Fehlerrate im MFFT mit leichteren neurologischen Auffälligkeiten (neurological soft signs) korrelierte. Insbesondere Störungen im frontalen Cortex könnten darin ihren Ausdruck finden, da dem präfrontalen Cortex exekutive d.h. selbststeuernde bzw. selbstkontrollierende Aufgaben zugewiesen werden und sich Verletzungen in diesen Gehirnarealen in einem ungehemmten, unberechenbaren Verhaltensstil äußern können.

Die Erkenntnisse zur kognitiven Impulsivität differenzieren allerdings. So korrelierten die Ergebnisse des Matching Familiar Figure Test (MFFT), welcher den kognitiven Stil eines Menschen messen soll, nicht mit der Skala der kognitiven Impulsivität der Barratt Impulsiveness Scale (Gerbing, Ahadi, Patton, 1987). Zudem konnten Sonuga- Barke, Houlberg & Hall (1994) zeigen, dass hyperaktive Kinder nicht nur im klassischen MFFT schlechter abschnitten als die Kontrollkinder, sondern auch dann, wenn die Untersuchungsdauer festgeschrieben wurde, d.h. eine schnelle Aufgabenlösung nicht das belohnende Untersuchungsende zur Folge hatte. Die Fehlerrate blieb bei den hyperaktiven Kindern signifikant höher, obwohl die mittlere Antwortzeit sich nicht mehr von derjenigen der Kontrollkinder unterschied.

Tiedemann (1983) führt die Differenzen zwischen Reflexivität und Impulsivität im MFFT auf Unterschiede in der Informationsverarbeitung zurück. Durch Kontrolle der Augenbewegung während des Problemlösevorganges war festzustellen, dass die reflexiven Personen mehr Informationen über die Reizvorlage sammeln, d.h. schnellere und häufigere Augenbewegungen bei systematischem Fixieren von Vergleichsreizen und dem Standard zeigen und somit zu einer höheren Zahl von Vergleichen gelangen. Grimm & Meyer (1976) bemerken, dass mit zunehmender Aufgabenschwierigkeit nur bei den Impulsiven die Reaktionszeiten relativ gleich blieben, was notwendigerweise zu höheren Fehlerraten führen musste. Bei leichten Aufgaben hingegen, waren zwischen reflexiven und impulsiven Personen keine wesentlichen Unterschiede in den Fehlerhäufigkeiten zu beobachten.

Norra, Mrazek, Tuchtenhagen, Gobbelé, Saß & Herpertz (2000; zitiert nach Herpertz, 2001) verweisen auf die neurobiologischen Korrelate zwischen Reizintensität in optischen und akustischen Tests und cerebraler Aktivitätsveränderung. Die mit einer Erhöhung der Reizintensität einhergehende cerebrale Aktivitätszunahme, wird als Ausdruck mangelnder Regulierungsfähigkeit neuronaler Aktivität und damit verbundener sensorischer Überstimulation, angesehen.

Swann, Bjork, Moeller & Dougherty (2002) untersuchten den Zusammenhang von neurobiologischer Impulsivitätsmessung und der Impulsivität als Persönlichkeits-merkmal. Die neurobiologische Impulsivitätsmessung erfolgte nach dem Reward Discounting Model (bezeichnet die Reward Delay Impulsivity) welches die Unfähigkeit auf eine größere Belohnung zu warten beschreibt und dem Rapid Response Model, welches sich durch Antwortreaktionen ohne zugehörigen Kontext auszeichnet. Als vergleichendes Persönlichkeitsinventar wurde die Barratt Impulsiveness Scale (BIS) herangezogen. Dabei wiesen Personen mit Achse- I und Achse- II Störungen gegenüber der Kontrollgruppe signifikant höhere Werte in der Rapid Response Impulsivity, jedoch nicht in der Reward Delay Impulsivity auf. Beide Skalen korrelierten signifikant mit der BIS und unterstützen die Annahme der Impulsivität als charakteristisches Persönlichkeitsmerkmal.

2.2.5 Impulsivität und Affektregulation

Eine dritte wichtige Funktionsebene neben impulsivem Antrieb und kognitiven Stil ist die emotional- affektive Reagibilität (Herpertz & Saß, 1997). Hier wird davon ausgegangen, dass positive oder negative Gefühle (Emotionen) nicht als autonome Prozesse anzusehen sind, sondern als Ergebnis von Kognition, Bewertung, Erfahrung und Persönlichkeit des Einzelnen. Dabei beeinflussen diese Faktoren nicht nur die Qualität der Emotionen, sondern auch die Stärke der affektiven Antwort auf relevante Reize. Diese Affektregulation wird in der Kognitionstheorie zum Teil synonym als Impulskontrolle bezeichnet. Das kognitive Kontrollsystem verhilft dem Handelnden zur Entwicklung von Handlungsplänen und zur Überwachung ablaufender Handlungen, während das emotionale Kontrollsystem eher über die Richtung und die Art kognitiver Kontrollsysteme entscheidet (Herpertz & Saß, 1997).

[...]

Ende der Leseprobe aus 124 Seiten

Details

Titel
Störungen der Impulsivität bei Trichotillomanie
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Psychologie)
Note
1,5
Autor
Jahr
2003
Seiten
124
Katalognummer
V85995
ISBN (eBook)
9783638907453
ISBN (Buch)
9783638907729
Dateigröße
983 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Störungen, Impulsivität, Trichotillomanie
Arbeit zitieren
Diplom-Psychologe Klaus Amadeus Böhm (Autor:in), 2003, Störungen der Impulsivität bei Trichotillomanie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85995

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